Name: Ellen
Alter: 43 Jahre
Mutter von: einem Mädchen (7 Jahre alt)
Beruf: Designerin
Berufung: Sinnvolles tun.
Wir wohnen in einer zentralen Berliner Stadtwohnung ohne Balkon, mit Spielplatz vor der Tür, in einem Haus mit extrem netten Menschen.
Wie war dein Leben, bevor dein Kind kam?
Ich denke, es hatten eher andere Dinge Priorität als heute. Ich habe viel und oft lange in den Abend hinein gearbeitet — unter anderem für Werbeagenturen, Design- und Architekturbüros. Auch viel — aus heutiger Sicht betrachtet — sinnfreie Arbeit gemacht. Heute hat sich mein Schaffen in eine andere Richtung verschoben.
Früher war ich privat für mich selbst verantwortlich. Und vielleicht nicht so organisiert wie heute. Man lernt als Eltern sehr viel Organisation. Allerdings war früher auch viel mehr freie Zeit zur Verfügung. Die Freizeitgestaltung hat auch eine wichtige Rolle gespielt: Wann trifft man wo welche Freunde und wie gestaltet man sein Wochenende? Was gibt’s Neues im Theater, Konzert, Kino, welche Ausstellungen möchte man besuchen? Berlinleben eben.
Die Zeit vor der Einschulung unseres Kindes hat die Organisation (vielleicht ehrlicher: der Kampf) einer inklusiven Regelbeschulung unseren Alltag dominiert. Seit dem Schuleintritt vor zwei Jahren führen wir endlich keine stundenlangen Gespräche mehr mit irgendwelchen Ämtern, Senatsleuten, sonderpädagogischen Koordinierungsstellen, Schulhelfer-Vereinen… — unser Alltag hat sich insofern „normalisiert“, wie er sich vermutlich für eine Familie mit keinem „gewöhnlichen“ Kind „normalisieren“ kann und meine Arbeit gewinnt wieder an Gewicht. Wir können auch einfach nur mal entspannt Familie sein — oder am Abend auch mal wieder mit Freunden auf ein Bier in die Eckkneipe gehen.
Allerdings gibt es im Alltag noch immer sehr viel „behindernde Bürokratie“, die nicht sein müsste! Die Ablehnungsbescheide der Krankenkasse für die Hilfsmittel, die das Kind dringend benötigt, bleiben für Eltern von Kindern mit Behinderung ja als zusätzliches To Do bestehen. Das wird sich in absehbarer Zukunft vermutlich auch nicht ändern.
Und für eine inklusive Beschulung bezahlt man als Eltern ebenfalls seinen Preis, kümmert sich um Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein sollten.
Wann hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?
Irgendwann im Laufe der ersten Wochen war klar, dass mit den Augen unseres Kindes etwas nicht “in Ordnung” ist.
Die Blindheit hat sich aber erst nachweisen lassen, als unser Kind ein Jahr alt war. Es war eher eine „schleichende“ Diagnose von schlecht sehen können bis dann letztendlich Blindheit auf dem Papier stand. Anfangs bestand möglicherweise noch ein kleiner Sehrest.
Inwiefern ist dein Kind behindert und was bedeutet das für dich?
Meine Tochter ist ein sehr neugieriges, humorvolles, manchmal auch besserwisserisches blindes Mädchen. Ein tolles Mädchen!
Blind zu sein bedeutet oft große Unbequemlichkeit. Unsere Welt ist für Sehende gemacht. Das fällt erst auf, wenn man einen blinden Menschen kennt oder mit jemandem zusammenlebt. Wir merken das täglich. Scheinbar kleinste Kleinigkeiten werden zur „Behinderung“: Wenn statt Knöpfen an Geräten ein flaches Display angebracht ist oder Tasten nicht mit Punktschrift versehen sind. Wenn die einfahrende U-Bahnlinie nicht genannt wird, in Bus oder der Bahn die Haltestellen nicht angesagt werden, wenn es überhaupt keine Kinderbücher zu kaufen gibt, die blinde Kinder betrachten oder lesen können. Wenn im Supermarktregal kein einziges Produkt für blinde Menschen erkennbar ist.
Ich könnte Hunderte von Beispielen aufzählen. Meist könnte man aber mit wenigen, oft einfachen Änderungen Barrieren abbauen, also Normalität schaffen. Es kann in der Gesellschaft ein Bewusstsein für Barrieren wachsen, wenn sie benannt würden.
Wie erklärt man also seinem blinden Kind die Welt, wenn alles visuell, aber nicht begreifbar ist?
Deshalb ist auch nicht die Behinderung meiner Tochter das, was schwer wiegt, vielmehr ist es für mich die Gesellschaft/Politik, die die eigentliche Behinderung hat. Auch sie ist es, die mein Kind behindert und nicht andersherum. Es geht ja bei allem auch immer um die Haltung, die man einnimmt. Die müsste sich in unserem Land grundlegend ändern.
Und viel mehr Eltern behinderter Kinder sollten auch für sich und ihre Kinder selbstverständlich einfordern, was Kindern ohne special needs zusteht.
Die größte „Behinderung“ für uns, die absolut unnötig ist, ist die der Barrieren, die man täglich überwinden muss im Alltag in Bezug auf Bürokratie, Ämter, Schule und Krankenkassen. Sich zum Beispiel rechtfertigen zu müssen, warum man auf die Idee kommt, sein Kind in die gleiche Schule wie seine Freund*innen geben zu wollen.
Es ist ein Teufelskreis: Unglückliche und frustrierte Eltern durch Barrieren der Bürokratie, die Steine in den Weg legt und uns kaum unterstützt. Dabei haben unsere Kinder glückliche und fröhliche Eltern verdient!
Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welches der anstrengendste?
Ich finde die Abholung meines stolzen Schulkindes von der Schule einen wunderbaren und noch immer ganz ungewohnten Moment, den ich noch ganz lange genießen möchte.
Eher anstrengend ist es oft am Morgen, weil man fast immer zu spät dran ist und das Kind natürlich viel lieber trödelt und noch spielt, als sich anzuziehen. Aber eigentlich freue ich mich jeden Tag über mein tolles, humorvolles und schlaues Kind!
Es gibt natürlich Tage — und die kennen vermutlich alle Eltern — wenn man selber müde ist, kraftlos und eigentlich nur schlafen möchte. Man aber nicht kann, weil das Kind Betreuung braucht.
Manchmal finde ich es anstrengend, von fremden Menschen angestarrt zu werden. Die Leute sind nicht daran gewöhnt, ein Kind mit Langstock auf der Straße anzutreffen. Deshalb glotzen sie. Vermutlich auch, weil Menschen einfach neugierig sind. Nervt aber trotzdem manchmal. Kinder fragen oft, Erwachsene eher selten. Man hat als Familie mit blindem Kind genauso das Bedürfnis, nur eine ‘ganz normale’ Familie zu sein.
Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert?
Mein Mann bringt unsere Tochter zur Schule. Dort hole ich sie dann ab. Das hat sich mittlerweile so eingespielt und bewährt. An einem Tag in der Woche wechsle ich mich mit einer anderen Mutter ab, unsere Kinder abzuholen und mit nach Hause zu nehmen. Das ist Arbeitsteilung und Entlastung für beide Mütter. Meistens dann auch ein längerer Arbeitstag für eine von uns.
Wie sieht dein Arbeitstag aus?
Mein Arbeitstag beginnt um acht Uhr und endet meist gegen 15 Uhr, wenn keine Termine anstehen. Dann hole ich unsere Tochter ab. Als freiberufliche Designerin kann ich mir die Zeit mittlerweile relativ flexibel einteilen.
Mit unserem Verein Anderes Sehen, den mein Mann und ich 2011 gründeten, hat sich mein Arbeitsfeld extrem erweitert — mit ebenso großen Herausforderungen. Job und Familie sind nun auch immer irgendwie miteinander verwoben und wenn wir mal wieder an einem Buch (nicht nur) für blinde Kinder arbeiten, ist unsere Tochter die Fachfrau und darf ebenfalls mitarbeiten.
Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben?
Ich finde es schwierig zu definieren, wie viel „Zeit für mich“ ich habe oder mir nehme. Das lässt sich schwer messen.
Mit dem größer werden des Kindes hätte man vermutlich stetig wieder ein klein wenig mehr „Zeit für sich“ zur Verfügung — die man dann aber doch wieder für die Familie oder das Kind oder den Verein „nutzt“. Das geht vermutlich vielen Müttern und Vätern so: Wieder lernen, sich mehr Zeit für sich selber zu nehmen, mehr Zeit für Beziehung, wieder Zeit für Freundschaften… Es fällt ja ein großer Teil Selbstbestimmtheit erst einmal weg, wenn man Kinder hat und bei Eltern mit Kindern, die etwas mehr Aufmerksamkeit benötigen, geht enorm viel Zeit zudem für Bürokratie, Krankenkassen und Anträge drauf.
Sich aber irgendwann doch wieder ein bisschen Zeit für sich selbst zurückzuerobern – fernab von Job und Verein – braucht Geduld und den Willen dazu.
Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?
Zweimal NEIN. Wir leben in einem der reichsten Länder der Erde, aber wie viel gibt Deutschland für die Bildung im allgemeinen und ein gleichberechtigtes Leben von Menschen mit Behinderung aus?
Wie weit unterstützt Deutschland/die Politik/die Gesellschaft das Vorankommen der Inklusion?
Um kleiner zu denken mit dem Beispiel Berlin: Der Berliner Senat verspricht Inklusion, streicht aber gleichzeitig Gelder und viele Schulhelferstunden. Das ist mies!
Und was passiert gerade in Bezug auf das Bundesteilhabegesetz und Behindertengleichstellungsgesetz? Die Unterstützung für ein gleichberechtigtes Leben wird immer weniger statt mehr. Teilhabe kann doch nur stattfinden, in dem wir auch für Menschen mit Behinderung mehr Normalität schaffen, damit ein gleichberechtigtes Leben überhaupt möglich ist.
Die Gesellschaft hat noch nicht gelernt, mit Behinderung umzugehen. Sie muss es noch begreifen, dass Behinderungen Teil von uns allen sind. Aber wie denn auch, wenn wir bis dato für Menschen mit Behinderungen eine Parallelwelt geschaffen haben und sie nicht mit einbeziehen. Und warum werten und bewerten wir einen Menschen eigentlich?
Es muss eine Änderung der Haltung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderung stattfinden, ein Paradigmenwechsel. Es gibt noch sehr viele gesellschaftspolitische Hürden abzubauen!
Ich habe einmal das Zitat gelesen: „Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt.“ Es stammt von Gandhi. Dieses Zitat finde ich sehr gut. Denn wenn man nur abwartet, verändert sich auch nichts. Ganz konkret arbeiten wir deshalb an einer Veränderung der Haltung. Mit unserem Verein Anderes Sehen. Die Ursprungsidee war eine Plattform, um unser Wissen zu teilen und anderen Eltern zur Verfügung zu stellen, weil uns selbst etwas in der Art gefehlt hat und wir uns sehr allein gelassen fühlten. Mittlerweile haben wir viel mehr gemacht als das: Wir haben mehrere taktil illustrierte Kinderbücher herausgegeben, Kinderlangstöcke entwickelt, die es bis zum Jahr 2014 noch nicht gab, organisieren Klicksonartrainings für blinde Kinder und Jugendliche, sprechen auf diversen Veranstaltungen und wollen vor allem das Bewusstsein gegenüber Menschen mit Behinderung verändern, die Inklusion vorantreiben, Aufklärung leisten. Wir haben noch einiges vor! Das positive Feedback der Eltern, Kinder, Pädagog*innen und der Gesellschaft ist enorm.
Es ist eine Freude zu sehen, was man mit sinnvoller Arbeit erreichen kann!
Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?
Buntes Miteinander in der Gesellschaft ohne Wertung von Behinderung und Herkunft. Wertschätzung aller Menschen! Menschen mit Behinderung sind Teil unserer Gesellschaft. Auch mit gleichen Bildungschancen. Alle sind dabei! Inklusion bedeutet für mich eine Haltung und ist auch eine Chance für den Menschen, zu wachsen.
Inklusion würde im Schulsport von einem blinden Kind nicht verlangen, vom Ein-Meter-Brett zu springen, wenn es sich nicht traut und ihm dann eine schlechte Bewertung für „Bemühung“ geben. Inklusion heißt für mich deshalb auch: Gesellschaft, berücksichtige Menschen mit Behinderung!
Welche Träume hast du?
Ich habe viel mehr Wünsche als Träume: Unser Kind soll die Möglichkeit bekommen, ein freies und selbstbestimmtes Leben ohne äußere Einschränkungen zu führen. Sie soll sich entsprechend ihren Talenten und Fähigkeiten entwickeln können und dürfen. Sie soll Menschen begegnen, die sie als die sehen, die sie ist und nicht auf ihre Blindheit reduzieren. („If you fail to see the person but only the disability, then who is blind?“) Unsere Tochter soll ihre Neugier und ihren Humor behalten. Ich wünsche mir, dass sie ihr Recht auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmtheit einfordert, ihr „Recht auf Inklusion“. Ich wünsche mir, sie zu einem selbstbewussten Menschen zu erziehen und heranwachsen zu lassen. Sie soll und muss sich für ihre Blindheit nicht schämen oder gar rechtfertigen.
Für unsere Familie wünsche ich mir weniger Barrieren, weniger Zeitaufwand bezüglich der Bürokratie und in Verbindung mit Krankenkassen und Ämtern. Denn das sind die eigentlichen Behinderungen, an denen die Familien mit Kindern mit Behinderung oft verzweifeln oder zugrunde gehen. Statt sich in ihrer sowieso schon eng bemessenen Freizeit mit den Kindern zu beschäftigen, nämlich „Familienzeit“ zu haben, müssen Anträge ausgestellt werden oder sonstige „normale“ Bedingungen geschaffen werden, die Eltern mit Kindern ohne Behinderung ganz selbstverständlich zur Verfügung steht. Solche zusätzlichen Barrieren sind für alle Eltern und Familien sehr kräftezehrend.
Ich wünsche mir für mich, dass ich weiterhin so stolz auf mein Kind sein werde, wie ich es täglich bin. Dass ich mir immer bewusst bin, was sie täglich leistet, um das zu erreichen, was für andere selbstverständlich ist, was andere geschenkt bekommen.
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Herzlichen Dank, liebe Ellen! Noch mehr Mütterfragebögen gibt es hier.
- Und wie machst du das, Julia? - 21. April 2017
- Und wie machst du das, Anne? - 21. Februar 2017
- Und wie machst du das, Elisabeth? - 3. Februar 2017
Danke das war der Artikel den ich gerade gebraucht hab, um mich an Telefon zu setzten und mal wieder mit dem Bezirk zu telefonieren. Unser Sohn ist auch von Geburt an blind und die Einschulung steht 2017 steht vor der Tür. Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch