Meine Geschichte fängt bei Facebook an. K. schreibt: „Jemand Platz für zwei junge Syrerinnen zum Schlafen und Duschen bis Sonntag?“ Wir sind gerade in Hamburg, im Urlaub, unsere Wohnung ist frei und ich antworte: „Unsere Wohnung ist noch bis Sonntag frei“. Einige Stunden später schreibt K., dass sie bereits über Twitter eine Unterkunft für die Frauen gefunden hat. „Kann ich sonst noch was tun?“ frage ich. „Melde dich in der Facebook-Gruppe Moabit hilft an”, rät mir K. – seitdem lese ich mit, wie viele freiwillig engagierte Menschen für ansatzweise menschliche Bedingungen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin sorgen.
Zehn Tage später, wieder auf Facebook. „Es werden dringend Rollstühle am LAGeSo benötigt, um medizinische Notfälle nicht auch noch über das Gelände tragen zu müssen“ schreibt A., die sich seit Tagen für geflüchtete Menschen mit Behinderungen in Berlin engagiert. Wir sind zurück in Berlin, einen Rollstuhl habe ich nicht, aber einen Kinderwagen, den ich eigentlich verkaufen wollte. „Reicht ein Kinderwagen auch?“, frage ich A. „Alles, was du entbehren kannst, hilft – und je schneller, desto besser“, antwortet sie. Am nächsten Tag fahre ich mit dem Kinderwagen, einer Babyschale und Herzklopfen nach Moabit zum Landesamt für Gesundheit und Soziales.
Ich komme fast nicht durch zum Haus R, in dem die Sachspenden gesammelt, sortiert und organisiert ausgeteilt werden. Schon auf dem Weg dorthin werde ich von Familien, die auf dem Rasen campieren, auf den Kinderwagen angesprochen. Nicht mit Worten, mit Gesten. Alle wollen den Kinderwagen und ich denke kurz, ob T. vielleicht Recht hatte mit seinem Einwand, dass es besser sei, den Wagen für 250 Euro zu verkaufen und davon drei Buggys zu kaufen. „So kannst du mehr Menschen helfen“, meinte er. „Je schneller, desto besser“, dachte ich und bin jetzt nur mit einem Wagen da. Ich winke den Familien traurig ab. Vor dem Haus R frage ich eine Helferin, ob es in Ordnung sei, wenn ich den Kinderwagen einer Familie auf der Wiese gebe. „Nein, bitte erstmal alles hier ins Haus“, sagt sie. „Wir verteilen das dann, es soll alles gerecht verteilt werden“. Für Gerechtigkeit bin ich, aber in diesem Fall tut sie mir weh.
Auf dem Platz vor Haus R herrscht trubelige Geschäftigkeit. „Russisch! Spricht jemand Russisch?“ schreit ein Mann in blauem T-Shirt und ich erschrecke mich, so laut. Wenig später: „Arabisch! Wir brauchen jemanden, der Arabisch spricht und zum Krankenhaus fahren kann.“ Ich gehe zum Mann in Blau und frage, ob auch nur zum Krankenhaus fahren reicht. Es reicht nicht, ein_e Übersetzer_in wird gesucht.
Die Blicke der Familien, denen ich den Kinderwagen nicht gegeben habe, lassen mich nicht los. Ich gehe ich zur Helfer_innen-Anmeldung. „Kann ich etwas tun?“ frage ich. „Ja, jede Menge“, strahlt mich L. an – ihr Name steht auf dem Klebestreifen auf ihrem T-Shirt. L. erklärt mir, dass gleich die Essensausgabe beginnt, dass ich meine Hände desinfizieren, Handschuhe anziehen und mich in der Schlange vor dem Catering-Wagen anstellen soll. „Und immer zu zweit gehen, nicht alleine“, ruft L. mir hinterher. Ich trage jetzt auch ein Klebeschild mit meinem Namen.
In der Schlange lerne ich E. und M. kennen. E. ist den zweiten Tag hier, M. hilft seit über einer Woche. „Ich bin jeden Tag hier“, sagt er. „Es gibt so viel zu tun.“ Schnell werden E. und ich eine Arbeitsgruppe, sie erklärt mir, was wichtig ist. „Die sollen sich das Essen nicht selbst nehmen, wegen eventueller Krankheiten“, sagt sie und meint mit „die“ die geflüchteten Menschen. Wenig später laufen E. und ich über den Platz vor dem LAGeso, meine Hände schwitzen in den zu engen Handschuhen, E. trägt einen Kasten gefüllt mit mehreren Schalen Eintopf und Brot vor ihrem Bauch. Einzelne Männer kommen auf uns zu und ich kann gar nicht so schnell die Schalen rausgeben, wie sie sie sich selbst herausnehmen wollen. E. ist routinierter, spricht auf Englisch, hält die Menschen freundlich auf Abstand. „Halt nach Frauen und Kindern Ausschau“, weist sie mich an, „die kommen meistens nicht von alleine zu uns”. Ich gebe die Schalen an Kinder, die manchmal nicht größer sind als meine kleine Tochter. Nach wenigen Minuten ist unser Kasten leer, wir holen einen neuen und stehen wieder in der Schlange. E. ist eigentlich Sozialarbeiterin und wartet gerade darauf, dass ihr neuer Job im September beginnt. Ich fühle mich ein bißchen wie ihre Praktikantin; dafür genügt es, dass sie einen Tag länger hier ist als ich. Das genaue Hinschauen fällt mir schwer. Es ist ein Unterschied, diese Bilder in Zeitungen zu sehen – oder ein Teil des Bildes zu sein.
Bei der zweiten Runde trage ich den Kasten mit Essen und E. verteilt die Schalen. Ich sehe hungrige Augen und immer, wenn E. den dankbaren Menschen „Enjoy!“ mit auf den Weg gibt, muss ich den Kloß in meinem Hals herunterschlucken. Ich sehe Familien, die nichts mehr haben als eine Plastiktüte mit eigenen Sachen und die Decke, auf der sie sitzen. „Menschen, deren Zuhause eine Decke ist“, twittere ich am Abend, als mich die Bilder nicht loslassen wollen. Bei Facebook lese ich, dass das Kurz & Klein, ein Kinderladen in meinem Kiez, einen Raum für die Spendensammlung zur Verfügung gestellt hat. Ich nehme Kontakt auf und wir vereinbaren, dass ich am nächsten Tag Sachspenden dorthin fahre, wo sie gebraucht werden.
Am nächsten Morgen im Kurz & Klein treffe ich Lisa, die die Sammlung koordiniert und den Überblick hat, wo was gebraucht wird. Decken und Kinderwagen sind für das LAGeSo, der Rest für die Notunterkunft in Wilmersdorf. „Die brauchen dort gerade wirklich alles“, sagt Lisa und während sie die Sachen im Lagerraum sortiert, kommen ihr die Tränen. „Es ist so ätzend, was da gerade passiert“, seufzt sie. Wir erzählen uns von unseren Erlebnissen, von unseren Bildern im Kopf. Familien, die mit ihren kleinen Kindern draußen schlafen müssen. Menschen, die ohne die ehrenamtlichen Helfer_innen vor dem LAGeSo vielleicht schon verdurstet oder verhungert wären. Währenddessen kommt eine junge Frau rein, voll bepackt mit großen Reisetaschen. „Braucht Ihr noch Spenden?“ fragt sie. Als ich mit dem Auto losfahren will, schaue ich in den Rückspiegel. Ich sehe kein Stück Straße, nur Kinderwagen, Taschen, Koffer, Decken, Spielzeuge und Tüten. Als ich die Sachen in das Lager beim LAGeSo bringe, treffe ich E. wieder, die heute die Sachspenden sortiert. Bei der Essensausgabe sehe ich eine Frau, die auf einem Turnschuh sitzt. Manchmal ist das Zuhause eines Menschen noch weniger als eine Decke.
Am Wilmersdorfer Rathaus angekommen, begrüßt mich am Eingang der Notunterkunft ein junger Mann einer Security-Firma. „Du kannst bis hier an die Schranke ranfahren“, rät er mir. „Dann musst du nicht so weit tragen“. Als er sieht, wie voll das Auto ist, bietet er mir seine Hilfe an. Gemeinsam tragen wir alles zur Spendenannahme, wo mehrere Helfer_innen alles sortieren. Für jede Spende höre ich ein „Danke“, beim LAGeSo und auch hier in Wilmersdorf. Nachdem alles ausgeladen ist, frage ich am Infostand im Hof des Rathauses, ob noch Hilfe gebraucht wird. „Unbedingt“ sagt die Frau, auf deren T-Shirt-Klebeschild ihr Name steht, K. „Wir brauchen immer Hilfe, geh am besten in die Kleiderkammer, dort ist jetzt Ausgabe“ schickt sie mich über den Hof.
Vor der Kleiderkammer angekommen warten bereits einige Menschen auf Einlass. Das Klebeschild mit meinem Namen ist hier die Eintrittskarte. Erst stehe ich etwas verloren herum, dann frage ich eine junge Frau – auch sie trägt ihren Namen auf einem Klebestreifen. S., die eigentlich Psychologie studiert, weiß was zu tun ist. „Vorne kommen die Leute rein und du führst sie durch. Das ist notwendig, damit nicht einige Menschen ganz viel nehmen und andere nichts mehr bekommen. Jeder darf sich ein Teil nehmen, also ein Oberteil, eine Hose, ein Deo, ein Shampoo.“ Vier Räume des Wilmersdorfer Rathauses sind vollgestopft mit gespendeter Kleidung, Taschen und Hygiene-Artikeln. “Hosen, Größe 92-104” steht auf einem Regal, “Kleider bis über den Po”, auf einem anderen. Ich versuche, mir in kurzer Zeit einen Überblick zu verschaffen und scheitere.
Die ersten Menschen, die ich durch das Kleiderlager begleite, durch das ich selbst noch nicht durchsteige, ist eine 4-köpfige Familie. Zwei Kinder, circa zwei und vier Jahre alt. Ein Helfer, auf dessen Namensschild ich nicht schaue, weil keine Zeit dafür ist, erzählt S., dass der größere Junge behindert ist und unbedingt einen Kinderwagen braucht. Im Moment hockt er noch auf der Hüfte des Vaters, sein kleiner Bruder auf der Hüfte der Mutter. „Ich habe gerade einen Kinderwagen in die Spendenannahme gebracht“, sage ich S. und dem Helfer und hoffe, dass der Wagen noch da ist.
Ich suche nun Kinderkleidung für die beiden Jungen raus. Der Familienvater deutet auf die Anziehsachen seines kleinen Sohnes und sagt: “Only clothes we have“. Ich frage S., ob ich von der „Ein Teil für jeden“-Regel in diesem Fall eine Ausnahme machen darf. „Klar!“ sagt sie. Es gehe nur darum, dass für alle, die etwas brauchen, auch etwas da ist. Wenig später verstehe ich, warum es diese Regel überhaupt gibt. Ein Mädchen kommt in die Kleiderkammer und wird wieder rausgeschickt. „Sie ist jetzt schon zum vierten Mal heute hier und hat jedes Mal was mitgenommen. Wenn wir ihr aber immer etwas geben, bekommt vielleicht irgendwann jemand, der es nötiger braucht, nichts mehr“ erklärt S., der es sichtlich schwer fällt, das Mädchen wieder wegzuschicken. Eine andere Helferin, „Hindi“ und „Englisch“ und ihr Name stehen auf ihrem Klebeschild, sagt: „Wenn das der einzige Spaß von dem Mädchen im Moment ist, hier Sachen abzustauben, dann lass sie doch“ und ich denke einen kurzen Moment, dass sie Recht hat.
Den jungen Eltern meiner Familie zeige ich einige Oberteile für ihre Söhne, die ich in den Regalen gefunden habe, während andere Helferinnen für andere Menschen andere Anziehsachen in anderen Größen suchen. Es ist ein emsiges Gewühle und erinnert an einen Flohmarkt. Die junge Mutter spricht kein Englisch, zeigt mir aber deutlich, was ihr gefällt und was nicht. Sie will ihren Kindern nicht irgendwas anziehen – und ich bewundere sie dafür. Sie erträgt diese würdelose Situation mit Würde und ich fühle mich falsch, ihr die Sachen für ihre Kinder rauszusuchen.
Der große Sohn kann nicht laufen, sein Vater hält ihn an den Händen oder auf dem Arm. Von dem Helfer, der jetzt endlich mit dem Kinderwagen wieder da ist, erfahre ich, dass der große Sohn mehrere gesundheitliche Beeinträchtigungen hat und auch in der letzten Nacht Probleme mit der Atmung hatte. Für die gesamte Notunterkunft gibt es einen Arzt. Ich weiß nicht, ob er den Jungen überhaupt schon gesehen hat.
Im Kinderwagen kann der 4-Jährige einigermaßen sitzen. Ich denke daran, wie wir die Hilfsmittel für unsere behinderte Tochter ausgesucht haben, nach welchen Kriterien. In einem Sanitätshaus wurde der Kinderwagen an meine Tochter und ihre Bedürfnisse angepasst. Hier sind wir nun froh, dass der Junge gerade so mit seinem Kopf unter das Dach des Wagens passt und seine Beine irgendwie auch. Seine Mutter setzt ihren kleinen Sohn gleich daneben, der kleine Junge lacht vor Freude.
Nachdem wir für beide Jungen Anziehsachen gefunden haben, geht es um die Mutter. Ich präsentiere ihr Oberteile und Kleider, doch sie schüttelt den Kopf und zeigt mit ihrer Hand von der Mitte ihres Armes zum Handgelenk. Sie deutet mir, dass sie langärmelige Kleidung sucht. Sarah ruft mir aus dem Raum mit den Hygiene-Artikeln zu: „Das ist gerade ganz oft ein Problem. Sie ziehen ja alle nur langärmelige Kleidung an, die meisten Spenden sind aber kurzärmelig.“ Daran habe auch ich nicht gedacht, als ich meine Sachen für die Menschen vor dem LAGeSo und in den Notunterkünften gepackt habe.
Als ich mich am Infostand abmelde, steht ein neuer Helfer neben mir, er ist gerade angekommen und fragt K., was zu tun sei. „Ich kann ein bißchen Arabisch sprechen“, sagt er schüchtern. K. klatscht in die Hände: „Dich schickt der Himmel!“ freut sie sich und bereitet einen Klebestreifen für den neuen Helfer vor. „Arabisch“ schreibt sie drauf.
Nach diesen Tagen weiß ich nicht viel. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, nur ein Oberteil und eine Hose für das eigene Kind zu haben und auch für sich selbst nicht mehr. Ich weiß nicht, wie es ist, mit einem gehbehinderten 4-jährigen Kind flüchten zu müssen, ohne Kinderwagen. Ich weiß nicht, wie es ist, nicht mehr selbst für das eigene Kind sorgen zu können, ständig auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein. Ich weiß nicht, wie es ist, draußen schlafen zu müssen, tagelang auf eine Registrierung warten zu müssen. Ich weiß nicht, wie sich echter Hunger anfühlt. Das alles weiß ich nicht – aber ich habe es gesehen.
“Wenn jemand ungerecht behandelt wird, musst du etwas tun”, so wurde ich erzogen. Früher dachte ich, aus dieser Überzeugung werden Menschen Politiker_innen. Ich habe noch nie so viel Ungerechtigkeit an einem Ort gesehen, wie in diesen Tagen vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales. Ich weiß nicht viel. Ich weiß nur, dass etwas getan werden muss.
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