Den Auftakt der neuen Interview-Serie Und wie machst du das? macht eine ganz besondere Spezialmuddi, wie sie sich selbst nennt. Ich lernte sie kennen, als Kaiserin 1 noch sehr klein war. Sehr klein und sehr dünn, eine Magensonde hing ihr aus der Nase. Ein Monitor piepste, wenn er zu wenig Sauerstoff in ihrem Blut anzeigte. Der Flüssigsauerstoff im Rucksack auf dem Rücken meines Mannes, immer für den Notfall parat. Wir warteten in unserem Hamburger SPZ auf einen Termin zur “Mundsprechstunde”. Ein deutschlandweites Kompetenzteam sollte sich den Mund unserer Tochter anschauen, die zu dem Zeitpunkt pro Mahlzeit gerade mal 50 bis 100 ml Milch durch die Flasche zu sich nahm. Immer mit der Sorge um Aspiration und eine anschließende Lungenentzündung. Von dem Termin erhofften wir uns Hilfe und einen Ausblick: Wird sie sich jemals ohne Magensonde ernähren können?
Wir versuchten während der Wartezeit angestrengt über sie gebeugt ihr die Milch einzuflößen und hätten die Mutter, die mit ihrem Sohn auf dem Rücken an uns vorbeidüste fast nicht wahrgenommen. Im Vorbeilaufen sagte sie: “So sah das bei uns früher auch aus! Gebt die Hoffnung nicht auf. Mittlerweile isst Willi wie ein Scheunendrescher.” Für einen kurzen Moment schrumpften unsere Sorgen. Ihr Sohn sah ganz fröhlich aus. Dem ging es früher wirklich mal so wie Kaiserin 1!? Wir konnten es fast nicht glauben. Aber ja, sie hatte es ja gesagt!
Wenige Tage später erzählte ich der Physiotherapeutin von Kaiserin 1 von meiner Begegnung. Sie kombinierte sofort: Ach, das waren Birte und Willi! Die kenne ich! und empfahl mir Birtes Kolumne in der Zeitschrift a tempo. Der erste Text, den ich von Birte las, fühlte sich an wie eine Umarmung. Und die nachfolgenden Kolumnen, von der ich keine einzige verpasste, ebenfalls. Alle Empfindungen, die ich rund um meine mehrfach behinderte kleine Tochter hatte, beschrieb sie mit den besten Worten, die man dafür finden konnte. Ich fand keine Larmoyanz – dafür viel Gefühl, Ehrlichkeit und Selbstironie. Genau das, was ich brauchte.
Zu dieser Zeit war ich noch so neu im Behindikindimutti-Business und so voll mit Arzt- und Therapieterminen und der großen nicht zu beantwortenden Frage Warum!?, dass ich weder Zeit noch Lust hatte, mich mit anderen Eltern in ähnlichen Situationen auszutauschen. Dafür war einfach kein Platz in unserem Leben, das unsere Tochter so dermaßen durcheinander gewirbelt hatte. Willis Welt war für mich die Tür zu einer neuen Welt, deren Vorraum ich gerade erst betreteten hatte. In diesem Vorraum fühlte ich mich unbehaglich, wollte mich gar nicht setzen und wusste nicht weiter. Birte hat mich dort, in diesem mir bisher unbekannten Raum mit ihren Texten willkommen geheißen – mit wärmenden, klugen, selbstironischesn, niemals bierernsten, ehrlichen und oft auch lustigen Geschichten aus dem echten, besonderen und behinderten Leben. Sie hat mich an die Hand genommen und mir einen Platz angeboten, auf dem ich mir vorstellen konnte, zu sitzen.
Ich freue mich sehr, dass sie nun nicht nur im realen Leben die erste Mutter ist, die mir eine Tür öffnet, sondern auch hier, digital, auf meinem Blog. Nehmt Platz, esst einen Keks oder zwei, macht es Euch gemütlich und freut Euch mit mir über die klugen Worte dieser erstaunlichen Frau.
Name: Birte Müller
Alter: 40 Jahre
Mutter von: Willi (7 Jahre) und Olivia (5 Jahre)
Beruf: Illustratorin und Autorin
Berufung: Illustratorin und Autorin (und natürlich Spezialmuddi!)
Wir wohnen in einem Endreihenhaus am Hamburger Stadtrand, richtig im Grünen und doch ganz nah bei der U-Bahn – ein echter Glücksfall! Ohne Willi wären wir aber ganz sicher nicht auf die Idee gekommen, ein Haus zu bauen und aus der Stadt weg zu ziehen. Wir wohnten nah an allen Szenestadtteilen – und nur fünf Minuten mit dem Rad vom Millerntorstadion entfernt – im vierten Stock Altbau in einer super günstigen Genossenschaftswohnung. So etwas gibt man in Hamburg niemals auf. Außer natürlich, man ist vielleicht gerade wieder schwanger und hat zu Hause ein schwer mehrfach behindertes Baby, das die Diagnose hat, niemals laufen zu lernen und für das man ständig eine Sauerstoff-Flasche und ein Absauggerät herumschleppen muss…
Liebe Birte, wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?
Oh je, vor den Kindern habe ich auch schon mein Leben voll gepackt bis über den Rand, mit zu viel Arbeit, Projekten und besonders gerne mit langen Lese- und Urlaubsreisen ins Ausland. Es war eigentlich schon damals immer alles etwas zu viel, aber ich war ja nur für mich allein verantwortlich, da macht das nicht so viel aus.
Wie sieht dein Alltag heute aus?
Heute ist mein Leben noch voller gepackt. Es fällt mir schwer die Arbeit so zu dosieren, dass sie mich nicht erdrückt neben der Betreuung meines Sohnes, den unendlich langen Schulferien und dem Wunsch, auch meine Tochter im Mittelpunkt stehen zu lassen. Die Partnerschaft kommt ständig zu kurz und ich selber habe oft das Gefühl, dass meine eigenen Bedürfnisse auf die primäre Lebenserhaltung geschrumpft sind: Etwas essen und trinken, etwas schlafen und ab und zu zur Toilette, damit kann ich schon zufrieden sein… Für Freundschaften ist dabei keine Zeit. Im Prinzip habe ich etwas zu oft das Gefühl mich in vier Teile schneiden zu müssen, um alles zu schaffen. Ich bin auch noch nicht ganz dahinter gestiegen, ob das ein Zeitgeistproblem ist und wie viel die Behinderung meines Sohnes eigentlich wirklich damit zu tun hat. Auf jeden Fall ist das kein schönes Gefühl und ich sehe es als eine der ganz großen Herausforderungen an, diese ständige Überforderung endlich aufzulösen. Auf jeden Fall bin ich schon etwas besser darin geworden „Nein“ zu sagen und um Hilfe zu bitten. Aber dieses Interview habe ich auch angenommen, obwohl ich gerade mal wieder nicht weiß, wo mir der Kopf steht vor Lauter Dingen, die erledigt werden müssen.
Wann hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?
Wir konnten uns eigentlich nach der Geburt ziemlich schnell selbst einen Reim machen darauf, was die eigenartigen Reaktionen der Ärzte, Hebammen und Krankenschwestern zu bedeuten hatten vor dem Hintergrund, dass unser Baby irgendwie behindert aussah. Die Diagnose aussprechen wollte um uns herum niemand. Das gab mir das Gefühl, dass uns irgendetwas unaussprechlich Furchtbares geschehen sein muss. Ich habe damals gedacht Na ja, das passiert doch wohl öfter mal, dass ein Baby mit Down-Syndrom geboren wird, warum sind denn alle so schockiert, so schlimm ist das doch gar nicht. Wahrscheinlich hatten sie aber alle nur Angst vor unserer Trauer. Ich erinnere mich noch: Als wir ganz direkt fragten nach der Möglichkeit, dass unser Kind eine Trisomie 21 haben könnte und der Arzt fast panisch beteuerte, das er dazu gar nichts sagen könne und dass man einen Gentest machen müsse, dessen Ergebnis erst in einer Woche da sei. In diesem Moment entschied ich innerlich, den Fakt, dass mein Kind diese Behinderung hat, anzunehmen – und damit keine Sekunde länger zu warten. Die Trauer kam dann natürlich mit aller Macht über uns, wie über fast alle Eltern mit der Gewissheit, dass ihr vorher erwartetes Kind nicht gekommen war, sondern ein ganz anderes. Zum Glück hatte ich meinen kleinen Willi, mit seinen zarten Wangen, der mich darüber hinweg trösten konnte.
Erinnerst du dich noch an deine spontanen Gedanken?
Ja, ich weiß noch, dass ich als erstes gedacht habe: Lieber Gott, lass das nicht wahr sein! Ich habe mir sogar ganz kurz gewünscht, Willi sei gar nicht da. Ich muss heute noch weinen, wenn ich das hier aufschreibe, so schlimm war es, das zu fühlen.
Inwiefern ist dein Kind behindert und welches Handicap wiegt für dich am schwersten?
Willis Grunderkrankung – und ich finde es übrigens ziemlich bescheuert, es als Erkrankung zu bezeichnen – ist das Down-Syndrom. Man sagt ja, es sei der Mercedes unter den Behinderungen, aber irgendwie hatte unser Behindertenmercedes einige Produktionsfehler. Auf jeden Fall bekam unser kleiner Neuwagen keine Luft, konnte kaum Nahrung selber aufnehmen (und auch nicht selber wieder von sich geben, na ja, außer durch schwallartiges Erbrechen) und konnte monatelang nicht die Werkstadt verlassen. In seiner sechsten Lebenswoche entdeckte man, dass Willi eine Stimmbandlähmung hatte und er bekam ein Tracheostoma (Luftröhrenschnitt), was im wahrsten Sinne ein großer Einschnitt in unser Leben war. Ich konnte mich mit dem Loch im Hals und dem extremen pflegerischen Aufwand und Risiko nur deswegen abfinden, weil ich sah, dass mein Sohn endlich Luft bekam und begann seine Welt wahrzunehmen, zu lachen und sich zu entwickeln. Doch der Verlust seines Stimmchens schmerzte mich sehr. Als Willi sieben Monate alt war und BNS-Anfälle bekam (West Syndrom oder auch Säuglingsepilepsie genannt), hatte ich das Gefühl, als sei mir der Boden unter den Füßen weg gerissen worden. Willi krampfte monatelang fast durchgängig und wurde zu einer bloßen Hülle seiner selbst. Meinen damaligen Zustand der Angst und Verzweiflung kann ich kaum in Worte fassen. Es sind wohl auch diese Anfälle, die sein Gehirn so stark geschädigt haben, dass er heute mit einem normal begabten Kind mit Down-Syndrom nicht vergleichbar ist.
Ich konnte nicht begreifen, warum gerade mein Sohn das alles haben sollte, begreife es eigentlich heute noch nicht. Ich war doch bereit gewesen, mein Kind mit Down-Syndrom anzunehmen. Dann hatte ich endlich akzeptiert, dass meinem Baby der Hals aufgeschnitten werden musste und es keine Stimme mehr hatte; auch sein Weinen war vollkommen tonlos. Aber warum sollte nun gerade mein kleiner Willi auch noch diese furchtbare Epilepsie haben, die alles kaputt machte, an dem wir uns so gefreut hatten: Sein Lachen, seinen wachen Blick in unsere Augen, das Greifen seiner Händchen.
Ich weiß heute, man darf nicht nach dem Warum fragen, es bringt einen nicht weiter. Bei meinem gesunden Kind frage ich ja auch nicht, warum gerade sie keinen Tumor im Gehirn hat oder sehen und hören kann. Außerdem hat Willi ja auch gar nicht alles gehabt, wie ich durch unsere vielen Krankenhausaufenthalte weiß…
Nachdem wir in Willis ersten beiden Lebensjahren gefühlt einmal durch die Hölle und zurück gegangen waren, war dann kurz vor der Geburt unseres zweiten Kindes die mysteriöse Stimmbandlähmung verschwunden und sein Luftröhrenschnitt konnte zurück verlegt werden.
Auch Willis Darmproblematik wurde endlich erkannt und operiert, sodass er endlich aufhörte zu erbrechen und sogar langsam begann zu essen und normal abzuführen (und heute kackt Willi mehr, als mir lieb ist, haha). Nach der Darm OP verschwanden auch plötzlich Willis Anfälle. Ein Zeitpunkt, zu dem seine Epilepsie bereits als therapieresistent eingestuft worden war und ich mich innerlich mit der Möglichkeit auseinandersetzen musste, dass unser Kind niemals etwas würde lernen können. Mit meinem Mann sprach ich damals nicht über diese grausame Angst, denn er selber hatte so eine Art naiven Selbstschutz, indem er einfach nicht weiter in die Zukunft dachte.
Heute leiden wir (und Willi) hauptsächlich an Willis starker körperlicher Unruhe und seinen sehr begrenzten Möglichkeiten der Kommunikation. Selbst mit seinem wilden Mischmasch aus Gebärden, Bildkarten, einigen Lauten, der Hilfe eines Talkers (Sprachcomputer) und mit sehr viel Geschrei kann sich Willi nur sehr eingeschränkt verständlich machen. Das schmerzt mir im Herzen (und in den Ohren) und führt bei Willi zu viel Frustration und schwierigem Verhalten.
Ich bin sehr dankbar, dass ernsthafte gesundheitliche Probleme (und vor allem Epilepsie) zur Zeit überhaupt nicht unser Thema sind. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Willi einmal keine Medikamente mehr nehmen muss (na, also fast keine) oder dass wir mal ein ganzes Jahr nicht im Krankenhaus sein werden – und wenn, dann nur ambulant.
Eine Mutter liebt am stärksten ihr schwächstes Kind, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das?
Also auf mich trifft das nicht zu. Ich kann mir das auch gar nicht vorstellen, wie das wohl ist, ein Kind mehr oder weniger zu lieben. Ich habe Willi gegenüber manchmal ein schlechtes Gewissen, wenn ich spüre, wie viel Freude Olivia mir macht durch ihre Möglichkeit zu sprechen, zu spielen oder Bilder zu malen. Olivia gegenüber habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen, weil mich Willis Andersartigkeit und die daraus resultierende veränderte Sicht der Welt sehr beschäftigt. Mehr lieben tue ich einen dadurch aber nicht. Ich habe das Gefühl, dass die Liebe zu meinem Kind die enormste Emotion ist, zu der ich fähig bin. Ich hätte mir diese Kraft früher nicht vorstellen können. Diese Liebe ist einfach unendlich, da kann man doch nicht mehr oder weniger unendlich stark lieben, bei mir geht das jedenfalls zum Glück nicht – sonst hätte ich ja auch noch mehr schlechtes Gewissen.
Gibt es einen Gegenstand Deiner Kinder, den du ewig aufbewahren wirst?
Ich denke, dass ich von Willi immer eine Trachealkanüle aufbewahren werde, als Sinnbild für einen unglaublichen Einschnitt in mein Leben. Und Willis kaputtes Spieluhr-Pferdchen Namens Horsti werde ich behalten, auch wenn er ihn irgendwann nachts nicht mehr im Schlaf an seine Wange kuschelt. (Wenn Willi wach ist, interessiert er sich übrigens überhaupt nicht für Horsti, er wirft ihn tagsüber sogar zwanghaft weg, sobald er ihn in die Finger bekommt, so dass bei Außenstehenden der Eindruck geweckt wird, dass er ihn nicht im Bett haben will… Das sind die Probleme, die ein nicht sprechendes Kind hat, denn warum Willi dann beim Einschlafen herum jammert, begreift außer seiner Familie natürlich keiner.)
Von Olivia werde ich immer ihren Nönö aufbewahren, das ist so eine Art Schnuffeltuch mit Seidenbändchen daran, die sie beim Daumen nuckeln unter ihrer Nase reibt. Das kann sie über fast alles hinweg trösten. Nönö wurde schon mit vielen Lagen Stoff neu übernäht, stundelang in Bällebädern gesucht, aus Mülleimern gefischt und nachts mit einem aufwendig vom Hausmeister organisierten Schüssel aus der Kita geholt. Der Nönö ist sehr wichtig, sogar Willi weiß, dass dieser Lappen mit den verwaschenen Bändern dran zu Olivia getragen werden muss, wenn er ihn irgendwo findet.
Wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest Du etwas anders machen als Mutter?
Eine schwierige Frage! Hätte ich Willi als Säugling nicht impfen lassen sollen? Hätte er dann keine Krampfanfälle bekommen? Hätte er dann vielleicht eine Polio Infektion bekommen? Hätten wir früher eine Cortison-Stoßtherapie machen sollen?
Ich glaube, das ist eine müßige Frage. Jedes Mal, wenn ich eines meiner Kinder angeschnauzt habe, möchte ich die Zeit zurück drehen. Aber sonst? Ich bereue auf jeden Fall nicht, egal wie anstrengend mein Alltag auch ist, die Existenz eines meiner Kinder. Hätte ich meinen Willi pränatal diagnostiziert und abgetrieben, wäre ich heute bestimmt nicht die starke Frau, die ich bin. Ich stelle mir vor, dass ich dann das falsche Leben gelebt hätte; eines, das nicht das meine gewesen wäre. Vielleicht hätte es mich von innen zerfressen oder wäre immer nur an der Oberfläche geblieben. Ich weiß es nicht, es wäre nicht so reich gewesen wie es jetzt ist.
Also kann ich wohl sagen, dass die einzige Entscheidung, die ich rückgängig machen wollen würde die ist, dass ich neulich beim Eismann Vanille genommen habe, wobei sie dort ein unglaublich gutes Schokoladeneis hatten.
Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welches der anstrengendste?
Ich habe mal geschrieben, dass der schönste Moment eines Tages oft der ist, wenn endlich beide Kinder schlafen. Das ist natürlich nicht ständig so, aber so ein Wochenende mit beiden Kindern allein, weil mein Mann mal wieder irgendwo auswärts arbeitet, kann mich schon wirklich an den Rand des Wahnsinns bringen. Und genau genommen ist ja auch die Frage, welches der schönste Moment mit meinen Kindern ist – und wenn sie beide im Bett liegen, sind wir ja gar nicht wirklich zusammen.
Wann mich das große Glück überkommt, ist schwer zu sagen. Es ist manchmal plötzlich da, wenn beide Kinder zufrieden um mich herum sind und jeder etwas macht, was ihm Spaß bringt und dabei mit mir im Kontakt ist. Wir müssen uns gerade nicht beeilen, keiner schmollt, schreit, zerrt an jemandem oder wirft mit etwas und ich selber bin entspannt und habe den Kopf frei, meinen Kindern beim Dasein zuzuschauen. Das kann ein Sonntag morgen im Badezimmer sein oder einfach irgend ein Nachmittag, an dem wir vielleicht am Tisch sitzen und alle zufrieden Kekse essen und ich habe einen großen Kaffee vor der Nase, mit Espresso und heißer Milch und plötzlich merke ich, wie unendlich glücklich ich bin. Was mich definitiv immer glücklich macht, ist wenn eines meiner Kinder von Herzen lacht, dass allergrößte ist, wenn sie das auch noch zusammen tun! Über die doofen Momente mag ich gar nicht nachdenken. Ich glaube das ist immer, wenn Willi mit Kot geschmiert hat, das macht mich echt aggressiv. Und wenn beide Kinder gleichzeitig sehr stark und laut meine Aufmerksamkeit einfordern und ich sie aber nicht beiden geben kann, sondern ich im Zweifelsfall gerade sogar extrem dringend noch etwas anderes erledigen muss: Scherben auffegen oder dafür Sorgen, dass wir alle rechtzeitig fertig sind, weil ich fünf Minuten nachdem Willi vom Schulbus abgeholt wurde schon mit Olivia los muss zur Vorschule, weil ich selber direkt von dort zum Bahnhof muss, um zu einer Lesung zu hetzen. Ganz schlimm finde ich es, wenn ich selber nicht die Ruhe bewahre und mit den Kinder gereizt umgehe, sie anschnauze oder sogar schreie. Wenn ich meinen armen Willi wie einen Gegenstand packe und ihn herum schiebe, weil ich nicht warten will, bis er selber reagiert oder Olivia nicht mal bis zum Ende zuhöre, wenn sie etwas sagt, sondern sie sofort überbügel. Ich hasse mich, wenn ich so bin und versuche aber doch Verständnis für mich zu haben: Auch ich kann manchmal einfach nicht mehr geduldig sein. Als ich vor einiger Zeit gemerkt habe, dass mir die Nerven schon am morgen blank lagen und meine Geduld schon vom ganz normalen Kinderverhalten überstrapaziert war, habe ich mich erst mal daran gemacht, einen Kurantrag zu stellen.
Auf jeden Fall entschuldige ich mich auch bei meinen Kindern, wenn ich mich gereizt verhalte. Egal, ob Willi versteht, was ich sage, er wird verstehen, dass Mama ihn liebt, wenn ich ihn in den Arme nehme und halte; wenn er mich denn lässt.
Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert? Bist du damit zufrieden?
Hm, ich finde bei uns ist die Betreuung nicht sehr gut geregelt. Willis Förderschule geht nur bis 14.15 und einen Nachmittags-Hort gibt es für ihn definitiv nicht. Im ersten Schuljahr mussten wir auch alle zwölf Wochen Ferien ohne Ferien-Hort wuppen. Das ist eine echte Herausforderung, sowohl beruflich, als auch für die eigenen Kräfte. Wir nutzen die Kurzzeitpflege, so dass Willi zwei bis drei einzelne Wochen im Jahr alleine eine Ferienfreizeit mit behinderten Kindern besucht. Dann versuchen wir, intensive Zeit mit Olivia zu verbringen und uns vielleicht auch ein wenig selber zu erholen. Für das nächste Schuljahr habe ich nun endlich eine Ferienhortunterbringung für Willi gefunden. Mal sehen ob das klappt, sodass er vielleicht noch mal zwei oder drei Wochen einen Ferienhort besuchen kann und ich in der Zeit arbeiten kann. Noch mehr Unterbringung kann ich aber mit meinem Dauerschlechtengewissen nicht vereinbaren und auch finanziell nicht schaffen.
Wie sieht dein Arbeitstag aus? Unter welchen Bedingungen kannst du Job und Familie miteinander vereinbaren?
Ich oder mein Mann stehen um sechs Uhr auf und machen den Willi für den Schulbus fertig, der kommt zum Glück immer zuverlässig um 6.50. Wir nehmen uns jeden Morgen vor, am Abend mal ganz früh schlafen zu gehen… klappt aber nie.
Dann mache ich mir schnell einen Kaffee, hole Olivia aus dem Bett, diskutiere mit ihr ihre Garderobe und fahre mit ihr in die Vorschule. Je nachdem ob ich einen Workshop oder eine Lesung in Hamburg habe, stehe ich dabei zeitlich unter Druck. Wenn ich nicht sofort zur Bahn muss habe ich mit Olivia ein mehr oder weniger langes Abschiedsdrama bei der Vorschule und kehre um 8.30 oder 9Uhr nach Hause zurück, wo dann meine heilige Zeit ohne Kinder beginnt. Ich bin sehr unzufrieden, wenn ich davon allzu viel an Aufräumen und Putzen verschwende, also mache ich nur das allernötigste und gehe dann an den Computer oder fahre ins Atelier. Bis 14.45 Uhr zerrinnt mir dann die Zeit zwischen den Fingern, das ist schlimm. Oft bin ich nur mit Korrespondenz beschäftigt. Ich dürfte mir eigentlich nicht so viel Zeit nehmen für die vielen kleinen beruflichen und privaten Anfragen und Leserbriefe, aber das fällt mir sehr schwer. Im Prinzip bin ich arbeitsmäßig ständig überfordert und habe das Gefühl, niemals fertig werden zu können. Ich leide sehr darunter, dass ich zur Zeit kaum wirklich zum kreativen Arbeiten, also zum Malen und Schreiben komme. Es gibt ja auch noch so viele andere, sehr zeitraubende Dinge, die komplett in meine Arbeitszeit fallen: Die ganzen Anträge, Hort, Widersprüche an die Krankenkasse, Bildkarten für Willi, den Talker bespielen und und und…! Wenn ich mal laufen gehen will, muss das auch in dieser Zeit passieren, denn sobald Willi um 14.45 Uhr wieder im Haus ist, kann ich definitiv nichts mehr nebenbei machen – maximal vielleicht mit zehn Unterbrechungen die Wäsche aufhängen oder mal die Spülmaschine ausräumen. Auch Olivia muss ich vorher abholen, denn auch das kann man mit Willi gemeinsam unmöglich tun. Mal eine Stunde mit einer Freundin telefonieren? Wann soll ich das machen? Unmöglich! Ich merke, dass sich mein Umfeld nicht vorstellen kann, was es bedeutet ein Kind zu haben, dass in keiner Alltagshandlung selbständig ist, das nicht aus den Augen gelassen werden kann, das mit sieben Jahren noch nie bei einem anderen Kind zum Spielen war oder selber mal ein halbes Stündchen in seinem Zimmer gewesen ist. Wenn Willi im Haus ist, kann ich Olivia auch nicht kurz zu einer Freundin rüber bringen oder etwas einkaufen. Und wenn ich den Willi mal ein Weilchen vor der Glotze parke, dann, damit ich mich in der Zeit richtig um Olivia kümmern kann. Wenn dazwischen noch eine Freundin sitzt, die mit mir mal einen ganzen Satz am Stück reden will, geht das schon gar nicht.
Ansonsten hört Willi am Nachmittag Musik, er murmelt, oder puzzelt etwas mit mir zusammen, wir gehen bestenfalls kurz in den Garten. Willi ist allerdings lieber drinnen. Ich versuche mich so gut es geht zwischen beiden Kindern aufzuteilen, manchmal geht Olivia jetzt auch schon mit einer Freundin spielen, das ist eine wirkliche Erleichterung.
Um 17.30 Uhr beginnen dann schon unsere Abendrituale mit Abendbrot, Toilettengängen, Bettfertig machen, Zähne putzen. Um 19 Uhr liegt Willi bestenfalls im Bett, dann hat Olivia noch einmal ihre Mama-Stunde ganz allein, die sie jeden Abend bis aufs Maximum versucht auszudehnen. Aber so ab 20.30 Uhr ist bei den Kindern Ruhe, dann noch Katasptrophenbeseitigung, Tiefkühlpizza und wenn mein Mann nicht im Haus ist, setze ich mich dann wieder an die Arbeit – sonst mit ihm zusammen aufs Sofa. Wir können endlich mal in Ruhe noch etwas reden oder schauen einen möglichst guten Film und nehmen uns dann immer vor, am nächsten Tag aber mal richtig früh ins Bett zu gehen.
Ja,so ist es bei uns eigentlich fast immer. An zwei Nachmittagen in der Woche kommen die Großeltern, das ist eine Große Hilfe, denn dann kann ich auch noch mal etwas Dringendes erledigen oder muss mich wenigstens nicht ständig zwischen den Kindern aufteilen.
Nur wenn ich auf Lesereise bin, dann ist mein Mann mal allein zu Hause mit all dem und ich genieße es, vollkommen raus zu sein und los zu lassen. Natürlich sind die Lesungen auch extrem anstrengend, aber gegen den Alltag mit den Kindern ist es immer noch Gold, vor allem, weil ich nach der Arbeit wirklich frei habe! Es ist ein echter Luxus, so einen abwechslungsreichen Beruf zu haben und einen Mann und Eltern, die das mittragen!
Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben?
Eigentlich habe ich keine Zeit für mich. Oft nehme ich mir tagsüber nicht einmal die Zeit, etwas zu essen.
Wenn ich laufen gehe, dann ist das Zeit für mich. Das möchte ich zwei Stunden die Woche schaffen, es wird aber nie etwas. Ich ertappe mich immer mehr dabei, dass ich auch das Treffen mit Freunden nicht als etwas empfinde, das ich für mich mache, sondern ihnen zu liebe. Ich selber würde lieber allein sein und gar nichts tun. Schlimm, oder? Das darf man eigentlich gar nicht zugeben – aber es gibt tatsächlich in meinem Leben zur Zeit sehr wenig Menschen, bei denen ich mich wohl fühle. Das sind immer die, bei denen ich mich nicht ständig von neuem erklären und rechtfertigen muss für mein Leben. Mein Bruder zählt zum Beispiel dazu, aber es gibt auch noch zwei, drei Freundinnen – das Problem ist, dass die, die mich nicht drängen, auch wieder die sind, die ich kaum sehe.
Auch am Besuch von Ausstellungseröffnungen oder Festen habe ich im Prinzip das Interesse verloren. Ich fühle mich immer irgendwie fehl am Platz und will lieber nach Hause. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir langsam meine sozialen Fähigkeiten abhanden kommen. Aber vieles scheint mir einfach so banal, dass ich es nicht ertrage, meine Zeit daran zu verschwenden.
Zum Glück trifft mein Desinteresse nicht auf meinen Mann zu. Wenn wir mal, ganz, ganz selten, etwas allein machen, dann merken wir, wie gut das tut und dass wir auch zu zweit immer noch gut funktionieren und auch sehr viel lachen können, auch ohne unsere Kinder.
Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt? Wo siehst du Verbesserungsbedarf?
Hm, ich finde es gibt schon eine Menge Hilfen hier in Deutschland für Familien mit behinderten Kindern. Uns persönlich mangelt es vor allem an der Möglichkeit, Willi betreuen zu lassen. Das fing schon bei der Krippe an, die es für behinderte Kinder eben einfach nicht gab.
Und selbst als wir für Betreuung zeitweise einen Pflegedienst beauftragt hatten, war das am Ende keine Erleichterung, weil oft unfähige Leute kamen und ständig andere, die man Willi nicht zumuten konnte und die allesamt überfordert waren mit seinem schwierigem Verhalten.
Ich persönlich empfinde es sehr anstrengend, mir die möglichen Hilfen alle zusammenzusuchen. Es gibt so viele Töpfe aus denen man etwas bekommen kann, aber so ganz verstanden habe ich es letztlich auch noch nicht: Das System mit Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege und zusätzlichen Betreuungsleistungen habe ich langsam durchblickt, aber dass sich in Hamburg die gastweise Unterbringung mit dem Antrag auf Leistungen der Widereingliederungshilfe ausschließt, das habe ich erst begriffen, als ich schon die Rechnung von über 1.000 Euro von einer Woche Ferienbetreuung auf dem Tisch hatte.
Extrem viel Arbeit machen uns auch die ständigen Einkommensnacheise. Was das bedeutet, kann nur ein Freiberufler-Pärchen nachvollziehen, das mal für den Antrag auf einen Kitagutschein eine genaue Auflistung der Ein- und Ausgaben inklusive aller Belege der letzten sechs (oder gerne auch mal zwölf) Monate ab irgendeinem bestimmten Tag X des Jahres abgeben musste.
So geht es uns bei jeder einzelnen Hort-Woche in den Ferien, die wir für Willi beantragen! Da müssen wir dann einfach den Höchstsatz zahlen, weil es ja bald mehr Arbeit machen würde, das alles bereit zu stellen, als Willi in den Ferien selbst zu betreuen.
Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?
Inklusion ist für mich gar nichts anderes als ein leeres Wort – mit dem man aber im Moment überall Fördergelder bekommen kann.
Man hätte dieses Wort meiner Meinung nach nicht gebraucht, aber eine Veränderung im Denken der Menschen und mehr Toleranz von Andersartigkeit, das brauchen wir dringend – das passiert aber leider nicht dadurch, dass man sich neue Wörter ausdenkt.
Mir kommt das so verlogen vor, was im Schulsystem unter dem Titel Inklusion gemacht wird, denn man investiert gar nicht in die tolle Idee, sondern versucht sogar zu sparen. Ich denke deswegen regt mich das Wort so auf, es ist für mich zum Synonym geworden für oberflächliches und scheinheiliges Gutmeneschentum, vom Schreibtisch aus konzipiert, von Leuten die gar nicht wirklich etwas zu tun haben mit behinderten Menschen und auch gar nicht wirklich etwas für sie tun wollen, sondern nur auf ihre Zahlen schauen. Ein anderer Punkt noch dazu: Eine gesellschaftliche Öffnung gegenüber behinderten Menschen zu wünschen und andererseits aber die gezielte Diagnostizierung und Abtreibung behinderten Lebens allen Orts zu tolerieren, zu fördern und sogar zu erwarten – das schließt sich doch irgendwie aus, oder?
Wirkliche Inklusion, als gelebtes und selbstverständlichen Miteinander aller Menschen, das ist natürlich auch mein Wunsch! Und wenn wir diesen Zustand erreicht haben, ist ja auch das alberne Wort überflüssig. Übrigens glaube ich nicht, dass es in diesem Zustand keine Förderschulen mehr geben darf, wo behinderte Kinder in kleinen Gruppen teilweise auch separat unterrichtet werden. Allerdings wären diese Schulen dann offen für alle Kinder.
Bist du die Mutter, die du sein wolltest?
Zum Glück nicht! Ich wollte die Mutter sein, die ihr Leben weiter wie vorher lebt und an das sich die Kinder anpassen. Ich habe mir das so gedacht, dass meine Kinder mit zu mir ins Atelier kommen und mit auf Lesereise. Während ich arbeite, spielen sie nebenbei und Mama stillt das Baby in der Pause oder einfach währenddessen auf dem Arm. Klar wäre ich unglaublich entspannt gewesen und wäre weiterhin in die abstrusesten Länder gereist, in dem sicheren Bewusstsein, dass man sich nur nicht so anstellen dürfe, dann würde schon keiner krank werden. Und klar, bevor sie in die Schule kommen, wollten mein Mann und ich noch einen T2 VW Bus kaufen und ein Jahr lang die Panamerikana fahren, noch einmal so richtig aussteigen!
Wenn ich heute von einer Mutter in der Brigitte (die ich nicht lese, weil ich gar keine Zeitschriften lese und weil sie nie geantwortet haben, als ich ihnen meine tolle „Willis Welt“-Kolumne angeboten habe) einen Artikel über so eine Mutter lesen würde, in dem sie auch noch so tut, als könnte das jeder machen, dann würde ich denken: Du blöde egozentrische Kuh! So eine wäre ich ohne Willi vielleicht auch geworden.
Welche Träume hast du? Für deine Kinder, deine Familie – und ganz persönlich für dich?
Ich wünsche mir, dass meine Kinder glückliche Menschen werden, die achtsam mit sich und anderen umgehen. Ich hoffe, Olivia wird nicht eines Tages denken, dass ihre Mutter alles falsch gemacht hat, weil sie sich dafür entschieden hat, dass der Willi bei uns zu Hause leben soll, sondern dass sie dankbar ist, dass sie genau diese Kindheit in genau dieser Familie hatte. Das ist ganz schön viel verlangt, ich weiß.
Für Willi wünsche ich mir, dass er sich nicht eines Tages, wenn er vielleicht nicht mehr bei uns lebt, verschließt und in sich zurück zieht von dieser Welt, in der so vieles nur durch Sprache gesagt wird und deren Regeln für ihn so schwer zu verstehen sind.
Ich habe den Traum für unsere Familie, dass es in den nächsten Jahren mit Willi immer einfacher wird, sodass wir irgendwann mal ganz normal in den Urlaub fahren können oder mit beiden Kindern in ein Restaurant oder Kino gehen können oder einfach nur ganz entspannt eine Straße entlang gehen können, ohne ständig auf Hab Acht zu sein, ohne diese dauernde Anspannung – das wünsche ich mir.
__
Eine gute Nachricht: Ab Anfang 2015 wird Birte Müller neue Texte für die a tempo schreiben. Juhu! Für die Wartezeit empfehle ich alle Texte (ja, wirklich alle und jeden einzelnen!) ihrer Kolumne Willis Welt – und natürlich ihre Bücher.
Inspiriert wurde ich zu dieser Interview-Reihe durch den Mutterfragebogen von Okka Rohd auf SLOMO.
Schreibe einen Kommentar