Text: Liz Birk-Stefanovic (Kiddo the Kid)
„Nee. Die sieht nicht behindert genug aus. Man muss sehen, dass die behindert ist. Aber kein Rollstuhl. Rollstuhl ist so Klischee.“
„Wie wär’s mit blind?“
„Hatten wir schon.“
„Spastiker?“
„Nicht Dein Ernst.“
Während meine Kollegen angestrengt auf ein paar Farbdrucke starren, starre ich angestrengt auf meine Kollegen. Der Kunde, an dem wir uns seit Wochen die Zähne ausbeißen, ist eine gemeinnützige Organisation für Menschen mit Behinderung. Und an diesem Tag in der Werbeagentur scheint es mir, als könnten wir genauso gut Werbung für sechsköpfige Amöbenwesen aus der zwölften Dimension versuchen. Von denen haben wir genauso wenig Ahnung.
Der zitierte Dialog war nicht der erste dieser Art, den ich mitgehört habe – aber es war der erste, der mich richtig sauer macht. Weil ich nur wenige Tage vorher nämlich wirklich eine Begegnung der dritten Art hatte: Mit Kaiserin 1.
Es ist ja nicht so, dass ich in meinem Leben noch nie behinderte Menschen gesehen hätte. Habe ich. Wie die meisten von uns. Und wie die meisten dachte ich über diese Menschen nicht als „Wir“, sondern als „Die“. Nicht, weil ich so bösartig bin – sondern weil es unserer nicht-inklusiven Gemeinschaft der unhinterfragte Standard ist. Diese Leute mit ihren sperrigen Gefährten und seltsamen körperlichen Funktionen und Nicht-Funktionen. Befremdet bis peinlich berührt hat mich das oft. Weil ich nicht wusste, wie ich reagieren, was ich sagen oder tun oder nicht tun soll. Auf die Idee, einfach erstmal gar keinen Unterschied zu machen, kam ich nicht. Bis mir ein schlafendes kleines Kind meine eigene Beschränktheit vor Augen führte.
Der Tag, an dem ich Kaiserin 1 treffe, ist für mich ein bißchen aufregend. Ich kenne Kaiserin 1 bisher nur in Textform und habe absolut keine Ahnung, was ich denn mit ihr „machen“ soll, wenn ich ihr im wirklich Leben begegne. Weil sie doch nicht gehen kann, mich nicht hören kann, sehen auch nicht so richtig. Als ich in dem Café ankomme, in dem wir uns verabredet haben, sind die Kaiserinnen schon da. Kaiserin 1 schläft gerade. Und fährt damit sehr ausdauernd fort, während Mareice, Kaiserin 2 und ich leckeres Zeug essen und ein bißchen Eiscreme auf die Sitzpolster tropfen. Meine anfängliche Verlegenheit ist mit dem Eis in der warmen Augustsonne geschmolzen. Dann möchte Kaiserin 2 noch eine Kugel, aber selbst aussuchen an der Theke. Mareice bittet mich, ein Auge auf Kaiserin 1 zu haben, während sie drinnen beim Aussuchen hilft. Ich müsse nichts machen, sagt Mareice. Nur auf den Knopf am Monitor drücken, falls er piept. Und wenn er nochmal piept, Bescheid sagen. Der kleine Monitor hängt an Kaiserin 2 dran und überwacht die Sauerstoffversorgung. Hoffentlich piept er nicht.
Ich sitze also allein mit der schlafenden Kaiserin 1 vor dem Café. Menschen laufen vorbei. Andere sitzen an den Nachbartischen. Einige schauen Kaiserin 1 lange an, dann mich. Ich habe das Gefühl, Kaiserin 1 vor diesen Blicken beschützen zu müssen. Bestimmt sind die Blicke nicht böse gemeint. Aber sie schläft doch so friedlich. In diesem Moment wird Kaiserin 1 unruhig. Auf dem Monitor tut sich etwas, aber er piept nicht. Vielleicht träumt sie nur schlecht, keine Ahnung. Kurz bin ich versucht, Mareice von drinnen zu rufen, besinne mich dann aber auf meinen gesunden Menschenverstand. Was tue ich, wenn meine eigene Tochter unruhig schläft?
Vorsichtig schiebe ich meine Handfläche unter die von Kaiserin 1. Ihre kleine warme Hand auf meiner, die Fingerspitzen zucken leicht, es kitzelt. Ich schließe sachte meine Finge um ihre. Es ist jemand hier, Kind. Ein großer Mensch gleich neben Dir, der Deinen Schlaf bewacht. Es ist in Ordnung. Die strampelnden Beine beruhigen sich, auch der Atem. Wenig später schläft Kaiserin 1 wieder ganz fest und ich ziehe meine Hand langsam weg. Als Mareice mit Kaiserin 2 aus dem Café kommt, bin ich noch ganz woanders mit dem Kopf. Meine Gedanken formen sehr langsam eine große, für mich überraschende Erkenntnis: Kaiserin 1 ist in allererster Linie ein Kind. Einfach ein Kind. Eines, das lacht, weint, unruhig schläft. In ihrem schlichten Kindsein, ihrer Essenz, unterschiedet sie sich nicht von meiner Tochter. Komisch, dass es so lange gedauert hat, bis ich das mit dem Herzen begriffen habe.
In den folgenden Tagen denke ich oft über Inklusion nach. Ein Begriff, den ich zwar schon oft gehört, aber in seiner Konsequenz nicht verstanden habe. Inklusion bedeutet auch: Eine Gesellschaft muss es ertragen, dass nicht alle ihre Mitglieder vollständig „funktionieren“. Eine Gesellschaft, die sich menschlich nennen will, muss das aushalten können. Je mehr ich nachdenke, umso wütender macht es mich, wie Menschen in ihrem Wert nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beurteilt werden. Jemand ist zu krank, zu depressiv, zu alt? Vielleicht so schwer behindert, dass er niemals seinen Beitrag zu Bruttosozialprodukt leisten wird? Ganz schlecht!
Am Ende des Tages könnte jeder von uns jederzeit Inklusionsbedarf haben. Mit einer kapitalmarktrelevanten Behinderung wird man ja nicht unbedingt geboren. Vielleicht falle ich morgen von der Kellertreppe und breche mir das Rückgrat. Vielleicht erwischt mich eine schwere Psychose und ich bin für immer arbeitsunfähig. Vielleicht gehöre ich von jetzt auf gleich nicht mehr zu „Uns“, sondern zu „Denen“. Weiß man nicht.
Meine Kollegen diskutieren derweil immer noch über die optische Zumutbarkeit einer blinden Frau ohne dunkle Brille. Ich seufze innerlich ganz laut. Ich will jetzt keine Grundsatzdiskussion führen. Wirklich nicht. Die meinen es ja auch nicht böse. Aber ich will auch nicht stillschweigend anhören, was die da reden. Auf irgendeinem Kalenderblatt bei meiner Oma in der Küche steht, man solle die Veränderung sein, die man sich wünscht in der Welt. Gandhi oder so. Ich räuspere mich laut. Und erzähle von Kaiserin 1.
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