Und wie machst du das, Anne?

by Kaiserin

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Name: Anne

Alter: 28 Jahre

Mutter von: F (13 Jahre) und J (1 Jahr und drei Monate)

Wir wohnen in Kigali, der Hauptstadt Ruandas.

Beruf: Internationale Zusammenarbeit

Berufung: Anderen und mir selbst Mut machen.

Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?
Ich war so oft ich konnte auf Reisen, viel mit Rucksack und Gitarre in Ostafrika unterwegs. Immer ohne festen Plan, mit einem tiefen Grundvertrauen in das Gute in jeden Menschen, den ich traf. Ich habe viel geschrieben, Musik gemacht, war tanzen und habe Theater gespielt, mich außerdem in einigen „Politgruppen“ gegen gesellschaftliche Gesamtscheiße à la Seximus, Rassimus, Homophobie und so weiter engagiert. Ich war ein bisschen zu sehr Hippie, finde ich heute.

Wie sieht dein Alltag heute aus?
Nicht in Deutschland zu leben macht für mich gerade vieles entspannter. Wenn es auch keine staatliche Unterstützung gibt, sind doch Kinder sehr viel selbstverständlicher überall mit dabei und ich muss mir auch nicht so viele Sorgen um rassistische Kackscheiße machen (mein Sohn ist Schwarz). Hier kann F auf eine internationale Regelschule gehen, was total fetzt.
F braucht viel Struktur, um sich sicher zu fühlen, daher ist vieles sehr viel geplanter als früher, von festen Essens- und Schlafenszeiten bis hin zum „Pizzatag“ (mittwochs) und dem Sporttag (dienstags).
Ich bin radikaler in meinem Denken und oft wütend, wo ich früher versucht habe, zu verstehen. Eher Punk als Hippie quasi.

Wann und wie hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?
F war nicht immer mein Sohn. Ich habe ihn vor fünf Jahren in seinem Herkunftsland Burundi kennengelernt und nach einem langen mühsamen Prozess, gemeinsam mit meinem Partner, vor anderthalb Jahren endlich adoptieren können. Von seiner Behinderung wusste ich also von Anfang an, was Menschen oft zu Kommentaren verleitet, die ziemlich ätzend und respektlos sind: „Aber wieso hast du dir denn kein Normales ausgesucht?“ Das habe ich nicht nur ein Mal gehört. Auch seit J da ist – denn nun läuft da an unserer Hand der Beweis, dass wir doch auch selbst Kinder machen können und „gesunde“ noch zu dazu. Dass Menschen so denken und das dann auch noch aussprechen, erschüttert mich immer wieder.

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Inwiefern ist dein Kind behindert und welche Behinderung wiegt für dich am schwersten?
F ist gehörlos, hat daneben noch „kognitive Entwicklungsverzögerungen“ – durch Unterernährung und Trauma – und „schwere soziale Anpassungsstörungen“ diagnostiziert bekommen. Letzteres finde ich ziemlich problematisch, da eine solche Wortwahl mehr über das System aussagt, als über meinen Sohn. Was damit gemeint ist: F hat die ersten Jahre seines Lebens in seiner biologischen Familie gelebt, die ihn aufgrund seiner Behinderung abgelehnt hat, und dann mit wahrscheinlich sechs oder sieben Jahren Monate – oder Jahre – auf der Straße verbracht. Er hat sehr früh häusliche Gewalt erfahren. Ihm fehlen Urvertrauen und auch das Verständnis für manche Regeln. Es fällt ihm schwer, enge Beziehungen zu Menschen aufzubauen, die er nicht so lange kennt. Er kann sehr stur sein. Veränderungen verunsichern ihn, Konflikten begegnet er oft mit Flucht oder auch Gewalt und Drohungen.

Diese Herausforderungen wiegen sehr viel schwerer als die „offensichtliche“ Behinderung Gehörlosigkeit; ich denke sowohl für ihn als auch für uns. Dass F und auch wir erst seit wenigen Jahren Gebärdensprache lernen und damit auch unsere Kommunikation manchmal noch stockt, erschwert und frustriert zusätzlich. Da er bis zu seinem achten Lebensjahr keine Sprache erlernt hat und nicht bewusst mit ihm kommuniziert wurde, fällt ihm alles was mit Sprache zusammen hängt – Lesen, Schreiben, auch Gebärden – manchmal schwer.

„Eine Mutter liebt am stärksten ihr schwächstes Kind“, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das?
Nein. Liebe zu vergleichen wird ihr nicht gerecht. Liebe hat so unterschiedliche Formen gegenüber unterschiedlichen Leuten: Freund*innen, Partner*innen, Großfamilien, Wahlfamilien. Aber zu meinen beiden Kindern fühlt sie sich tatsächlich sehr ähnlich an.

Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welches der anstrengendste?
Ins-Bett-bringen ist oft anstrengend, F braucht da oft noch viel Beruhigung und Nähe, um einschlafen zu können.
Momente, in denen die Kinder beide glücklich sind und sich freuen; in denen sie mir zeigen, dass sie sich sicher, geborgen und ernstgenommen fühlen, wiegen ganz viele schwierige wieder auf.

Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert?
Mein wunderbarer Partner übernimmt unter der Woche den Großteil der Care-Arbeit. Eine Freundin aus Burundi, die bei uns wohnt, hilft auch viel mit. Sie ist unsere Wahloma und hilft besonders mit J, die noch zu Hause ist, weil Kitas hier zu teuer sind. Wir zahlen ihr dafür auch etwas, aber sie ist in erster Linie Familienmitglied. Und da wir eigentlich fast immer Besuch aus Burundi oder Deutschland haben, ist oft auch jemand anderes da, der uns entlastet. In der Schule ist F von einem Assistenten betreut, die Kosten dafür tragen wir. Da F ja nun mit 13 schon echt groß ist und körperlich inzwischen superfit – er wächst jeden Monat einen Zentimeter und startet gerade in die Pubertät –, fährt er am Wochenende auch oft alleine mit dem Fahrrad durch die Hügel Kigalis und besucht Freund*innen, hauptsächlich Kinder von Kolleg*innen von mir. Das ist wunderbar zu sehen. Wenn er sich nicht gestresst oder unter Druck gesetzt fühlt, klappen solche Besuche und Ausflüge meist ziemlich gut, aber wir sind trotzdem immer abfahrbereit, ihn notfalls irgendwo abzuholen oder zu suchen, wenn er nicht nach Hause kommt. Gleichzeitig ist uns allen wichtig, dass er diese Freiheit hat.

Wie sieht dein Arbeitstag aus?
6:30 Uhr aufstehen, F aufwecken, Frühstück machen, F zur Schule bringen, zur Arbeit fahren. Um 15:30 Uhr hole ich F von der Schule ab und fahre mit ihm zusammen nach Hause. Ich habe auf 80% reduziert, damit ich an seinem kurzen Schultag mit ihm und seinem Papa mittags zusammen essen kann, meistens gehen wir dann in ein Bistro oder so. Wir versuchen, bewusst immer wieder Zeit auch nur mit F zu verbringen, weil seit der Geburt seiner Schwester natürlich viel Aufmerksamkeit – auch von außen – auf ihr liegt.

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Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben?
Zu wenig, wie auch der Papa meiner Kinder. In der Theorie haben wir uns vorgenommen, jede Woche mindestens je einen Abend alleine „kinderfrei“ zu verbringen und auch mindestens einen zusammen „kinderfrei“. In der Realität sind wir gerade oft froh, wenn wir noch ein kleines Bier schaffen, bevor wir erschöpft einschlafen. Aber sowohl mein Partner als auch ich versuchen, alle paar Wochen mal einige Tage ohne Familie unterwegs zu sein.

Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?
Nein. In Deutschland war es super schwierig für F und gerade in der Gehörlosenschule gab es immer wieder Probleme und wir mussten F abholen, was wir nur leisten konnten, weil ich durch J im Mutterschutz war und dann mein Partner nicht lohngearbeitet hat. Die beantragte Schulassistenz wurde abgelehnt, die Familienhilfe bekamen wir nach einem Aufenthalt von F in einer Kinder-und Jugendpsychatrie endlich bewilligt, die Dame konnte aber leider nicht wirklich auf unsere Bedürfnisse eingehen und hat uns auch einmal mitten in einem „Wutanfall“ von F alleine gelassen, was mich sehr wütend gemacht hat. Auch der Platz für eine Ferienfahrt wurde uns eine Woche vor der Abfahrt wieder abgesagt, weil die Betreuer*innen sich das nun doch nicht zutrauen würden. Obwohl ich mich mit Händen und Füßen gewehrt habe, hat F ein Gutachten ausgestellt bekommen, dass ihm attestiert, dass er nur auf einer Gehörlosenschule mit Schulteil für Mehrfachbehinderungen lernen kann. Das bedeutet für unseren geplanten Umzug nach Leipzig, dass er unter der Woche in Dresden im Internat leben müsste, was natürlich seinem Bedürfnis nach einem festen Familiengefüge überhaupt nicht entspricht. Abgesehen davon, dass ich permanent Angst vor rassistischen Angriffen auf ihn hätte. Alle freien Schulen, die ich damals in Dresden angefragt hatte, haben abgelehnt. Ich hoffe, das wird in Leipzig anders und wir finden noch einen Platz.

Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?
Alle Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten haben Zugang zu denselben Räumen – Bildung, Gesundheitssystem, Freizeit, Sexualität – wenn sie das wünschen. Andersartigkeit wird als Bereicherung für alle gesehen, nicht als Belastung.

Bist du die Mutter, die du sein wolltest?
Wollte ich Mutter sein? Nicht zu dem Zeitpunkt, vielleicht nie. F hat eigentlich eher mich adoptiert als andersherum. Er ist einfach nicht mehr aus meinem Leben verschwunden und ich bin ihm heute sehr dankbar dafür.
Ich wünschte, ich könnte spontaner und verrückter sein und mit meinen Kindern ganz viel reisen und ihnen die Welt zeigen. Ich wollte eine unstressige und unaufgeregte Mutter sein, die sich selbst nicht zu wichtig nimmt. Das ist in der Realität nun oft anders. Ich bin davon genervt, mich oft für F „entschuldigen“ oder erklären zu müssen und bin daher oft ziemlich stressig und aufgeregt.

Wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest Du etwas anders machen, als Mutter und/oder als Mensch? 
Wow, was für eine krasse Frage. Ich werde hoffentlich etwas anders machen, das ist einfacher zu beantworten. Ich möchte aufhören, es Leuten bequem und recht zu machen. Ich werde Ablehnungsbescheide genauso wenig akzeptieren wie die mitleidigen und irritierten Blicke und Kommentare, wenn wir gebärden oder weil wir unterschiedliche Hautfarben haben.

Ein Gegenstand Deines Kindes/ Deiner Kinder, den du ewig aufbewahren wirst?

Fs erstes Bild von mir:
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Welche Träume hast du?
In einer Gesellschaft zu leben, die wirklich solidarisch ist. In der Menschen so angenommen und wertgeschätzt werden, wie sie sind. – Ich denke nicht, dass das im Kapitalismus funktionieren kann.

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Herzlichen Dank, liebe Anne! Noch mehr Mütterfragebögen gibt es hier.

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9 Kommentare zu “Und wie machst du das, Anne?

  1. Ich kann das so gut nachempfinden und wünsche mir für die Zukunft, dass wir eine echte Chance bekommen, das Beste aus unserem Leben zu machen. Es gibt hier in Deutschland viele Unterstützungsmöglichkeiten und ich wünsche mir, dass all die (gewollte) Bürokratie, die uns für ihre Inanspruchnahme im Weg steht, abgeschafft wird, das wir statt Bürokratie zu bedienen endlich leben können.

  2. Sehr beeindruckendes Interview!

    Ich wünsche euch und euren Kindern alles Gute, und dass ihr für euren Sohn in Deutschland eine Schule findet, die zu ihm und euch passt. Ich würde mir wünschen, dass bei uns mehr möglich wäre in die Richtung und die Grundeinstellung nicht immer erst mal “Das geht aber nicht” wäre.

  3. Mega klasse! Danke, Anne, für die wundervolle Geschichte. Eine Frage: Muss es Leipzig sein? Kommt nach Köln. Wir könnten gemeinsam punken. Ich wünsch euch alles Allerbeste! Und lasst euch eure Träume nicht kleinreden.
    Große Grüße – Gaby (Exhippie, jetzt Punkoma)

  4. ich lese diese interviews ja immer sehr fleißig, aber dieses hier hat mich ganz besonders gepackt. vielleicht weil anne diese punkig wütende an sich hat, was auch in mir so oft brodelt und sie das nach all den jahren mit und ohne kinder noch nicht verloren zu haben scheint. oder so. mit der würde ich ja jetzt gerne mal nen kaffee trinken gehen *lach* wir sollten alle mehr wütend sein und öfter solch klare, brutale worte finden, wie anne das hier getan hat.
    danke für das interview.
    liebst,
    jule*

  5. Ich bin immer wieder tief berührt, wie stark die Liebe zu unseren Kindern ist, egal ob geboren oder gewählt.
    Es macht mich traurig, zu lesen, mit welchen Ängsten und Mühen diese Familie konfrontiert wurde, und erfreut mich gleichzeitig, wie sie ihr Leben zu viert genau nach ihren Bedürfnissen gestaltet haben, mit so viel Mut und Leidenschaft.
    Eine große Umarmung, ein dickes Lob und viele kleine Herzen von meiner Seite!

  6. Mit Solidarität is nichts. Wird auch nie kommen. Es fängt schon damit an, dass monitärer Mangel dazu führt, dass man als behinderter Mensch gar nicht wahrgenommen wird und dementsprechend keine mediale Aufmerksamkeit erfährt. Es gab und gibt immer Priviligierte, auch unter behinderten Menschen. Das ist die Realität in Deutschland und anderswo.

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