Das ungeborene Kind ist im Bauch der Mutter gut geschützt. Wir können es nicht sehen, aber ab Mitte der Schwangerschaft durch die Bauchdecke fühlen. Per Ultraschall ist es Ärzt_innen heute möglich, das ungeborene Kind zu untersuchen. Mit Methoden der Pränataldiagnostik kann genetisches Material entnommen und entschlüsselt werden. Mittlerweile reicht ein Tropfen Blut der Mutter, um Informationen über das Kind zu bekommen – auch, welches Geschlecht es haben wird.
Das Ziel aller Untersuchungen und Tests: Ein gesundes, nicht behindertes Kind. Doch nicht allen Kindern wird das prognostiziert. Bei auffälligen Diagnosen müssen sich die werdenden Eltern entweder für das Kind oder für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Und auch wenn das ungeborene Kind das vermeintlich falsche Geschlecht hat, ist in der Schweiz ein Schwangerschaftsabbruch möglich. Nun soll ein neuer Gesetzesartikel eine Geschlechterselektion vermeiden. Werdende Eltern sollen erst nach den ersten zwölf Schwangerschaftswochen erfahren, welches Geschlecht ihr Kind haben wird. In den ersten zwölf Wochen ist ein Schwangerschaftsabbruch in der Schweiz bedingungslos straffrei.*
“Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass eine Frau mit drei Knaben zum vierten Mal ungeplant schwanger wird und sich sagt: «Wenn es ein Mädchen würde, würde ich austragen. Aber einen vierten Knaben will ich auf keinen Fall.» Dies ist für mich ein akzeptabler Grund für einen Schwangerschaftsabbruch”, meint Anne-Marie Rey, eine Schweizer Politikerin und Mutter von drei Kindern. Die Schweizer Zeitung Tagesanzeiger druckte vergangene Woche ein Streitgespräch zwischen ihr und Pascale Bruderer ab. Bruderer ist ebenfalls Politikerin in der Schweiz und Mutter von zwei Kindern. Sie sagt: “Geschlechterselektion ist keine Nebensächlichkeit, sondern eine Menschenrechtsverletzung, wie dies übrigens auch die Pekingdeklaration der Frauen-Weltkonferenz 1995 festhält.”
Beide Frauen zweifeln im Interview das selbstbestimmte Recht auf Abtreibung nicht an. Allerdings stellt Bruderer die Frage, welche Begründungen Schwangerschaftabbrüche rechtfertigen – und welche nicht. Auf Facebook wird das Gespräch der beiden Frauen intensiv diskutiert. Ein Kommentar lautet dort: “Abtreibung ist ein hartes Thema und sollte nur mit medizinischer Indikationen erlaubt sein (sprich eine starke Behinderung des ungeborenen Kindes) und nicht, weil “es gerade nicht passt” oder “man lieber ein Mädchen wolle”. Der Mensch ekelt mich an. So viele Frauen haben einen unerfüllten Kinderwunsch und die da treiben ab, weil statt XX XY ist.” Dieser Kommentar klingt auf den ersten Blick plausibel. Ich frage mich aber: Wo fängt eine starke Behinderung an und wo hört eine leichte Behinderung auf? Wer entscheidet, mit welcher Art der Behinderung ein Leben lebenswert ist und mit welcher Behinderung nicht?

Vor der Geburt von Kaiserin 1 kamen pränataldiagnostische Untersuchungen für mich nicht in Frage. Ein behindertes Kind war bei uns willkommen. In der Schwangerschaft mit Kaiserin 2 entschieden wir uns schweren Herzens und unter geänderten Voraussetzungen für Pränataldiagnostik. Vernachlässigt wird in diesen Diskussionen oft, wie ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wird und wie es den Müttern damit geht. Monika Hey berichtet in ihrem Buch “Mein gläserner Bauch” von der Entscheidung, ihr Kind mit Down-Syndrom abgetrieben zu haben – und diese Entscheidung zu bereuen. Eindringlich erzählt sie in einem Interview, wie sie sich zu diesem Schritt gedrängt gefühlt hat. Wie empfänglich werdende Eltern für Ängste während der Schwangerschaft sind, beschreiben auch Rebecca Maskos und Andrea Trumann in “Diagnose Mensch”.
Dieser Podcast berichtet davon, dass die Entwicklung der pränataldiagnostischen Möglichkeiten nicht mehr aufzuhalten ist. Für viele Krankheitsbilder ist das ganz bestimmt ein Fortschritt. Im Fall von Menschen mit dem Down-Syndrom ist es so, dass sie schon heute systematisch ausgerottet werden, wie der Film “Der Traum vom perfekten Kind” eindrucksvoll zeigt. Diese Entwicklungen stellen uns vor viele Fragen: Wie sieht eine Gesellschaft aus, die aussortiert? Wer sortiert aus und wer wird aussortiert? Wird irgendwann das erhöhte Risiko für Darmkrebs einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen? Und später dann auch die Veranlagung für Akne? Schon jetzt habe ich Momente erlebt, in denen mir das Gefühl vermittelt wurde, mich dafür rechtfertigen zu müssen, Mutter einer behinderten Tochter zu sein.
Was passiert mit Menschen, die zwar gesund und nicht behindert zur Welt kommen, es aber irgendwann im Lauf ihres Lebens werden? Welchen Stellenwert bekommt Gesundheit und zu welchem Preis ist sie zu haben? Sind es die Behinderungen, die uns im Alltag behindern, oder eher die Art, wie die Gesellschaft mit Behinderung umgeht? Ist es der richtige Weg, Behinderungen zu eliminieren – oder sollte vielleicht die Gesellschaft menschenfreundlicher gestaltet werden? Wäre es nicht besser, an einer Gesellschaft zu arbeiten, in der Mädchen wie Jungen gleichermaßen willkommen sind und mit gleichen Chancen aufwachsen dürfen?
Wie viel dürfen Eltern über ihre ungeborenen Kinder wissen und was für sie entscheiden? Was wiegt im Zweifelsfall schwerer: Die Selbstbestimmung der werdenden Mutter oder das Recht auf das Leben des Kindes? Wie kann (Mit-)Menschlichkeit in einer optimierten Gesellschaft aussehen? Welches Leben ist lebenswert? In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?
Ich habe darauf keine allgemein gültigen Antworten, vermutlich gibt es sie auch gar nicht, denn es gibt so vielfältige Situationen wie Menschen. Aber ich finde es wichtig, sich diesen Fragen zu stellen.
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*In Deutschland gilt seit Ende 1995 die eingeschränkte Fristenregelung. Nach § 218 des Strafgesetzbuchs ist der „mit Einwilligung der Schwangeren“ von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch erlaubt, wenn er eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands der Schwangeren abwendet, und die Gefahr nicht auf andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.
Wer darf leben? ist das mit dem Grimme Online Award nominierte ZEIT Dossier zum Thema.
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