Vom Schutz – und Hautlos sein

by Der Mutterfragebogen

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Ein Gastbeitrag von Sabrina (auf Instagram @betrauernswert ).

Inklusion. Ein simples Wort, das sich wie selbstverständlich in unseren Sprachgebrauch geschlichen hat. Aber leider noch nicht in unser aller Verständnis. Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazugehört. Oder, um es noch einfacher zu formulieren: Inklusion heißt, dass jeder überall mitmachen darf.

Vor meinem inneren Auge sehe ich Menschen jeden Alters, mit und ohne Behinderung, egal welcher Herkunft und des sozialen Backgrounds, Arm in Arm über eine bunte Blumenwiese laufen. Spätestens jetzt aber fängt das Bild in mir an zu bröckeln. Ein Riss geht durch mein Herz. Denn mir fehlt etwas Essenzielles, dass mich in der Gestaltung meines Lebens einschränkt. Etwas, dass mich, ohne dass ich je darum bitten musste, automatisch dazugehören ließ. Mir fehlt mein Kind.

Mein Sohn Leopold verstarb drei Tage nach seinem ersten Geburtstag, völlig unerwartet, durch schwerwiegende Behandlungsfehler nach einer Routineoperation.

Die soziale Ausgrenzung meiner Person begann schleichend. Denn anfangs kamen Freunde und Familie in Scharen. Sie boten Unterstützung und Hilfe an. Standen genau wie ich unter Schockstarre, gaben aber ihr Bestes, um mich, meinen Mann und unsere gemeinsame Tochter aufzufangen. Mir kam nicht einmal der Gedanke, dass es jemals anders sein würde. Bis es – oder vielmehr: ich, kompliziert wurde. Als wir unseren Sohn ohne Herz beerdigen mussten, weil es die Staatsanwaltschaft als Beweismittel beschlagnahmte. Als wir stundenlang bei der Kripo aussagten. Als mir im Kindergarten, flüchtige Bekannte dazu rieten, schnell wieder schwanger zu werden. Oder mir ihr Beileid aussprachen und schockiert hinterherschoben: “Ich könnte das nicht überleben. An deiner Stelle hätte ich mich umgebracht.” Ich weiß noch, wie ich mich mit letzter Kraft in die schützende Karosserie meines Autos flüchtete, heiße Tränen über meine Wangen flossen und ich drohte, an den Schluchzern, die meiner wunden Seele emporstiegen, zu ersticken. Um ehrlich zu sein: Ich dachte darüber nach. Natürlich tat ich das. Denn die Sehnsucht und der Schmerz fraßen mich innerlich auf.

So schutz– und hautlos wie ich war, brannten sich gewisse Aussagen in mein Herz. Sicher, jede dieser Personen, selbst jene, die mir sagten, das Leben müsse weitergehen, meinten es gut mit mir. Doch gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Und so begann ich, mich zurückzuziehen. Unsere Freunde hatten sich unmittelbar nach der Beerdigung abgemeldet, mit dem Hinweis, dass wir uns jederzeit melden könnten, wenn etwas sei. Es stand eigentlich täglich etwas an, dass uns schlicht und ergreifend überforderte. Telefonate mit dem Anwalt. Todesurkunden versenden. Tränen trocknen, die nicht zu trocknen sind. Und so wog an manchen Tagen mein Handy eine Tonne. Und mein Kopf, den ich ja nicht in den Sand stecken durfte, ebenso.

Wenige Monate nach Leopolds Tod bekam ich die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung”. Die Menschen um mich herum verstummten und ich mit ihnen. Keine Einladungen mehr zum gemeinsamen Kaffee trinken. Treffen auf dem Spielplatz: nicht mehr mit uns. Geburtstage, Weihnachten. Alle feierten, außer wir. Wir wurden ausgeschlossen. Man hat uns vergessen und den Verlust unseren perfekten Jungen verdrängt. Bis heute, dreieinhalb Jahre nach Leopolds Tod, müssen wir mit den sozialen Auswirkungen leben. Wir haben nur wenige Kontakte. Denn die meisten Menschen reagieren überfordert, wenn sie von unserem Verlust erfahren und meiden uns, aus Angst etwas Falsches zu sagen. Durch den Austausch mit anderen verwaisten Müttern auf Instagram weiß ich, dass sich oftmals Freunde und Familie abwenden. Viele können es wohl einfach auch nicht ertragen, dass es nicht nach wenigen Monaten wieder „gut” ist und das Leben weiterläuft wie zuvor. Das geht nicht. Man wurde verrückt in eine andere Sphäre.

Verwaiste Eltern sind Langzeittrauernde, die auf die Güte ihrer Mitmenschen angewiesen sind. Was wir benötigen, ist echte Anteilnahme. Dass der Name unseres verstorbenen Kindes genauso selbstverständlich genannt wird, wie der unser lebenden. Wir wünschen uns, dass wir den Geburtstag unseres Himmelskindes feiern können. Dass man uns an Fest – und Feiertagen, an denen der Verlust unseres Kindes besonders schwer wiegt, durch liebevolle Gesten bedenkt. Wir wollen über unser Kind sprechen. Erzählen, wie einzigartig es war. Wie sehr wir es lieben und vermissen.

Inklusion bedeutet für verwaiste Eltern, dass sie natürlich dazugehören. Das sie und ihr Kind mitgedacht werden. Wir wollen und müssen überall mitmachen dürfen, in dem man uns Raum bietet, über unser verstorbenes Kind sprechen zu können. Wir wollen in die Mitte der Gesellschaft und nicht an den Rand.

Trauer ist schmerzhaft. Sicher, es gibt Gefühle, die angenehmer sind. Aber wenn wir uns es nicht erlauben, in die Tiefe des Schmerzes zu tauchen, werden wir auch niemals gänzlich spüren, wie leicht wir uns fühlen, wenn wir wieder oben sind.

Leben und Sterben. So alt wie die Erde. Ein Kreislauf, zu dem wir gehören. Ausnahmslos. Und so sind wir im Kern unseres Seins, da wo es wirklich darauf ankommt, alle gleich. Egal ob mit psychischen Erkrankungen, Behinderungen, unabhängig der Herkunft, ob mit sichtbaren oder verstorbenen Kindern.

Bleibt neugierig und offen. Mitfühlend statt mitleidend. Nehmt jene, die am Rand stehen, in eure Mitte.

Ich möchte mich bei Bárbara, Eszter und Jasmin bedanken. Sie machen sich stark für Inklusion. Drei mutige Frauen, die für ihre Kinder kämpfen. Mütter, denen ich mich verbunden fühle, obwohl wir mit unterschiedlichen Anforderungen unseren Alltag bestreiten müssen. Uns aber die Essenz der Mutterschaft vereint: bedingungslose Liebe.

Trauert gut! Seid wütend, verletzt und aufgebracht.

Eure Sabrina
Leopolds Mama

2 Kommentare zu “Vom Schutz – und Hautlos sein

  1. Liebe Sabrina, Danke, dass Du die Kraft aufgebracht hast, über Eure Erfahrung zu schreiben. Es schmerzt, von der Ausgrenzung zu lesen, die Ihr erlebt und empfindet. Wir, die wir diese existenzielle Erfahrung nicht gemacht haben, sind darauf angewiesen, dass Ihr, die Ihr mit diesem unendlich tiefen Schmerz lebt, uns Eure Bedürfnisse und Wünsche mitteilt. Deshalb ist es so wertvoll, dass Du das hier teilst. Wir Unwissenden sollten in der Lage sein, anteilnehmend die richtigen Fragen zu stellen. Uns sollte bewusst sein, dass es in der Zeit tiefer Trauer kaum möglich ist, »sich zu melden, wenn was ist« und dass es Geschehnisse gibt, nach denen das Leben nicht mehr sein kann, wie es war. Und dass wir dennoch, hoffentlich, auch Zeiten der Freude haben dürfen, alle gemeinsam. Ich wünschte, wir würden bereits in der Schule dafür sensibilisiert werden. Frieden im Herzen wünscht Euch Katrin

  2. Liebe Sabrina, DANKE für deine wunderbaren Zeilen. Ich hoffe, dass viele Menschen diese lesen…. das wir als “Unbeteiligte” nicht wegsehen! Das wir für euch Halt geben und die Rettungsinsel sein können. Uns mit euch auf die Erde legen um gemeinsam wieder aufzustehen. Viel Kraft, alles Liebe für euch! Ich spreche jeden Morgen mit eurem Leolie . In tiefer Verbundenheit , eure Steffi.

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