Und wie machst du das, Ivonne?

by Der Mutterfragebogen

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“Am schönsten ist es Abends. Mein Mann liest den Mädels Bücher vor und zum Schluss haben wir ein Ritual. Beide Kinder sollen sagen, wovor sie Angst haben und packen das dann symbolisch in ein Tuch. Danach wird dieses Tuch gemeinsam in den Händen geschaukelt und gesungen „Bad Dreams Bad Dreams go away, Good Dreams Good Dreams here to stay”. Danach strecke ich meine Arme aus und sage “Mama hat euch soooooooooooo lieb“, küsse und umarme beide und wünsche ihnen eine gute Nacht. Beide Kinder machen dabei so süß mit. Emelie hat immer die lustigsten „Ängste“ und Maria versucht alles lautstark nachzubrabbeln und hat dabei den glücklichsten Ausdruck im Gesicht den man sich vorstellen kann. Und (!) ich habe danach endlich Feierabend.”

Name: Ivonne

Alter: 33

Mutter von: Maria

Beruf: Schifffahrtskauffrau

Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?

Ich bin mit 17 von zu Hause ausgezogen, in meine erste eigene Mietwohnung in Hamburg. Bevor ich meine Ausbildung zur Schifffahrtskauffrau anfing bin ich viel gereist. Ich war in Tunesien, Malaysia, Thailand, Türkei auf Barbados und vielen anderen Ländern unterwegs. Ich habe gefeiert, fast täglich gekifft und getanzt bis in die späten Morgenstunden. Einmal bin ich betrunken, in Uggboots und Pyjama mit meiner besten Freundin in ein Flugzeug gestiegen, ohne zu wissen, dass wir auf den Weg nach Gran Canaria waren. Ich habe viel riskiert damals, mich alles getraut. Ich habe kurze Zeit in den USA und in Singapur gearbeitet. Während und nach meiner Ausbildung bin ich vollkommen in meinem Beruf aufgegangen. Ich habe ihn geliebt. Ich war ehrgeizig und wusste, für das was ich wollte zu kämpfen, schon immer. Und meistens war ich erfolgreich. Dann habe ich meinen Mann kennengelernt und für mich war es Liebe auf den ersten Blick, aber ihn musste ich mir erst erkämpfen. Der Kerl aus Lettland mit russischen Wurzeln, der erst keine Beziehung wollte, machte mir dann 1,5 Jahre später auf Aruba einen Heiratsantrag. Auf unserer Hochzeit war ich dann schon schwanger.

Wie sieht dein Alltag heute aus?

Ich habe zwei Kinder. Meine vierjährige Tochter Emelie und meine zweijährige Tochter Maria. Mein Mann bringt Emelie zur Kita und fährt dann ins Büro. Ich bringe Maria zu fünf Therapien pro Woche – Physio, Ergo, Hör-Frühförderung und Heilpädagogik. An 3-4 Tagen die Woche geht sie für einen halben Tag in eine heilpädagogische Krippe. Dazu kommen unzählige Arzttermine, Optiker, Akustiker und Krankenhausaufenthalte. Mein Kalender ist immer voll. Für Freunde ist selten Zeit. Nebenbei arbeite ich für ein Schiffsmaklerbüro. Wenn ich also nicht gerade koche, putze, einkaufen gehe, Papierkram, Termine und Anträge manage, hänge ich vor dem Laptop oder am Telefon und arbeite. Ab und zu treffe ich eine Freundin auf einen Kaffee oder Weinchen. Manchmal haben wir auch Spieldates mit Mama-Freundinnen. Abends versuche ich nichts mehr zu machen und lasse ab 20:00 alles liegen, um mich zu erholen.

Wann und wie hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?

Wie bei vielen, ein etwas schleichender Prozess. Das erste was auffiel, war der negative Hörtest auf den dann viele weitere negative Hörtests folgten. Gleichzeitig nahm Maria einfach nicht zu. Trotz viel Milch, Stillproben, Stillberatung etc. Wegen dem Untergewicht, der Entwicklungsverzögerung und dem Nicht-Hören, waren wir dann irgendwann in der Uniklinik.

Dort meinte ein Arzt zu mir „Je mehr Zeit vergeht in der Maria ihre Entwicklungsverzögerung nicht aufholt, desto klarer wird, dass da mehr dahintersteckt.“ Dieser Satz war wegweisend für mich und hat mich vorbereitet. Nach etlichen Krankenhausaufenthalten, Diagnostiken und viel Überzeugungsarbeit meinerseits, wurde dann 1 Jahr später der Gentest gemacht (WES-Trio). Im Sommer 2020 haben wir dann die Diagnose CHARGE-Syndrom bekommen, als Maria 1,5 Jahre alt war.

Inwiefern ist dein Kind behindert (und welche Behinderung wiegt für dich am schwersten?)

Maria hat eine Muskelschwäche (Hypotonie), ist schwerhörig, kleinwüchsig, untergewichtig und Entwicklungsgestört. Auch hat sie Verhaltensauffälligkeiten, sensorische Empfindlichkeiten und Regulationsstörungen.

Interessanter Weise, traf mich und meinen Mann die Diagnose Schwerhörigkeit damals am härtesten und heute stellt sie unsere geringste Herausforderung dar. Damals tat es weh sich vorzustellen, mit welchen Herausforderungen Maria zu kämpfen haben wird, als Mensch mit Hörbehinderung. Mobbing, Ausgrenzung in der Schule, Schwierigkeiten zu verstehen und mitzukommen etc.

Mittlerweile ist die Hypotonie, in Kombi mit dem Kleinwuchs, das was am schwersten wiegt. Dadurch ist Marias Grobmotorik extrem eingeschränkt und hängt in der Entwicklung weit hinter Gleichaltrigen hinterher. Das ist oft schlimm und wahnsinnig frustrierend für sie, weil sie immer alles machen und können möchte, was andere tun aber einfach körperlich nicht dazu in der Lage ist. Mich macht das traurig manchmal.

„Eine Mutter liebt am stärksten ihr schwächstes Kind“, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das?

 Jein. Die Liebe zu Emelie ist eine andere als die zu Maria. Aber allein in ihrer Intensität unterscheidet sie sich nicht. Ich versuche bewusst, jedem Kind, das gleiche Maß an Empathie und Liebe zu zeigen. Das gleiche Maß an Sanftheit. Ich glaube aber schon, dass ich Maria etwas mehr in Schutz nehme manchmal und ich habe gemerkt, dass ich von meiner Großen Tochter in Bestimmten Dingen mehr Selbstständigkeit fordere seit einer Weile. Ich glaube das hat einfach etwas mit meinen Kapazitäten zu tun.

Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welches der anstrengendste?

Generell ist es anstrengend mit Marias Regulationsproblemen umzugehen. Sie regt sich schnell auf, weint, schreit, schlägt um sich und hat Schwierigkeiten dann wieder runterzukommen. Solche Phasen kommen sehr oft vor am Tag und mit ihren 2 Jahren, will sie ständig auf meinem Arm sein. Die Essens-Situation ist auch schwierig. Aufgrund ihres Untergewichts hat man immer diesen Druck im Nacken, dass sie ja genug essen muss, aber wenn man ihr beim Essen helfen möchte, macht sie das so wütend, dass sie dann nichts mehr essen will. Nur ganz allein schafft sie es oft nicht.

Am schönsten ist es Abends. Mein Mann liest den Mädels Bücher vor und zum Schluss haben wir ein Ritual. Beide Kinder sollen sagen, wovor sie Angst haben und packen das dann symbolisch in ein Tuch. Danach wird dieses Tuch gemeinsam in den Händen geschaukelt und gesungen „Bad Dreams Bad Dreams go away, Good Dreams Good Dreams here to stay”. Danach strecke ich meine Arme aus und sage “Mama hat euch soooooooooooo lieb“, küsse und umarme beide und wünsche ihnen eine gute Nacht. Beide Kinder machen dabei so süß mit. Emelie hat immer die lustigsten „Ängste“ und Maria versucht alles lautstark nachzubrabbeln und hat dabei den glücklichsten Ausdruck im Gesicht den man sich vorstellen kann. Und! Ich habe danach endlich Feierabend 😉

Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert?

Ich teile sie mir mit meinem Mann, wobei er am häufigsten ins Büro fährt und ich meist von zu Hause arbeite. Er kommt abends nach Hause ab da an geht es bei uns Hand in Hand. Wir sind ein eingespieltes Team. Bevor Maria zur Krippe ging, hatten wir die Verhinderungspflege in Anspruch nehmen können. Durch die Covid-Pandemie gab es leider Personalkürzungen und wir haben noch keine passende Nachfolgerin gefunden. Bald ziehen wir in die Nähe meiner Schwiegermutter nach NRW und können sie dort auch mit einspannen.

Wie sieht dein Arbeitstag aus? Unter welchen Bedingungen kannst/könntest du Job und Familie miteinander vereinbaren?

Mein Chef erlaubt Vertrauensarbeit. Ich darf arbeiten, wann und wo ich möchte, solange das Geschäft läuft.  Ich bin dafür sehr dankbar, denn ich weiß, dass die meisten pflegenden Angehörige diese Freiheit nicht haben. Ein 9-5 Beruf wäre für mich absolut unmöglich.

Dafür haben wir nie so richtig Urlaub und arbeiten konstant durch, immer in Bereitschaft. Ich arbeite, wenn beide Kinder in der Kita sind, die aufwendigeren Dinge ab. E-Mails schreibe ich jederzeit zwischendurch. Die Tatsache, dass mein Mann Geschäftsführer der Firma ist, in der ich arbeite, macht Einiges einfacher. Denn wenn ich mal im Krankenhaus oder beim Arzt bin, kann er schnell für mich übernehmen.

Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben?

3-4 Stunden Abends, sobald die Kinder schlafen. Ansonsten mal am Wochenende. Aber ich habe das Gefühl, ich muss das jedes Mal rechtfertigen vor meinem Mann und mir etwas erkämpfen. Die Pandemie tut sein Übriges, denn wo soll ich bitte hin? Und dann kommt das schlechte Gewissen, dass wir doch lieber Zeit als Familie unternehmen sollten. Dabei hätte ich mehr Pausen dringend nötig. Zeit als Paar allein haben wir auch extrem selten.

Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?

Ganz am Anfang, im Krankenhaus, meinte eine Mutter eines behinderten Kindes zu mir „Du wirst für alles kämpfen müssen, Niemand schenkt dir einfach so das was dir zusteht“. Das fasst es gut zusammen. Ständige Anträge, Rechtfertigungen, Widersprüche etc. zehren an den Kräften. Der bürokratische Aufwand, den man hat mit einem behinderten Kind ist echt ein Halbtags-Job.

Was, zumindest in Hamburg, gut läuft ist das Therapie- und Fördernetzwerk. Wir haben ausnahmslos Therapeutinnen und Frühförderinnen die für das was sie tun leben. Sie waren von Anfang an und sind immer noch unser Fels in der Brandung.

Diese Menschen müssen mehr Wertschätzung und Gehör erfahren.

Auch unsere Kinderärztin ist grandios und unterstützt uns wo sie nur kann. Dahingehend hatten wir großes Glück.

Ansonsten graut es mir schon vor dem Thema Schule, da Inklusion ein großer Schwachpunkt an deutschen Schulen ist. Die Kitas in Hamburg sind wenig inklusiv. Meistens möchte man die behinderten Kinder hier separieren von denen ohne Behinderung. Schwerhörigkeit geht gerade noch so aber alles darüber bitte nicht. Zu groß sei allein der bürokratische Aufwand. Die Verantwortung etc. Das soll in NRW anders sein und darauf freuen wir uns sehr.

Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?

Das selbstverständliche Dazugehören, Teilnehmen, und zwar bei allem was möglich ist. Und dieses „möglich“ ist fast grenzenlos. Ich möchte Menschen mit Behinderungen überall sehen und hören. In Unternehmen, in der Politik, in Schulen, in Kitas, auf Reisen, bei Freizeitevents/Aktivitäten und, dass auf die Bedürfnisse aller Behinderungen eingegangen wird, um Niemanden auszugrenzen. Und ich möchte, dass das alles selbstverständlich wird.

Bist du die Mutter, die du sein wolltest?

Ich hatte keine Vorstellung von mir als Mutter, eher Ängste meine Kinder nicht genug zu lieben. Im Nachhinein, ist das Gegenteil eingetroffen. Ich bin ein bisschen gluckig und ziemlich ängstlich geworden. Ansonsten habe ich immer das Gefühl Mama in Ausbildung zu sein. Ich wachse mit den Aufgaben, mache ständig Fehler, muss immer wieder an mir arbeiten und versuchen Dinge besser zu machen.

Wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest Du etwas anders machen, als Mutter und/oder als Mensch?  

Als Mutter würde ich mehr für die Selbstbestimmtheit meines Kindes kämpfen. Der Umgang mit ihr in Krankenhäusern war nicht immer richtig und ich wusste das damals. Ich hatte mich aber nicht getraut, mich für die Bedürfnisse von Maria ausreichend einzusetzen. Heute ist das anders. Als Mensch bereue ich meine Ignoranz damals, gegenüber sozialgesellschaftlichen Problematiken. Meine generellen Life-Choices aber bereue ich eigentlich nicht, denn ich bin glücklich dort zu sein, wo ich jetzt bin und mit dem was ich habe. 

Ein Gegenstand Deines Kindes/ Deiner Kinder, den du ewig aufbewahren wirst?

Ach da ist so Vieles, was wir von beide Kindern aufbewahren werden. Marias Babypuppe, die sie immer mit sich rumschleppt, ihr Rollbrett, mit dem sie das erste Mal etwas schneller in der Wohnung vorankam. Ihre Babyflasche, die bis heute ihr Sicherheitsanker ist, Tag und Nacht. Gemalte Bilder von beiden, die ersten Haare vom Frisör. Kleidungsstücke und Spielzeug aus der Baby-Zeit. Bilder. Sowas.

Welchen Satz kannst du einfach nicht mehr hören?

Sorry aber da gibt es mehrere:

„Ooh die Arme“

„Wie schade…“

„Das ist bei normalen Kindern ja nicht anders“

„Tja jeder hat sein Päckchen zu tragen“

Das sind so meine Highlights und die kamen teilweise aus dem Familienkreis.

Welche Träume hast du?

Zum einen möchte ich wieder mehr Reisen. Außerdem will ich mich langfristig selbstständig machen und beruflich Reisen planen und beraten. Auch und gerade für Menschen mit Behinderungen. Das würde mir viel Freude bereiten. Reisen zu planen und Menschen so zu entlasten, dass sie sich stressfrei auf den Weg machen können und ihre Reise genießen. Einen Teil beizutragen zum „möglich machen“.

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