Übers Dünnhäutig sein

by Der Mutterfragebogen

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Gastbeitrag von Natalie mit dem Instagram Profil @mein.tanz.imregen.deiner.asche

Ich bin mittendrin in (m)einem neuen Leben. In einem Leben, mit
meiner verstorbenen Tochter, die ich neun Monate unter meinem Herzen
trug und 721 Tage bei mir hatte, bis ihr Herz aufhörte, zu schlagen und
das meine in Millionen Splitter gebrochen ist.

Das Brechen war nicht der eine Moment. Es waren die elf Monate mit dem
Krebs meiner Tochter. Ein Brechen und Sterben auf Raten. Ein Brechen mit
allem, was wir für ein gewöhnliches Leben hielten und ein Sterben von
Hoffnungen, Träumen und Plänen.
Ein Brechen bei jedem Erbrechen einer Zweijährigen, die aus ihrer
Kindheit von der Chemotherapie herausgebrochen wurde. Ein Sterben vieler
Tode, jeder einzelnen Fähigkeit, die ein zweijähriges Kind bei einem
langen Sterben an Krebs verliert.

Nichts in meinem neuen Leben ist da, was nicht schon Mal gebrochen wäre
– in dem Leben davor. Ich baue es zusammen aus Allem, was mit meinem
Kind gestorben ist, nicht aus dem Rest.
Ich messe allem, was mir passiert, was mir begegnet, was ich lese und
höre, eine Bedeutung bei.

Der Tod meines Kindes hat mich hellhöriger gemacht. Der Tod hat mich
hellsichtiger gemacht. Der Tod hat mich DÜNNHÄUTIG gemacht.

Ich sinne viel nach… Über jede Nachricht, die ich bekomme und jedes
einzelne noch so kurze Wort darin, über das Motiv der Karten in meinem
Briefkasten, die immer seltener darin zu finden sind. Ich messe jeden zu
mir gesprochen Satz an der Tiefe der ungeheuerlichen Urgewalt des Todes.
Und noch viel mehr, messe ich die nicht gesprochenen Worte daran.

Der Tod meines Kindes hat mich hellhöriger gemacht, für das Schweigen
der anderen und für jeden Unterton zwischen den Lauten, die sie von sich
geben.
Der Tod meines Kindes hat mich hellsichtiger gemacht für das Wegsehen,
für den selbstbezogenen, weil ausweichenden Blick.
Der Tod meines Kindes hat mich DÜNNHÄUTIGER gemacht, für jede Berührung
und jedes nicht berührt sein. Alles brennt auf meiner dünnen Haut.

Ich wünschte, andere hätten auch ihre Dickhäutigkeit und ihre Masken von
sich abgeschält, um berührbar zu werden, für mein Brechen und für das
Sterben meiner Tochter.
Um mit mir einen Weg zu gehen, der roh, nackt und echt ist, weil er an
der Wirklichkeit des Todes gemessen ist.
Ich wünschte, an (m)einem neuen Leben in einer Welt bauen zu können,
welche die Wirklichkeit meines Brechens und des Sterbens (m)eines Kindes
berücksichtigt.

Bild von der Gastautorin

Ein Kommentar zu “Übers Dünnhäutig sein

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