Vor langer, langer Zeit lebte auf einer wilden grünen Insel ein Mädchen mit langen roten Haaren. Ihr Name war Grace. Wann immer der Wind heulte und die Wellen sich an den hohen Felsen brachen, stand Grace auf den Klippen und träumte davon, über das stürmische Meer zu segeln. “Mädchen fahren nicht zur See”, sagte ihr Vater. “Außerdem würden sich deine langen Haare in den Tauen verfangen.”*

Vor einem halben Jahr war ich mit meiner Tochter beim Frisör. “Ich will die Haare so wie Mama”, sagte sie und die Frisörin schnitt die Haare kurz. Zeiten ändern sich. Mittlerweile geht es meiner Tochter nur noch darum, die Haare so lang wie möglich zu tragen. Wie alle Freundinnen in der Kita, wie die My Little Ponies und vor allem wie Elsa und Anna. (Ja, auch ich dachte irgendwann mal: “Mir kommt nur Holzspielzeug ins Haus!”…)
“Du bist ihre einzige Heldin mit kurzen Haaren”, meinte ihr Vater zu mir. Also habe ich mich auf die Suche nach Heldinnen mit kurzen Haaren gemacht, zuerst in unserem eigenen Bücherregal und als das wenig erfolgreich war, auf Twitter. Das Ergebnis war wenig befriedigend: Heidi, Conni (die aber aus anderen Gründen nicht geht), Annika (von Pipi Langstrumpf, allerdings sind die Haare nicht wirklich kurz und sie nicht wirklich die Heldin), Momo, Lotta (Astrid Lindgren) und Maulina Schmitt (die einzige wirkliche Neu-Entdeckung). Keine wirklich große Auswahl. “Nicht mal bei Haaren ist Vielfalt”, schrieb Melanie dazu.
Ich meine: Haare! Ich spreche ja noch nicht mal von unterschiedlichen Hautfarben, Familienkonstellationen und/oder Behinderungen. Für unsere Kinder wird ein heteronormatives Bild gezeichnet, in Büchern, Filmen und Spielzeug – und anscheinend reicht es dann irgendwann auch nicht mehr aus, selbst ein Vorbild zu sein, das etwas aus der Rolle fällt.
Und es geht ja auch einfach so weiter, vom Bilderbuch zum Frauenmagazin. “Warum sehen wir so gut wie keine Deutschen mit Migrationshintergrund in den Magazinen? Warum keine anstrengenden, fordernden Persönlichkeiten?” fragt Silke Burmester in der SZ: So rückständig ist das Frauenbild in deutschen Magazinen. Das immer wieder produzierte Bild: Mädchen und Frauen* sollen sich kümmern, um andere und um ihre eigene Schönheit. Lange Haare kämmen inklusive.
Die Geschichte von Grace, dem Mädchen mit den roten Haaren und der Sehnsucht nach dem Meer, ging übrigens so weiter: Aus Protest schnitt Grace sich die Haare kurz und zog Jungenkleider an, um ihrer Familie zu beweisen, dass sie sich sehr wohl für das Leben auf der See eignete. (…) Grace war eine fähige Seglerin und beschloss, Piratin zu werden. Sie war so erfolgreich, dass sie bald nicht nur eine ganze Schiffsflotte besaß, sondern auch mehrere Inseln und Burgen an der Westküste Irlands. Grace war die erste Piratin und gilt bis heute als “Königin der Meere”.

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* Auszug aus “Good Night Stories for Rebel Girls”, erschienen bei Hanser Literaturverlage.
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