Ich wollte schreiben, wie gut wir es hier im neuen Haus haben, aber wo bleibt die Zeit dafür? Ich wollte auch schreiben, wie viel besser wir es im neuen Haus haben, seitdem wir nach zehn Tagen hier nicht mehr draußen am Gaskocher, mit dem Grill oder mit der ausgeliehenen Herdplatte kochen und in der Waschküche spülen müssen. Die Arbeitsplatte wurde geliefert, Herd und Spüle wurden installiert and I love it! Jetzt kann ich sagen, dass wir eine Küche haben.
Ich wollte auch schreiben, wie dankbar ich für die enorme Unterstützung von meiner Mutter bin, die zusammen mit meiner Oma seit zweieinhalb Monaten bei uns ist, aber wo bleibt die Zeit dafür? Ich wollte auch schreiben, dass ich langsam wieder meinen Arbeitstisch haben will, der im Arbeits- und Gästezimmer steht, wo meine Oma schläft. In der Küche zu promovieren ist die jetzige Lösung. Um meinen Schreibtisch wieder haben zu können, müssen aber meine Oma und meine Mutter uns Tschüss sagen und zurück nach Brasilien fliegen. Und das macht uns alle traurig, gehört aber dazu für uns Migrant*innen. Saudade gehört zu unserer alltäglichen Palette von Gefühlen.
Ich wollte auch von dem Tag schreiben, an dem ich so unendlich müde nach dem langen Termin mit Zoe im Sanitätshaus war. Von der Autofahrt, der Odyssee, um die benötigten sechs Rezepte und eine Überweisung zu bekommen, die ich für sie für diesen Monat brauche. Es war ein solcher Tage, für den man drei Tage gebraucht hätte. Dazu habe ich noch meine Menstruation bekommen. Und als Krönung des Tages eine Situation mit Zoe, die mich tief berührt hat. Dafür nehme ich mir jetzt endlich die Zeit zum Schreiben:
Nach ihrer Badhygiene, die mich an so einem Tag viel zu viel Kraft gekostet hat, weil sie nicht in fünf Minuten erledigt werden kann, sagte sie mir stolz, als sie danach auf ihrem Bett saß: „Schau mal Mama, meine Füße berühren den Boden. Ich bin schon richtig groß!“ Sie war so stolz auf sich und sah so süß aus in ihrem Pyjama und mit ihren noch halbnassen Haaren nach der Dusche! Und dann kam der Satz: „Komm zu mir. Du musst mir helfen. Ich will jetzt stehen und laufen“. Ich blieb innerlich stehen. Scheiße! Was soll ich jetzt machen? Was soll ich jetzt sagen? Sie kann nicht stehen. Sie kann nicht laufen. Sie hat seit ihrer Geburt eine komplette Querschnittslähmung.
Ich ermutige mein Kind in allem, was es tun möchte. Und manchmal muss ich sie auch überzeugen: wenn sie denkt, sie schafft das nicht, aber ich weiß, sie kriegt das hin. Wie neulich beim Reiten, wo sie so gerne auf Flo, dem Pony, sitzen und reiten wollte, aber gleichzeitig große Angst hatte von Flo zu fallen. „Du schaffst das!“, sagte ich ihr mehrfach. Und zack, mit großer Überwindung hat sie es geschafft! Aber gerade hier… gerade ist es anders. Sie kann nicht stehen und auch nicht laufen und das hängt nicht von ihrem Willen, von ihrem Mut ab.
Ich stand an der Tür ihres Zimmers und hatte eigentlich den Plan, das Bad aufzuräumen und dann sofort ins Bett, aber ich ging zu ihr. Okay, sagte meine innerliche Stimme. Geh zu ihr und lass sie dich führen. Ich saß neben ihr auf ihrem Bett und wartete ab. Ganz schnell gab sie mir genaue Anweisungen, wie und wo ich sie halten sollte. Und dann nahm sie all ihre Kraft zusammen und versuchte drei Mal hintereinander das Unmögliche möglich zu machen. Ich war da, aber innerlich fühlte ich mich so leer, so schwach, so berührt.

Sie weiß eigentlich, dass sie nicht stehen und nicht laufen kann. Wir haben schon mehrmals darüber gesprochen. Immer wieder und wieder. Und ich weiß auch, dass dieses Wissen keine Garantie vor neuen Fragen und sehr wahrscheinlich zukünftigen emotionalen Achterbahnfahrten in ihrem Leben sein wird. Vor einigen Wochen, gerade hier in unserem Umzugschaos, kam die Frage mehrmals: „Aber Mama, warum kann ich nicht laufen?“ Ein paar Tage später: „Mama, wenn ich groß bin, werde ich dann auch stehen können?“ Und als wir mit Freund*innen in Hann Münden durch die Innenstadt stöberten: „Ich kann nicht laufen, weil ich einen Unfall hatte, oder Mama?“ In diesen Momenten habe ich oft das Gefühl, dass das Leben (ihr Leben?) stehen bleibt und gerettet werden muss. Von mir. Und ich darf nicht falsch handeln. Ja, ich gebe zu, dass der innerliche Druck nicht besonders klein ist.
Aus dem „ich will jetzt stehen und laufen“ wurde plötzlich ein Spiel, alles von ihr geleitet. Aus dem Spiel heraus kam die Idee, dass sie eine Verkleidungsparty mit August, Elin, Franka und Frieda – vor allem Frieda!, sagte sie – machen will. Und sie erzählte und erzählte und erzählte ohne Ende, alles was sie auf ihrer Party mit ihren Freund*innen machen wird und was ich dafür besorgen soll: Chips, Äpfel und kalte Reismilch. Mit Tränen in den Augen und einem Grinsen auf den Lippen, beobachtete ich das alles sprachlos.
Ich ging danach direkt ins Bett zu meiner Wärmflasche (oder Wärmeflasche, wie ich nach 14 Jahren in Deutschland immer noch ab und zu sage ), schaute ins Leere zur Decke und atmete aus… Ich weiß nicht, was größer war: die Erschöpfung von diesem Tag, die Traurigkeit, die in mir ausgebrochen war, oder der Respekt vor der Zukunft, die auf uns wartet. Oder vielleicht von dem Berührt-sein von dem Wesen meines Kindes, das mich mit voller Wucht getroffen hat.
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