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“Die Krampfmomente sind am Schwierigsten zu leben, aber in ihnen schreit das Leben am lautesten“, schreibt die brasilianische Philosophin Suely Rolnik. Ich habe diesen Satz im Januar in Brasilien in ihrem Buch gelesen, und es mir gelb markiert. Keine Ahnung, warum. Es klang nicht nur stark und passend zu ihrer gesellschaftlichen Analyse, ich hatte auch das unausgesprochene Gefühl, diesen Satz irgendwann einmal gebrauchen zu können, selbst wenn ich ihn überhaupt nicht brauchen wollte. Ich wusste, was dieser Satz für mich bedeuten könnte. Ich hatte nähmlich Angst, dass mein Kind irgendwann ihren ersten epileptischen Krampfanfall und somit auch die Diagnose von Epilepsie bekommt.
Seit Zoes Diagnose in der Schwangerschaft sollte ich eigentlich schon gelernt haben, dass das Leben nicht nach meinem Plan läuft. Aber der getaktete Alltag und die Routine wurden plötzlich zu meinem Atem und meinem Stückchen Sicherheit. Ich versuchte schneller als das Leben zu rennen. Es überrollt mich aber manchmal und ich falle auf dem Boden wie eine Ente – so würden wir in Brasilien sagen, wenn eine Person enttäuscht wird oder negativ überrascht wird.
Vor vier Jahren präsentierte uns das Leben die Diagnose Spina bifida und Hydrozephalus. Erst baden wir in Tränen, dann schafften wir es, irgendwann den Kopf wieder hoch zu halten. Das Leben ging weiter. Zwei Jahre später kommt etwas Neues hinzu: die Implantation von zwei Titanstäben in Zoes Rücken, die zweimal jährlich verlängert werden müssen, bis sie ausgewachsen ist. Und hier wieder „the same procedure“:.Ich bin fast in Angst ertrunken, aber dann ist da doch mehr Kraft in uns, als ich dachte. Und jetzt, wieder zwei Jahre später, schon wieder etwas Neues: die Diagnose Epilepsie. Zoe geht es aktuell gut, sie krampft gerade nicht, aber ich schon – innerlich. Ich höre wie das Leben laut in mir schreit, aber sein Geschrei zerreißt mich innerlich.
Ich weiß, es wird gut. Ich muss daran glauben – sei es für mich selbst oder für meine Kinder. Und gleichzeitig ist dieser Schmerz da, und Trauer und Wut. Warum? Warum kann mein süßes Mädchen nicht einfach eine unbeschwerte Kindheit haben? Diese Frage verwirrt mich nur und ich weiß, ich werde keine Antwort darauf bekommen. Und trotzdem kann ich das nicht ‚nicht denken‘.
„Die Krampfmomente sind am Schwierigsten zu leben, aber in ihnen schreit das Leben am lautesten“. Das stimmt. Meine Augen sind Zeuge davon. Ich konnte es sehen, als Zoe am Dienstag gegen 20:45 ihren zweiten Anfall hatte, wenige Minuten nach dem ersten, und ich sie auf die Gartenbank bei uns im Hof gelegt habe, als ich draußen auf den Krankenwagen wartete. Ihr kleiner Körper krampfte, die Augen rollten heftig nach links und sie atmete schwer. Sie kämpfte stark, damit das Gewitter schnell vorbei geht – und ich betete, dass die Störung durch dieses Unwetter kein großer Schaden verursacht. Als sie gegen 23 Uhr im Krankenhaus aufwachte, war die Sonne wieder da! Und ich weinte erleichtert.
Jetzt stehe ich hier, auf der Suche nach neuen Worte, die besser zu unserem Leben passen könnten. Ich brauche sie, die Worte. Nicht um das Leben fertig zu definieren, als ob es eine Endstation gäbe. Ich suche sie, um mich selbst zu finden.
vielen Dank für deine wunderschönen Artikel. Sie sind schmerzhaft aber wunderschön geschrieben / beschrieben und für diejenigen von uns, die einen ähnlichen Weg gehen, bedeuten sie sehr viel. Wisse, dass wir zusammen gehen, irgendwo da draußen bin ich. und sind wir. Und wir schaffen es!
Liebe, liebe Bárbara …….ich finde keine Worte….schicke dir eine Umarmung und bin in Gedanken bei euch <3 <3
Martina
Liebe Barbara,
deine Worte gehen tief ins Herz und tief aus dem Herzen antworte ich dir “ja, ich weiß”. Und in diesem Mitgefühl schwingt die Erfahrung welch ungeheure Energie das Leben in unser Dasein schleudern kann, wenn es uns eine Herausforderung mit der Wucht eines Blitzeinschlags zumutet.
Darauf kann sich niemand vorbereiten. Die Wucht, die aus den Angeln hebt, aushalten und ganz langsam seinen Platz neu in der Welt und im Inneren finden sind ein Prozeß, der unsere Füße nach einem Weg tasten läßt, der für uns begehbar ist. Es braucht Kraft und Mut, ihn zu finden.Jede ist auf ihrem Weg allein. Und dennoch ist das Mitgefühl ein Haltepunkt, der hilft, die Einsamkeit zu ertragen.ich denke an dich.
Annette
Liebe Barbara,
danke für diesen schönen Artikel. Als Mutter eines spina bifidas Kindes weiß ich was es bedeutet wenn immer wieder neue Themen zur bereits bestehenden Behinderung kommen. Es bedeutet, dass wir hadern, traurig sind, hilflos sind und erschöpft. Auch mir geben Worte oder Sprüche in diesen Zeiten Halt. “Das ist alles, was wir tun können: immer wieder von neuem anfangen, immer und immer wieder. (T. Wilder)”. In diesem Sinne ganz liebe Grüße Heike