Und wie machst du das, Gesa?

by Mareice Kaiser

Mareice Kaiser
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Gesa hat mich im Sturm erobert. Das erste Mal begegneten wir uns vor zwei Jahren bei einem Treffen von Müttern behinderter Kinder aus ganz Deutschland. Seitdem freue ich mich, sie mindestens ein Mal im Jahr wieder zu sehen, mich mit ihr auszutauschen und nicht zuletzt – mit ihr zu lachen. Als ich vor zwei Jahren die ersten Sätze von ihr hörte, war es sofort um mich geschehen: Gesa erzählt klug, humorvoll und pointiert über ihr Familienleben und den alltäglichen Wahnsinn mit vier (Lieblings-)Söhnen und einem Ehemann. Ich bin ein großer Fan von ihr.

Heute freue ich mich, Gesa im Kaiserinnenreich vorstellen zu dürfen!

Zitat_und_Bild_GesaName: Gesa Borek

Alter: zum 15. Mal 33

Mutter von: Christian (20 Jahre), Lars (17 Jahre), Jonas (10 Jahre) & Moritz (7 Jahre)

Wohnort: Hamburg, Stadtrandlage ohne Flair aber mit Haus und Garten, mit normalem Maßstab nicht klein, aber für unsere raumgreifenden Persönlichkeiten grenzwertig dimensioniert. Was zählt, ist die gute Verkehrsanbindung an das S-Bahn Netz, damit Lars selbstständig zur Schule fahren kann.

Beruf: Sozialarbeiterin und Diakonin

Berufung: Botschafterin der Hoffnung

Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?
Im Rückblick war mein Leben durchschnittlich, oberflächlich und auf das kleine persönliche Glück fokussiert. Mein Teller sollte voll sein, der Tellerrand war mir egal, der Blick darüber hinaus erst recht. Noch heute mag ich schöne Teller, sinnstiftend für mich sind aber andere Dinge geworden. Beziehung und Begegnung machen mein Leben heute aus. Vor meinen Kindern habe ich Teilhabe vor allem materiell verstanden, ich wollte mein Stück vom Kuchen. Das finde ich bis heute nicht verwerflich, sondern verständlich. Man wird nicht als fertige Persönlichkeit geboren, sondern entwickelt sich sein ganzes Leben. Nur durch Begegnungen mit anderen Menschen findet man zu sich selbst. Ich bin sehr dankbar, dass ich offen für den Mehrwert bin, der durch meine behinderten Kinder in mein Leben kommt. Ich habe durch meine Kinder das Gefühl, dass ich viel mehr und auch sehr besondere Lernchancen für mein Leben habe.

Wie sieht dein Alltag heute aus?
Positiv formuliert packe ich sehr viel Leben in meine Tage. Manchmal denke ich morgens um acht Uhr aber auch, dass ich eigentlich schon ein Tagwerk verbracht habe. Bei uns beginnt der Tag meist weit vor sechs Uhr. Die Windel von Jonas hält nicht die ganze Nacht. Windeln für erwachsene Menschen mit Behinderung sind ungefähr auf dem Stand, auf dem Babywindeln schon in den 1980ern waren. Aber auch Kinder mit Behinderung brauchen einen trockenen Po für einen gesunden Schlaf und eine gute Entwicklung.
„Bitte entschuldige die Störung, mein Bett ist nass“, weckt mich mein höfliches Kind oft. Wer könnte so einem Engel widerstehen, aber müde bin ich trotzdem fast chronisch. Ohne Windeln ist es nicht unbedingt besser. Mein Ehemann hatte gerade Geburtstag. Morgens um kurz vor sechs katapultierte ich ihn mit Jonis Worten aus dem Bett: “Entschuldige die Störung, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Lars hat es nicht bis zur Toilette geschafft, ich brauche deine Hilfe bei der Schadensbegrenzung.” Zwei FraXe sind zwei Pflegefälle – und sie haben ein Recht auf eine gute Versorgung.
Beim FraX geht gar nichts mit Druck. Wenn ich unsicher bin, kann ich meinen Kindern nicht die Sicherheit geben, die sie brauchen. Das emotional anstrengendste für mich ist, immer die Ruhe zu bewahren. Es ist egal in welcher Situation, unter welchem Zeitdruck oder in welcher Krise ich selbst gerade stecken mag, ich muss Souveränin der Lage sein. Meine übersensiblen Kinder sind fast hellsichtig. Ich kann Ruhe nicht demonstrieren, ich muss innerlich ruhig sein. Das erschöpft mich manchmal sogar physisch. Ich habe gelernt, kleine heilige Auszeiten für mich in den Tag einzubauen.
Rein zeitlich betrachtet wären ein Ehemann, vier sehr individuelle Kinder und das bisschen Haushalt ein gutes Alibi, mich von weiteren Tätigkeiten fernzuhalten. Ich glaube, dass ich zuhause zu wertvoll bin, um irgendeinen Job nur des Geldes wegen zu machen. Ich bilde mir aber auch ein, eine Aufgabe außerhalb meiner Familie zu haben. Meine Lebensaufgabe habe ich im Fragilen-X Syndrom (FraX) gefunden, bei meinen eigenen Kindern, klar. Ich möchte mein Wissen aber auch weitergeben und so etwas wie eine Botschafterin der Hoffnung für andere Familien sein. Es gibt immer etwas, das man tun kann, damit das Leben nicht trotz, sondern mit dem FraX gelingt.

Familien

Wann hast du von der Behinderung deiner Kinder erfahren?
Ihren Namen, Fragiles-X Syndrom hat die Behinderung 1999 in der Humangenetik erhalten, als unser Zweitgeborener zweieinhalb Jahre alt war. Mein erster Gedanke war damals: Oh Gott, stirbt er daran!? Der Genetiker konnte mich beruhigen: Irgendwann stirbt er bestimmt, wie jeder Mensch, aber nicht am Fragilen X, waren seine Worte. Dann ist alles gut, habe ich geantwortet. Denn das war das einzige, wovor ich noch Angst hatte: Meinen Sohn zu verlieren. Das irgendetwas an seiner Entwicklung nicht stimmt, wahr mir längst klar. Eine erste Ahnung hatte ich Minuten nach der Geburt, als ich das rote, verformte, dicke Köpfchen anschaute und dachte: Mein Schatz, dich kann nur eine Mutter lieben. Alles an meinem Kind, die Hände und Füße, vor allem der Schädel erschien zu groß, er lag irgendwie unproportioniert und ohne Spannung wie zerflossen auf meinem Bauch. Das war er, der ganz besondere Augenblick, der Moment, in dem Lars mein Herz gestohlen hat. Dann haben mir alle im Kreissaal zum gesunden Prachtburschen gratuliert und ich vergaß mein ungutes Gefühl gerne. Für ein paar gnädige Wochen hatten wir zwei gesunde Kinder.
Von Jonas Behinderung haben wir sechs Wochen nach der Geburt erfahren. Wir haben Nabelschnurblut testen lassen. Ich habe ihn vorher besorgt beobachtet und eigentlich habe ich das Ergebnis des Gentestes wieder einmal nicht gebraucht, um zu sehen, dass es FraX ist. Jonas war so unruhig und schwer zu beruhigen, außer man drückte ihn ganz fest an sich. Wahrnehmungs- und Anpassungsstörungen waren vom ersten Tag an da. Joni war das Kind, das auf die Welt kam und mit seinem zarten Mündchen als erstes „Schippe“ machte. Er zeigte deutlich, dass er das Leben außerhalb von Mamas Bauch als Zumutung betrachtet. Damit hatte Jonas Papas Herz für sich erobert. Ich wusste noch nicht so recht, was ich da für ein Kind vor mir habe. Sohn, wer bist du? Als der Anruf der Humangenetik dann kam, habe ich gedacht: Scheiße, der macht dir jetzt alles kaputt. Das FraX war das zweite Mal schwerer zu akzeptieren, denn ich wusste ja jetzt, was auf mich zukommt. Ich hatte unendlich viel Angst. Ehrlich gesagt auch um mich. Ich hatte keine Idee, wie ich es mit zwei FraXen schaffen sollte, ein eigenes Leben zu haben. Vor allem dachte ich nicht, dass es möglich sein würde weiter zu arbeiten. Mein Ehemann ist damals ein großes berufliches Wagnis eingegangen und hat mich sehr unterstützt. Ich konnte so weiter arbeiten, mich langsam von meinen Ängsten befreien und mich so in Jonas verlieben, wie mein großartiger Sohn es verdient.

Inwiefern sind deine Kinder behindert und welche Beeinträchtigung wiegt für dich am schwersten?
Meine Kinder, Lieblingssohn Nr. 2 und Nr. 3, haben die häufigste Ursache für vererbbare geistige Behinderung, das Fragile-X Syndrom. Betroffene haben neben der mentalen Beeinträchtigung vor allem soziale Ängste, sind häufig übererregbar und haben Verhaltensauffälligkeiten. Oft werden ihre Schwierigkeiten als autistische Züge zusammengefasst. Der Begriff führt für mich eher in die Irre. Sie sind keine Autisten. Sie haben ein unglaublich großes Interesse an sozialen Begegnungen und Kontakten, sie sind übersensibel für Stimmungen und Gefühle, alle ihre Sinne sind geschärft, sie hören vermutlich zehn Mal lauter als normal. Ich wüsste zu gerne, wie sie die Welt sehen. Diese unglaubliche Reizoffenheit und übersteigerte Wahrnehmung führt häufig dazu, dass ihnen alles zu viel wird. Aus Angst verweigern sie das, was sie sich eigentlich wünschen. Sie ziehen sich zurück. Das macht mein Großer. Er sitzt allein in seinem Zimmer, holt sich die Welt durch das Internet auf seinen Tablet Computer und ist in seiner Phantasie auf den Bühnen der Welt zuhause. Der Kleine überfrisst sich buchstäblich an den vielen Eindrücken, bis sein Magen revoltiert und der Kopf schmerzt. Für beide Kinder gibt es wirksame Methoden und Hilfsmittel, die sie aus ihrer Isolation holen und Überforderung vermeiden helfen. Das ist zeit- und personalintensiv. Mich macht es oft traurig, dass ich nicht die Ressourcen zur Verfügung habe, die wir brauchen würden, um ihnen volle Teilhabe zu ermöglichen.

“Eine Mutter liebt am stärksten ihr schwächstes Kind”, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das?
Keiner ist nur schwach oder nur stark. Jeder hat Grenzen und jeder hat Flügel. Auf meine vier Kinder versammeln sich ADS, Depression, Hochbegabung, FraX und vermutlich fände man, wenn man denn suchen würde, noch weitere Diagnosen. Manchmal wünsche ich denen ohne FraX ein Stück von der Gelassenheit, mit der Lars die Dinge nimmt, wie sie kommen. Meine Jungs sind alle völlig unterschiedliche Persönlichkeiten mit ganz eigenen Stärken und Schwächen. Ich denke eine Mutter ist – wenn sie Glück hat – dann zur Stelle, wenn sie am meisten gebraucht wird. Egal wie alt das Kind ist oder wie behindert. Ich versuche immer dem Kind all meine Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken, dem ich mich gerade widme. Bei Vieren kann man dann nur hoffen, dass nicht gerade ein anderer Notfall kommt und man ein weinendes Kind zurücklassen muss, um die nächste Katastrophe abzuwenden. Ist es gemein von mir, wenn ich sage ich liebe manchmal auch das Kind am stärksten, dass gerade weg ist? Im Moment liebe ich sie alle gleich, sie sind gerade so schön auf Uni und die diversen Schulen verteilt.

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Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welches der anstrengendste?
Der anstrengendste ist eindeutig sieben Uhr morgens, wenn alle vier exakt gleichzeitig aus dem Haus müssen, sich zwei Schulbusse in der Straße kreuzen und immer einer die Schulkrise oder das falsche Frühstück hat. Glücksmomente sind jede einzelne Umarmung, jeder Kuss und jedes High Five. Glücklich bin ich, wenn mich mein Ältester noch um Rat fragt. Oder wenn er mich mit einem Arm lässig hochhebt und mich quieken und zappeln lässt. Wenn Jonas mit den Händen unter meinen Pulli krabbelt weil „ Mami den schönsten Bauch hat“, schmelze ich dahin. Wenn mein kleiner Prinz mich abends an sein Bett zurück ruft, weil noch sooo viel fehlt und dann seine Ärmchen um meinen Hals schlingt, habe ich einen Kloß im Hals vor Glück.

Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert? Bist du damit zufrieden?
Wir sind eine sechsköpfige Familie mit einem Haupternährer, meinem Ehemann. Um allen Missverständnissen vorzubeugen, der würde sich an der Kinderbetreuung werktags beteiligen, tut das auch im Rahmen seiner Möglichkeiten, doch eine Arbeitszeitverkürzung könnten wir uns aus finanziellen Gründen nicht leisten. Wir wären schlicht bankrott, wenn mein Sozialarbeiterinnengehalt sein Einkommen in Teilen ersetzen sollte. Damit verbleibt aus fachlichen Gründen die Organisation und aus praktischen Gründen die Vertretungsregelung bei mir in Personalunion. Die Schule ist nicht nur unsere Bildungs- sondern auch unsere einzige Betreuungseinrichtung. Die Tücke liegt dabei wie so oft im Detail. Ist mein Sohn gesund und in der Schule, wird er von einem Schulhelfer dort zusätzlich betreut. Ist mein Sohn krank daheim, muss der Schulhelfer zuhause bleiben und wird auch nicht bezahlt. Genau wie ich… Bitte den Fehler suchen!
In der Theorie ist also alles bis auf die zwölf Wochen Ferien geregelt. In der Praxis fragt die Schule nach Schulzeitverkürzung beim Kleinen, weil mein Sohn keinen vollen Tag aushält. Ich habe ehrlich geantwortet, dass ich das organisatorisch nicht hinbekomme. Jetzt geht er zwar weiter bis 14.30 Uhr zur Schule, ist aber oft ganze Wochen krank. Es gibt seit diesem Schuljahr sogar einen Hort an der Schule – bloß uns nützt das gar nichts. Jonas kann nicht so viele Stunden mit so vielen Kindern zusammen sein. Es gibt Barrieren, die man nicht sieht. Beim Großen stehen mehrere Praktika an. Eigentlich Vollzeitpraktika, doch wieder das gleiche Problem: ein voller Tag mit neuer Tätigkeit, in fremden Räumen und mit vielen Menschen, das schafft er nicht. Also kann ich meinen Sohn scheitern lassen oder uns beiden erlauben, nur Teilzeit zu arbeiten.

Wie sieht dein Arbeitstag aus? Unter welchen Bedingungen kannst du Job und Familie miteinander vereinbaren?
In den letzten Jahren habe ich studiert. Das Studentenleben – alle Bologna-Geschädigten mögen mir verzeihen – war relativ einfach zu organisieren. Ich konnte nicht allzu wählerisch bei Kursen sein, die wurden von mir nach den Schulzeiten der Kinder und nicht nach Interessen ausgewählt. Der Rest war Verbindlichkeit, Disziplin und vor allem Spaß. Ich hatte eine riesige Freude daran im Hörsaal zu sitzen und mich mit Denken zu beschäftigen. Mein großer Kummer ist die fehlende Abschlussarbeit. Ich schaffe es im Familienalltag bis jetzt nicht die nötige Kontemplation zu finden, um meine Masterarbeit zu schreiben. Ein Sabbatical wäre nicht schlecht, vorerst ist aber keins in Sicht. Stattdessen baue ich gerade mit einer Kollegin die ersten beiden Beratungsstellen Deutschlands für das Fragile-X Syndrom auf.

Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben? Reicht sie dir? Wie nutzt du sie?
Ich nehme mir Zeit für Sport. Meine Gesundheit ist nicht eine Aufgabe, wenn am Ende des Tages noch Zeit ist, sondern die Basis unseres Familiensystems. Ich versuche morgens zwei- bis dreimal zum Sport in ein Studio zu kommen und es gelingt mir meistens. Wenn es eine Woche doch mal nicht klappt, dann fange ich in der nächsten einfach wieder an. Meine Freundinnen sehe ich seltener, als mir lieb ist. Liebste Freundinnen fangen aber auch da immer wieder an, wo sie aufgehört haben, egal wie lange sie sich nicht gesehen haben.

Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?
Wir kennen und nutzen alle uns zur Verfügung stehenden Sozialleistungen. Es hat durchaus Vorteile vom Fach zu sein, wenn man Kinder mit Behinderung hat. Wir scheitern trotzdem, wenn es darum geht unseren Kindern volle Teilhabe im Alltag zu ermöglichen. Es gibt viele Sportvereine und Angebote, nur kommen unsere Kinder ohne Begleitung nicht einmal aus dem Haus. Ich kann mich nicht in drei Teile schneiden, also bleiben trotz Mamas Taxi immer zwei auf der Strecke. Es ist eine ganz einfache Rechnung. Lars zwei Nachmittage in der Woche mit Begleitung zum Sport zu schicken, wäre toll für ihn und gut gegen sein Übergewicht. Weder einen unerfahrenen Schüler, noch eine ungelernte gutwillige ehrenamtliche Kraft kann ich mit einem 1,80 m großen, fast 100 kg schweren jungen Mann mit geistiger Behinderung, Ängsten und Verhaltensproblemen auf den Weg schicken.
Wir sind nicht arm, aber 24 Fachleistungsstunden im Monat würden uns ungefähr 600 Euro kosten. Also ist die Rechnung Familienurlaub für alle oder Sport für Lars. Ich wünsche mir von der Politik, dass der Bedarf meiner Kinder an Eingliederungshilfe unabhängig vom Einkommen betrachtet wird. Dann müsste ich mich nicht mehr entscheiden, welches Kind verzichten muss.
Von der Gesellschaft wünsche ich mir Respekt für die verschiedenen Lebensentwürfe. Auch mit einer genetischen Belastung für ein behindertes Kind darf man sich Kinder wünschen. Auch mit Kindern mit Behinderung ist man eine Familie. Ich habe kein Problem damit, über unsere besonderen Herausforderungen zu sprechen. Man darf mich fragen. Ich erwarte nicht, dass jeder unseren Lebensentwurf nachvollziehen kann, geschweige denn es auch so machen würde. Man darf auch über uns urteilen, man darf nur nicht erwarten, dass wir uns von unserem Weg abbringen lassen. Wir stellen unsere Kinder nicht in Frage, keines von ihnen.

Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?
Inklusion ist weder Gleichmacherei, noch ist sie auf den gemeinsamen Unterricht zu begrenzen. Inklusion fängt für mich mit einer wertschätzenden Haltung gegenüber der Vielfalt an. Wertschätzung, ohne eine mögliche Gegenleistung zu bewerten. Inklusion muss nicht gut für alle sein, es muss keiner davon profitieren, denn dann sind wieder die außen vor, die wenig zu geben haben. Inklusion bedeutet für mich nicht, an Menschen mit Behinderung einen Maßstab von Menschen ohne Behinderung zu legen. Ein Beispiel: Kunst von Menschen mit Behinderung sollte nicht dadurch etwas wert sein, dass sie nichtbehinderte Käufer findet. Dann erhalten nur die Künstler mit Behinderung eine Chance, die für einen Markt produzieren.
Es trifft mich immer hart, wenn andere Menschen nicht sehen, was meine Kinder leisten. Ich versuche immer zu erklären, dass praktisch alles für jemanden mit FraX eine Riesenanforderung werden kann. In eine volle Bahn einsteigen, ein paar neue Schuhe anprobieren oder zum Friseur gehen, Alltagsdinge sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern Höchstschwierigkeiten. An einer Schulaufführung als Zuschauer teil zu nehmen, kann für jemanden mit FraX die gleiche Leistung sein, wie für jemanden anderen, die Hauptrolle zu übernehmen. Wenn man anfängt Menschen zu vergleichen, hat man schon verloren. Es geht darum, den anderen in seiner Persönlichkeit wahr zu nehmen.
Fredi Saal hat geschrieben: “Leben kann man nur sich selber“. Das Individuum und seine ganz persönliche Freiheit, eigene Lebensentscheidungen zu treffen, ist für mich das Maß der Dinge. Eine Gesellschaft, die dafür die bestmöglichen Bedingungen schafft, die ist inklusiv.

Bist du die Mutter, die du sein wolltest?
Ja, denn ich habe vier Kinder. Nein, ich bin schlimm. Ich stelle viel zu viele Fragen.

Wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest Du etwas anders machen?
Manches würde ich schon gerne weglassen an Fehlern, Fehlentscheidungen und Fehlkäufen. Ungeschehen würde ich nur eine einzige Sache machen wollen. Meine Großmutter ist vor 25 Jahren an einer verschlossenen Vene im Krankenhaus gestorben. Es war ein Sonntag und kein Arzt auf der Station. Sie wollte nicht, dass ich meinen Bus verpasse und ich ließ sie allein, ohne einen Arzt für sie zu holen. Sie starb bescheiden, unnötig früh und mit Schmerzen; sie wollte nicht lästig fallen. Inzwischen habe ich, durch und für meine Kinder, wie eine Löwin kämpfen gelernt. Mich schickt man nicht mehr weg.

Ein Gegenstand Deiner Kinder, den du ewig aufbewahren wirst?
Den Taufanzug, den sie alle getragen haben. Dieser Anzug ist für mich ein Symbol für das, was sie miteinander verbindet. Sie sind Brüder und damit für ihr Leben miteinander verbunden. Von jedem Kind einzeln, das ist auch leicht: Christians erste Rassel, eine einfache kleine Plastikhantel mit zwei Kugeln an jedem Ende, die wird aufgehoben. Er konnte mit sechs Wochen schon so herrlich wütend werden, weil die Kugeln nicht in seinen Mund passten. Lars` Barney Stofftier wird immer bei uns wohnen bleiben. Nicht, dass Lars jemals damit gekuschelt hätte, er hat nie ein Stofftier angefasst. Aber Barney ist ein Familienmitglied geworden. Seine Barney Show verfolgt uns jetzt fast 20 Jahre im TV, auf Video und inzwischen auf dem Tablet. Jonis Badehandtuch werde ich nie hergeben. Eine ganz liebe und mir sehr teure ältere Dame hat es für ihn zur Geburt als Geschenk genäht. Es ist aus regenbogenfarbenem Frottee und so groß, dass es ihn jetzt noch fast einhüllt. Bleibt noch unser Morchen, der Jäger und Sammler von Schätzen aller Art. Von ihm werde ich die Zeichnung immer aufheben, die er für uns als Familienbild gemalt hat.

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Welche Träume hast du? Für deine Kinder, deine Familie – und ganz persönlich für dich?
Für alle meine Kinder wünsche ich mir, dass sie über sich herausfinden, was sie als Mensch ausmacht und dass sie mögen, was sie so alles an sich entdecken. Für meine Familie wünsche ich mir, dass alles so bleibt, wie es ist. Ich persönlich träume von einer fertigen Masterarbeit und wünsche mir, dass das nicht mein Trauma wird.

mehr: Der Mutterfragebogen, Special Needs Edition

7 Kommentare zu “Und wie machst du das, Gesa?

  1. Was Frau Borek hier sagt, kann nur wirklich verstehen, der selbst auch betroffen ist; und sie sagt es noch dazu wunderschön. Danke.
    Dieser “Autismus” ist keiner – sehr gut hier dargestellt. Meinem Sohn durchte ich nie an die Hand nehmen, aber er suchte sich meinen kleinen Fingen und hielt sich fest daran, wenn wir wanderten. Nein, drücken durfte ich ihn nie. Aber es kam vor, dass er sich auf mich legte und so einschlief.
    Ich schreibe bebilderte Familiengeschichte – in Verbindung mit Weltgeschichte bis ins Mittelater reichend; ein schon von der Bebilderung ein ganz ansehnliches Projekt – an die 1000 Seiten. Meine gesunden Kinder (um die 30) haben wenig Zeit für diese Spielart der Freizeitbeschäftigung. Mein behinderter Sohn (25) fragt immer wieder gezielt nach diesem Buch und nach diesem Projekt. Die mentale behinderung läßt ein Eindringen aber nicht zu – das macht mich manchmal schon auch traurig. Aber es gibt ganz andere Probleme bei der Bewältigung des Alltages – lebenslänglich. Danke noch einmal!

  2. Vielen Dank für das schöne Interview.

    Bezüglich der Eingliederungshilfe: Wäre es nicht vielleicht möglich, die Eingliederungshilfe als nachmittägliche Maßnahme zur Unterstützung der Schulbildung zu beantragen? Wie ich es verstanden habe, ist die Unterstützung für die Freizeit einkommensabhängig, aber die Unterstützung der Bildung einkommensunabhängig. In Berlin wird das jedenfalls viel gemacht. Ich glaube, statt SGB XII ,§ 92 Absatz 2 ist das dann SGB VIII, § 35a.

  3. Danke für diese tolle Serie. Danke für den Einblick in das Leben dieser Familie. Hut ab vor dieser Frau mit so viel Liebe, Mut, Kraft und positiver Energie. Es macht mich demütig dem Leben gegenüber und ich bin dankbar für meine zwei gesunden Kinder. Es gibt eben kein Recht auf gesunde Kinder.

  4. Puh..! Respekt, wie reflektiert Frau Borek über die speziellen Anforderungen ihres Alltags berichtet und diesen meistert. Alle guten Wünsche!

  5. Mir haben die Fragen auf dieser Seite gut gefallen. Danke! Ich bin 44, mein Mann 43 und unsere Drillinge Anna, Hannes und Lorenz sind sechs Jahre alt. Anna ist genetisch gesund, die einigen Jungen haben das Fragile X Syndrom. Mir gefaellt an Gesa s Antworten, die normalen banalen Probleme im Alltag, den sie hier gut beschrieben hat. Und einiges an ihrem Alltag als Mutter spiegelt auch meinen Alltag wieder- und auch die wünsche.

    • Liebe Monika, vielen Dank für deinen lieben und fachlich richtigen Kommentar. Genau das hat uns der Anwalt auch geraten. Wir haben es versucht und die Behörde ist unser Begründung, zusätzliche Stunden sind zur Vertiefung des Lernstoffes bzw. aufgrund der Schwäche des Kurzzeitgedächtnisses um Lernverluste in den Ferien zu vermeiden nötig , leider nicht gefolgt. Der Widerspruch lohnte nicht mehr. Lars verlässt die Schule und wird 18. Wir hoffen jetzt auf das persönliche Budget. Damit müsste es möglich sein, ihm mehr Unterstützung zu verschaffen. Wir werden das schon schaffen, zu Lars großem Glück hat er einen tollen Schulbegleiter, der über die Schulzeit hinaus für ihn da sein wird.

  6. hallo! ich “oute” mich jetzt mal als stille leserin.
    ich fand den abschnitt sehr wichtig, in dem gesa über die finanzierung von “menschlicher” unterstützung geschrieben hat. das ist ein punkt, an dem auch ich mich immer wieder gerne aufrege. es ist so traurig in unserer gesellschaft, dass diese hilfen nach dem einkommen der familien berechnet werden und nicht nach ihren bedarfen. als sonderschullehrerin habe ich lange so einen job neben der schule gemacht und ihn aus diesen gründen verloren. die familie wollte keine 300€ für meine arbeit zahlen, nur weil die mutter einen 400€ job angenommen hat. ich musste an der stelle auch einen spagat schaffen zwischen “muss ich für das was mir spaß macht, bezahlt werden oder kann ich das auch einfach so machen?”. ich habe mich gegen das unbezahlte arbeiten entschieden und kämpfe trotzdem noch mit mir. es ist so traurig… für beide seiten. hier muss noch viel passieren, vor allem weil ich es sowohl für die familien als auch für die kinder/menschen mit behinderung so wertvoll sein kann eine unterstützung nach der schulbetreuung zu haben.
    liebe grüße und immer weiter kämpfen! (ich mache mit)
    jule*

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