
Als ich erfuhr, dass meine Tochter einen seltenen Gendefekt hat, der sie zeitlebens zu einer pflegebedürftigen Person werden lässt, da habe ich Trauer gespürt. Als ich gemerkt habe, mit wie viel Kraftakten, Ausdauer und Stolpersteinen unser Weg gepflastert ist, da habe ich sie gespürt, die Wut, die mich fortan treiben würde. Die Wut, die mich Anrufe tätigen ließ, bei denen ich genervte Sachbearbeiter*innen anschrie, die Wut, die es mir ermöglichte, stundenlang herum zu telefonieren, um Termine für die verschiedenen Therapien, beim Facharzt, in der Fachklinik, zur Hilfsmittelanpassung, beim Jugendamt, der Inklusionskita, der Frühförderung zu vereinbaren. Die Wut, die ich in mir trug, als ich den Schwerbehindertenausweis erneut beantragen musste, weil wir kein “außergewöhnlich Gehbehindert” darauf stehen hatten, obwohl mein Kind nicht einmal sitzen, geschweige denn krabbeln oder laufen kann.
Zwei Jahre später ist von der Wut wenig geblieben und an ihre Stelle ist kalte, graue Resignation getreten. Resignation nicht gegenüber meinem Kind, denn sie entwickelt sich in ihrem Tempo und ihr geht es gut. Aber Resignation gegenüber der Gesellschaft, die uns vergessen hat, die noch nie wusste, dass es uns gibt, weil wir unsichtbar sind.
Müdigkeit und keine Kraft mehr, Anamnesebögen auszufüllen, Termine zu machen, Therapien oder Hilfsmittel zu beantragen und Monatelang darauf zu warten. Keine Kraft, mich über die Kürzung der stundenweisen Verhinderungspflege zu empören, keine Kraft, davon zu erzählen, wie unser Entlastungsbetrag einfach nicht reicht und die Haushaltshilfe mittlerweile nur noch anderthalb Stunden alle zwei Wochen kommt, statt wie früher für drei Stunden. Keine Kapazität mehr, die kämpfende Löwenmama zu sein. Zu müde, wochenlang in eine Klinik zu gehen in der eigentlich nur festgestellt wird: “ihr Kind kann das nicht”
Keine Motivation mehr, mit schwingender Faust in die Schlacht zu ziehen.
Ein Hilfsmittel wird wieder nicht bewilligt. Ich mache mich an den Widerspruch, schicke ihn ab. Aber nicht mehr voller Wut. Die Parkplakette lässt seit einem Jahr auf sich warten und ich rufe zum millionsten Mal an, um vertröstet zu werden.
“Tja” sage ich und zucke mit den Schultern.
Ich fühle mich schuldig. Ich will meinen Kampfgeist zurück. In den Facebook und Whatsapp Gruppen für pflegende Eltern lese ich nichts von Resignation. Klar, Erschöpfung, Trauer, Angst, davon berichten viele Eltern. Aber diese Schwere der Gleichgültigkeit? Damit bin ich scheinbar alleine. Vielleicht spricht es auch nur keiner aus. Eine Freundin will mit mir über die Missstände pflegender Eltern reden, sie ist auch betroffen. Ich sage mir in Gedanken “ das geht dir doch genauso, warum fühlst du nichts?” und frage, ob wir ein anderes Mal telefonieren können, weil ich müde bin oder beschäftigt.
Ich sage, ich fühle mich in Selbsthilfegruppen pflegender Eltern nicht wohl, weil ich da nicht reinpasse. Aber in Wahrheit bin ich neidisch auf ihren Kampfgeist, auf das Feuer, das in ihnen lodert, während meines längst unwiederbringlich erloschen scheint. Ich bin neidisch auf ihre Verzweiflung, ihre Überlastung und ihren Schmerz, weil ich nichts mehr davon fühle. Und ich schiebe den Anruf beim SPZ (Sozialpädiatrischen Zentrum) erneut auf, weil ich keine Kraft für Warteschleifen habe. Den Anruf beim Neuropädiater schiebe ich auf, weil ich Angst vor noch mehr Diagnosen, Prognosen und Rückschlägen habe. Ich schiebe ihn auf, weil ich zu müde für Wartezimmer bin und für Arztpraxen die nicht barrierefrei sind. Und ich hasse mich dafür, denn ich bin es meinem Kind schuldig, zu kämpfen, zu schreien und zu weinen. Ich bin es ihr schuldig, die Wege zu gehen, die Anrufe zu tätigen und mich durch die Anträge und den Papierkram zu kämpfen.
Das ist es ja, was auch von uns pflegenden Eltern erwartet wird. Wir opfern uns auf, sind die Held*innen, die von allen für ihre Stärke und ihr Durchhaltevermögen bewundert werden. Wir, die Märtyrer*innen, die ihr “schweres Los” mit Würde tragen und dabei stets anmutig leidend, kämpferisch oder ein hoffnungsvolles Lächeln auf den Lippen. Was machen Eltern behinderter Kinder, wenn sie plötzlich nicht mehr so stark kein können, wie es ihnen immer nachgesagt, wie es von ihnen erwartet wird?
Meine Resignation schlägt Wellen; sie erreicht andere Teile meines Lebens. Ich bin sensibler als sowieso schon. Ich nehme Dinge persönlich und kann schlechter mit Kritik umgehen, weil ich mich selbst permanent kritisiere, weil ich mehr von mir erwarte. Ich fühle mich einsam, selbst unter Gleichgesinnten.
Ich weiß nicht, was es besser machen könnte, was helfen würde, weil ich zu müde für Lösungsansätze bin. Und so sitze ich hier und schreibe alles nieder, hoffe, dass die, die es lesen und denen es genauso geht, sich verstanden und gesehen fühlen und die, die noch kämpfen können, mich nicht verurteilen dafür, dass ich es gerade nicht kann.
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