„Dich hätte ich als Role Model gebraucht, als Lotte klein war“ – einer der ersten Sätze meiner Freundin Manu, als wir uns kennenlernten. Sie selbst ist Journalistin, smart, hübsch, schlau, Mutter von zwei Kindern, mit und ohne Behinderung. Ich, ein Vorbild für diese coole Frau? „Warum das denn?“, fragte ich zurück. „Einfach deine Perspektive; das Wissen, dass das Leben nicht vorbei ist mit einem behinderten Kind. Das hätte ich damals gebraucht.“
Und ja, ich wusste sofort, was sie meinte. Auch ich dachte, mein Leben sei vorbei, in den ersten Tagen auf der Intensivstation mit unserer Tochter, zwischen Inkubator und Diagnosesuche. Ich kannte weder behinderte Kinder, noch ihre Eltern. Beim Wort „Selbsthilfegruppe“ bekam ich eine Gänsehaut, in der inklusiven Krabbelgruppe, zu der ausschließlich behinderte Kinder mit ihren Eltern kamen, fühlte ich mich unwohl.
Als ich Ostern 2014 meinen Blog startete, wollte ich vor allem eine Lücke füllen. Was ich im Netz vermisste, schrieb ich selbst hinein. Ich wollte aus dem Leben mit zwei Kindern erzählen, mit und ohne Behinderung – und sagen, was mich bewegte. Zeigen, dass es uns gibt. Neben den Dingen, die uns von anderen Familien ohne behinderte Kinder unterschied, vor allem auch, was uns mit anderen verband. Und auch, dass ich eben noch immer Mareice war.
Der Inhalt des Blogs entwickelte sich zusammen mit unserem (Familien-)Leben. An guten Tagen bloggte ich über meine Lieblingsmusik. Waren wir im Krankenhaus – das waren wir in der Anfangszeit oft – ging es in meinen Texten um die Tage und Nächte zwischen piepsenden Monitoren und Visite. „Wann kommt denn eigentlich die Mutti?“, fragte das Pflegepersonal den Vater meiner Kinder, wenn ich arbeitete und er im Krankenhaus blieb. Denn Berufstätigkeit passt nicht in das Klischee der Mutter eines behinderten Kindes.
Welche politische Relevanz mein Blog hat, merkte ich nach einigen Monaten, als ich immer mehr Reaktionen auf meine Texte bekam. Von anderen Eltern behinderter Kinder, die sich nicht mehr so allein fühlten. Von Menschen mit Behinderung, mit denen ich in Austausch kam. Von Menschen ohne Behinderung, die noch nie etwas zu tun hatten mit Menschen mit Behinderung und durch meine Texte ermutigt wurden, das zu ändern. Und von Menschen, die Menschen mit Behinderung diskriminierten.
Wie lange meine behinderte Tochter denn noch auf Kosten der Steuerzahler leben würde, wurde ich von einem Blog-Kommentator gefragt. „Du schaffst es, dir die Fingernägel zu lackieren?“ schrieb eine Kommentatorin unter ein Foto meiner Hände. Eine andere Kommentatorin gab mir den Rat, meinen Alkoholkonsum doch bitte nicht zu häufig auf meinem Blog zu thematisieren, schließlich ginge es um die Elternschaft eines behinderten Kindes. Eine ernste Sache. Ich versuchte, den Humor nicht zu verlieren – auch nicht, als ich merkte, dass ich zu einer Schablone geworden war, die mir nicht behagte.
Als ich im November 2016 mein Buch veröffentlichte, titelte die Süddeutsche Zeitung über mich: „Die mit dem behinderten Kind“. Ich war also die geworden, die ich nicht sein wollte. Den Blog hatte ich ja gestartet um zu zeigen, dass ich eben nicht „nur“ die Mutter des behinderten Kindes bin. Paradox? Ja – und nein.
Mütter sind in unserer Gesellschaft unsichtbar – bei Müttern behinderter Kinder ist das noch zugespitzter. Sie gehören ans Pflegebett des Kindes, nicht in den öffentlichen Diskurs. In Zeiten von selbstverständlich genutzter Pränataldiagnostik ist es ein Tabu, ein behindertes Kind zu bekommen. Mit diesem Thema an die (digitale) Öffentlichkeit zu gehen, ist nicht gerade cool. Alle Klischees, alle Stigmata, alle Glorifizierungen – sie fanden Platz auf meinem Blog.
Heute zeige ich auf meinem Blog, dass es ganz viele unterschiedliche Vorbilder gibt, an denen sich Mütter behinderter Kinder orientieren können, wenn sie das gerade brauchen. In einer Interview-Serie stelle ich Mütter behinderter Kinder vor, die alle auf ihre ganz eigene Weise zeigen: Das Leben mit einem behinderten Kind ist nicht vorbei und es ist lebenswert.
Für viele ist das ein großer Schritt. Eine Mutter schrieb mir, nachdem ihr Interview erschienen war: „Das war ein Befreiungsschlag. Ich kann endlich dazu stehen, ein behindertes Kind zu haben.“ Ich finde, es kann gar nicht genug Vorbilder geben. Prost!
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Dieser Text erschien zuerst in der Brigitte Mom 03/2017 als Teil des Dossiers “Meine Familie ist anders”.”Wir hätten gern einen Text über Dich als Role Model” lautete die Anfrage, die ich im ersten Moment ablehnen wollte. Den Text konnte ich erst schreiben, nachdem ich eine Überschrift gefunden hatte: “Warum ich kein Role Model sein will”.
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