Mein Sohn spielt gern Fußball, meine Tochter ist behindert. Das ist ein Satz von Sandra Roth. Heute weiß ich: Glück geht auch mit einem Kind, das schwer behindert ist. Noch so ein Satz. Das Buch Lotta Wundertüte ist voll von diesen Sätzen von Sandra Roth, die so ehrlich, gut beobachtet, gerade heraus und klug sind, dass es manchmal weh tut.
Als arbeitende Mutter von zwei kleinen Kindern komme ich nur sehr selten dazu, Bücher zu lesen. Lotta Wundertüte habe ich innerhalb weniger Stunden verschlungen. Es ist meine persönliche Spezialmama-Bibel und ich bin sehr dankbar, dass Sandra Roth es geschrieben hat. Vor allem, weil es so viel mehr ist als ein Buch für Eltern behinderter Kinder. Es ist ein Buch über Menschen, für Menschen. Egal, ob Eltern oder nicht. Egal, ob behindert oder nicht. Es erreicht alle.
Aufmerksam geworden bin ich auf Sandra Roth und ihre Knaller-Sätze durch einen Artikel, in dem sie von der Suche nach einem Kita-Platz für Lotta erzählt: “Vielleicht geht sie in einen speziellen Kindergarten”, erkläre ich Ben. “Nur für Kinder mit Behinderung.” Heilpädagogische Einrichtung nennt sich das. Acht Kinder, drei Betreuer, viele Therapeuten. “Das ist doof”, sagt Ben. “Da darf ich ja nicht rein.” Aus: Sie kann lächeln, DIE ZEIT, 2013
Ich freue mich von Herzen darüber, dass ich Sandra Roth heute im Kaiserinnenreich vorstellen darf, mit gewohnt großartigen Sätzen.
Name: Sandra Roth
Alter: 37 Jahre
Beruf: Freie Journalistin und Autorin
Meine Tochter ist fünf Jahre alt, mein Sohn sieben. Im Buch nenne ich sie Lotta und Ben, damit sie sich später mal selbst aussuchen können, ob sie mit dieser Geschichte bei Google auftauchen möchten. Diese Namen standen immer schon auf meiner Liste – ich konnte mich damit nur bei meinem Mann nicht durchsetzen.
Wir leben in Köln, in einem Stadtteil, der ein kleines Dorf in der Stadt ist. Kleine Reihenhäuser aus den 30ern, mit hohen Decken und winzigen Gärten, mit Treppen, Treppen, Treppen und vielen Kindern, die auf der Straße spielen. Es ist eine sehr enge Nachbarschaft. Es findet sich immer jemand, der mir hilft, Lottas Rollstuhl die Treppe zur Haustür hoch zu tragen.
Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?
Im Rückblick vor allem eins: ruhig. Ich weiß noch, dass ich es hektisch fand, aber warum? Ich war gerade nach Köln gezogen, der Liebe wegen, habe schon damals als freie Journalistin gearbeitet und verhandelte noch mit meinem Mann, wer von uns jetzt mal endlich richtig kochen lernt.
Wie sieht dein Alltag heute aus?
Schön. Chaotisch. Morgens Krankenhaus, nachmittags Fußballplatz. Spazieren gehen, Ben auf dem Roller und Lotta im Rollstuhl. Gleichzeitig Lotta füttern und Ben bei den Hausaufgaben helfen. Abends schnell noch was arbeiten, wenn die Kinder schlafen. Viele SMS und Anrufe von meinem Mann während des Tages, der öfter mal im Ausland ist, er arbeitet auch als Journalist. Sehr viel gleichzeitig, oft etwas zuviel, aber es macht Spaß. Nur die Arzttermine dürfen gerne weniger werden.
Wann und wie hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?
Als die Frauenärztin sagte „Da stimmt etwas nicht“, war mein erster Gedanke: „Ich habe gestern die Folsäuretabletten vergessen.“ Ist natürlich Quatsch. Meine Tochter hat eine angeborene Gefäßfehlbildung im Gehirn, eine Vena Galeni Malformation. Das ist eine Laune der Natur, Zufall. Wir haben Lotto gespielt und eben gewonnen. Als unsere Tochter drei Monate alt war, hat die Kinderärztin dann bei der Vorsorgeuntersuchung festgestellt, dass sie sich nicht ganz so entwickelt, wie sie soll. Es hat dann etwa zwei Jahre gedauert, bis wir wussten, wie stark unsere Tochter behindert sein würde.
Inwiefern ist dein Kind behindert und welches Handicap wiegt für dich am schwersten?
Meine Tochter ist schwer mehrfach behindert. Wegen ihrer körperlichen Behinderung sitzt sie im Rollstuhl, wird geschoben, gefüttert, gewickelt. Sie hat ab und zu epileptische Anfälle. Sie ist blind, ist jetzt fünf Jahre alt und kann so gut wie nicht sprechen. Sie so zu beschreiben ist für mich mittlerweile so, als würde ich von meinem Sohn sagen: Er ist sieben und kann immer noch nicht fliegen. Wenn ich Lotta anschaue sehe ich nicht ein Kind, das nicht laufen kann, sondern eines, das es seit kurzem schafft, mit einer Hand einen Knopf zu drücken und so das Massagekissen hinter seinem Rücken anzuschalten. Ein Mädchen, das gerne und oft lacht, das Musik liebt und seinen großen Bruder selbst dann noch toll findet, wenn er sie halb erdrückt.
“Eine Mutter liebt am stärksten ihr schwächstes Kind”, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das?
Oh je, das ist ja ein schreckliches Sprichwort. Ich sehe Lotta nicht als schwach, sondern als sehr stark. Wenn sie etwas will, kämpft sie dafür sehr viel mehr als die meisten Menschen, die ich kenne. Sicher, sie braucht bei fast allem Hilfe – die brauche ich jetzt auch öfter mal. Doch ich habe gelernt, dass es mich nicht schwächt oder herabsetzt, Hilfe zu brauchen und auch anzunehmen. Das gilt auch für Lotta. Und Ben ist sowieso ein Wirbelwind, der alles ist außer schwach.
Aber dahinter steckt ja die Frage, die sich viele Mütter irgendwann mal stellen: Liebe ich alle meine Kinder gleich? Ich finde, Liebe lässt sich nicht quantifizieren, messen oder vergleichen. Das geht nicht. Ich liebe sie. Beide. Jedes Kind ist mal „Liebling des Tages“, jedes mal „das Kind aus der Hölle“ (wenn auch nie für einen ganzen Tag). Aber das hat wiederum nichts damit zu tun, wie sehr ich sie liebe. Ganz unabhängig davon, ob sie stark oder schwach sind, anstrengend oder herzerwärmend.
Die schwierigere Frage finde ich: wie kann ich jedem der beiden die Aufmerksamkeit und Zeit geben, die er braucht? Und zwar nicht nur Lotta, sondern auch Ben. In seinem ersten Schuljahr haben wir das so gelöst, dass er immer schon um 12 Uhr zuhause war und wir dann jeden Tag zwei bis drei Stunden zu zweit alleine hatten. Jetzt ist der Akku wieder aufgeladen und seine Freunde in der Ganztagsschule spannender als Mama zuhause. Mir diese Zeit nehmen zu können, war ein Luxus, für den ich sehr dankbar bin.
Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welches der anstrengendste?
Wenn die Kinder zusammen lachen und uns damit anstecken – das ist schön. Wenn das abends um 22 Uhr ist, ist der anstrengendste Moment des Tages auch nicht weit.
Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert?
Wir haben schon sehr viele Modelle durch. Kinderfrau, Babysitter stundenweise, Kindergarten bis um 12 Uhr… Jedes Modell war zu seiner Zeit gut und richtig. Jetzt sieht es so aus: morgens gehen meine Kinder in die Kita und die Schule. Bis um 14.30 Uhr kann ich arbeiten und ab 15 Uhr fängt mein Nachmittag mit den Kindern an. Und einmal die Woche gehen mein Mann und ich abends aus, es sei denn einer in der Familie ist krank. Dafür haben wir einen festen, großartigen Babysitter.
Hinter uns steht ein kleines Netzwerk von einigen tollen Menschen, die auch meine Tochter betreuen können, was wirklich eine fantastische Hilfe ist. Ich versuche, dieses Netzwerk ganz aktiv zu pflegen und auszubauen. Wann immer ich jemanden treffe, der gut mit Lotta kann – und sei es eine Praktikantin im Kindergarten oder eine Studentin im Krankenhaus – frage ich nach der Nummer und ob ich sie später irgendwann mal anrufen darf. Vielleicht brauche ich im Moment gar keine Verstärkung in unserem Netzwerk, aber irgendwann bestimmt.
Wie sieht dein Arbeitstag aus? Unter welchen Bedingungen kannst du Job und Familie miteinander vereinbaren?
Solange keiner krank ist, geht’s wirklich gut. Sonst wird es schwieriger. Falls eine OP meiner Tochter ansteht, nehme ich für diese Zeit keine Aufträge an. Und falls mal wieder unerwartet einer krank wird, muss ich eben eine Lesung absagen oder eine Deadline verschieben. Aber das kommt wirklich selten vor, ich versuche mir immer schon einen gewissen, zeitlichen Puffer einzuplanen. Und mein Mann kann ab und zu auch einspringen.
Kranke Kinder gehen eben vor und natürlich ist es eher Lotta als Ben, die meine Zeitpläne sprengt. Aber ich habe großes Glück, dass ich frei und relativ unabhängig von zuhause aus arbeiten kann, das macht vieles leichter. Ich habe sehr großen Respekt vor Müttern und Vätern, die Kinder wie Lotta mit einem verständnislosen Chef unter einen Hut kriegen müssen, der sie um acht Uhr morgens hinter dem Schreibtisch oder der Kasse sehen will.
War das Schreiben deines Buchs „Lotta Wundertüte“ eine größere Herausforderung als deine „normale“ Journalistinnen-Tätigkeit? Wie hast du das zeitlich organisiert?
Als ich mit dem Buch angefangen habe, hatte meine Tochter noch keinen Kindergartenplatz. Da habe ich hauptsächlich abends geschrieben, oft bis spät in die Nacht. Aber auf Dauer ist das sehr anstrengend. Mit der Kita wurde es dann besser. Das Buch war ja nicht geplant, sondern ein Ergebnis der vielen wunderbaren Rückmeldungen auf meinen Artikel im Zeitmagazin.
Als der erschien, haben sich auch Verlage gemeldet und die Chance wollte ich ergreifen.
Insgesamt hat es mir viel Freude gemacht, unsere Erlebnisse aufzuschreiben – Spielplatz als Recherche, herrlich. Aber es ging mir auch ans Herz, denn ich wollte das Buch ja nicht für mich schreiben, als Verarbeitung oder Therapie. Sondern für den Leser, der eben auch Fragen hat, die mir unangenehm sind. Warum genau haben wir nicht abgetrieben? Reden wir uns das behinderte Kind schön? Das waren Fragen, denen ich mich stellen musste – das fand ich die größte Herausforderung beim Schreiben. Am Liebsten mochte ich die lustigen Szenen – die sind nur so herausgesprudelt.
Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben? Reicht sie dir? Wie nutzt du sie?
Zählen die fünf Minuten, die ich morgens länger unter der Dusche bleibe? Wahrscheinlich nicht, oder? Alle sagen einem immer, man solle sich Zeit für sich nehmen – das steht sogar in den Broschüren, die ich beim Gesundheitsamt mitgenommen habe: „Freizeitvergnügen und Berufstätigkeit der Mutter sind nicht als Luxus anzusehen, (…) sie dienen der ganzen Familie.“ Wunderbar, aber oft kommt man selbst eben doch zu kurz.
Doch ich habe das Glück, dass mir meine Arbeit sehr viel Freude macht, das ist ja nicht selbstverständlich. Insofern ist das auch Zeit für mich. Ich nehme mir immer wieder vor, mehr Sport zu machen oder mich morgens, wenn alle außer Haus sind, einfach wieder mit einem Buch ins Bett zu legen, das schaffe ich aber sehr selten. Was ich öfter mache: abends den Mann die Kinder ins Bett bringen lassen und mit einer Freundin ausgehen. Das tut gut.
Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?
Wenn ich mit meiner Tochter an der Fußgängerampel stehe und warte, dass es grün wird, dann sieht der Mensch, der neben mir wartet, etwas anderes als ich. Ich sehe ein Mädchen mit blonden Zöpfen, er sieht ein Kind im Rollstuhl. Ich sehe einen Grund, stolz zu sein, er einen Grund dafür, mit uns Mitleid zu haben. Das stört mich im Alltag am meisten. Aber das lässt sich ändern, deshalb habe ich ja das Buch geschrieben. Es ist der Versuch, die anderen mal durch meine Augen schauen zu lassen.
Eine wirklich inklusive Gesellschaft werden wir erst haben, wenn ich in der Fußgängerzone nicht mehr auf der falschen Seite gegen die Masse anlaufen kann, ohne dass einer motzt. Und damit wir dahin kommen, muss Inklusion so umgesetzt werden, dass sie die Gräben zwischen uns eben nicht vertieft, sondern überquert. Da ist die Politik gefragt.
Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?
Inklusion heißt für mich, dass mein Kind morgens lächelt, wenn ich sie in ihre Regel-Kita bringe. Dass ihr Freund ihr Zettel mit Herzen drauf in den Rucksack an der Garderobe steckt. Dass sie zur Physiotherapie in der Turnhalle ihre drei besten Freundinnen mitnimmt, sie turnt vor, die anderen machen das nach. Und leider heißt Inklusion auch noch, dass wir einen Anwalt einschalten mussten, bevor wir eine Integrationshelferin für meine Tochter bewilligt bekommen haben.
Welche Träume hast du? Für deine Kinder, deine Familie – und ganz persönlich für dich?
Dazu gibt es eine Geschichte, die ich immer wieder gerne erzähle. Mein Sohn hat beschlossen, dass er Nationalspieler wird – „weil ich so gut Fußball spiele.“ Er hat dann gezögert und gesagt: „Aber was wird dann Lotta, Mama? Die kann doch nichts.“ „Das stimmt doch nicht“, habe ich entgegnet. „Ein bißchen was, kann die schon. Wir müssen einfach einen Beruf finden, bei dem man das braucht, was Lotta gut kann.“ Als er sich dann die WM-Spiele angeschaut hat, meinte er plötzlich: „Mama, ich weiß, was Lotta werden kann! Ich werde ja Nationalspieler und Lotta ist doch immer so gerne bei den Spielen dabei. Die lächelt immer so schön, wenn ich ein Tor mache. Und wenn wir noch richtig viel üben, kann sie vielleicht irgendwann mal klatschen. Ist doch ganz logisch, was die wird. Die wird Angela Merkel.“
Ich wünsche mir für die Zukunft, dass wir uns diese Sichtweise bewahren können – und das Lachen nie vergessen.
—
Schreibe einen Kommentar