Wir haben Corona

by Bárbara Zimmermann

Sich mit Corona zu infizieren, wenn du ein Elternteil eines Kindes mit Behinderung bist, kann eine große Last bedeuten. Auch wenn ich privilegiert bin und einen Partner an meiner Seite habe, mussten wir als Familie mit drei Kindern in den letzten zehn Tagen einiges hier durchmachen. Und das schlimmste, vor dem ich mich fürchtete, ist passiert: wir mussten die Operation unserer Tochter absagen.

Die Angst, Corona zu bekommen – oder einfach in Quarantäne zu landen – lebt in mir seit März 2020. Wir dürfen nicht Corona kriegen. Wir dürfen nicht in Quarantäne kommen. Mit einem behinderten Kind, das zwei Mal im Jahr operiert wird, einige Untersuchungen durchmachen muss, Therapie hier und da und mehrere Termine beim Sanitätshaus hat, haben wir keine Wahl, außer uns vor Corona zu schützen. Wir müssen zu Kliniken, Therapeut*innen müssen zu uns ins Haus. Ich muss mehrmals im Monat zur Kinderärztin Rezepte und Verordnungen abholen. Unsere eventuelle Nichtachtung der Corona-Maßnahmen würde in unserem Fall die Vernachlässigung der Sorge- und Pflegearbeit unserer Tochter bedeuten. Teile ihrer Entwicklung würden auf der Strecke bleiben. Und jetzt sind wir alle krank zu Hause. Op abgesagt. Termin beim Sanitätshaus abgesagt. Therapien auch, klar.

Es ging uns nicht gut und wir waren geimpft. Ich sage nicht, dass wir „trotz Impfung” Corona haben, sondern „zum Glück mit Impfung”. Ende letzter Woche hatte ich sehr starke Symptome und konnte einiges nicht, zum Beispiel unser behindertes Kind die Treppe hoch- und runtertragen, sie vom Stuhl auf den Rollstuhl setzen. Wir haben (noch) nicht den Luxus in einem barrierefreien Haus zu wohnen, deswegen ist Tragen eines Körpers ohne Spannung im unteren Bereich Teil unserer täglichen Arbeit als Eltern. Ich war drei Tage lang extrem müde und erschöpft. Was hätte ich gemacht, wenn mein Mann nicht da gewesen wäre? Wie machen es alleinerziehende Mütter?

Quelle Pixabay

Ich bin nicht wütend, weil ich unseren getakteten Plan nicht einfach straight durchziehen konnte. Das Leben hat mir schon gezeigt, dass der Weg nicht nur geradeaus geht, aber unfair finde ich einiges doch. Während jetzt am Wochenende in vielen europäischen Ländern Tausende von Menschen auf die Straßen gehen und gegen die Corona-Maßnahmen protestieren, muss ich die Operation meines Kindes absagen. Ich sage es mal so: zum Glück können wir diesen Eingriff verschieben, aber was das alles an Organisation für uns als Familie und inneren Stress für mich bedeutet, ist nicht zu verschieben. Im Gegenteil: die Last verdoppelt sich.

Mein Mann und ich haben unsere letzte Kraft gegeben, damit wir unsere Kinder nicht anstecken – pure Illusion! Natürlich tut mein Herz weh, wenn mein ältestes Kind seit drei Tagen unter Kopfschmerzen leidet.  Aber müssen wir als Eltern uns jetzt schlecht fühlen, wenn da draußen ein großes Chaos herrscht und die Politik keine klaren Maßnahmen auf den Weg bringt? Nein! Müssen wir als Eltern die vernachlässigte Gesellschaft kompensieren? Nein! Was uns diese fast zwei Jahre Pandemie deutlich gezeigt haben, ist folgendes: Familien mit Kindern, vor allem mit Kindern mit Behinderung oder chronischen Krankheiten, waren nie Priorität der Politik. Und wer muss springen, um diese Lücke zu füllen? Die Eltern, vor allem wir Mütter. Die Romantisierung unserer Aufgabe und die falsche und gefährliche Idee, dass Mütter behinderter Kinder „besonders stark sind“, oder „von Gott oder der Natur mit einer extra Dosis Liebe gesegnet seien“ entmenschlicht uns und entfernt uns noch mehr von würdigen und konkreten Schutzmaßnahmen und Unterstützung, die wir als Familien wirklich brauchen.

Ich habe schon Angst vor dem Winter – welcher Elternteil nicht? Haben wir als Familie noch Kraft für ein weiteres Szenario wie letztes Jahr? Werden wir nochmal unbezahlt Homeschooling, Kinderbetreuung und Therapie privat und aus eigener Kraft und Zeit leisten müssen? Werden wir das noch können? Werden wir das können müssen? Bitte nicht! Werden wir den neuen Op-Termin in Dezember wirklich wahrnehmen können? Was wenn das Gesundheitssystem in eine noch größere Krise kommt? Ich möchte nicht erleben müssen, was gerade in Österreich passiert. Ja, ich vertraue darauf, dass es klappen kann. Aber ich sehe, dass es schieflaufen kann, wenn viele Entscheidungen von der Politik ins Private ausgelagert werden.

Ich bin fest überzeugt, dass wir im Sommer die Chancen hatten, das Ruder herumzureißen. Die Hoffnung, dass alles besser wird, soll gerade nicht ihren Hauptplatz bei uns haben. Diese Hoffnung ist gerade jetzt naiv und verantwortungslos. Weil Hoffnung niemanden vor Corona schützt. Wir haben Wege, die wissenschaftlich nachgewiesen sind, die uns und andere vor Corona schützen können: Abstand halten, Masken nutzen, sich oft testen und sich impfen lassen.

Dieser Text hat kein happy end, kein Motto „wir sollen in jeder Krise die Stärke sehen“, dieser moderne Glaube unserer Zeit. Trotzdem möchte ich sehr daran glauben, dass wir zusammen die Kurve kriegen. Dass viele Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen nicht durchdrehen müssen, so wie ich vor einigen Tagen.

Passt auf euch auf. Passt auf die anderen auf. Keine*r weiß, welche Konsequenzen Corona für andere Menschen haben kann.

3 Kommentare zu “Wir haben Corona

  1. Ich schau’ immer mal wieder in diesem blog vorbei und kann viele Erfahrungen mit einem behinderten Kind unterstreichen. Mein Kind ist 40 Jahre alt und mehrfach behindert. Ohne Partner ist es nicht einfach, aber mit Partner, der kein Verständnis für Behinderung hat, auch nicht. Vor Jahren und auch mit dem Erwachsenwerden der Geschwister habe ich mich entschieden, alleine zu leben. Kraftlos und ausgebrannt war ich gezwungen, auch an mich zu denken. Sarah, mein Kind, lebt jetzt in einer Wohngemeinschaft mit 6 weiteren beeinträchtigten, erwachsenen Menschen und fühlt sich fast immer geborgen. Wir sehen uns 1x wöchentlich zur Reittherapie, kochen zusammen, gehen einkaufen uv.m. Körperlich ist es einfacher geworden, aber die Sorge bleibt. Mein Herzenskind ist immer bei mir.

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