Ein Gastbeitrag von Simone Rouchi (Instagram: @Simonerouchi / Facebook: @simonerouchi).
Die Geburt meines Sohnes hat mich zu einer pflegenden Angehörigen gemacht. Vor etwas mehr als sechs Jahren wurde ich eine pflegende Mama. Keiner erzählt werdenden Müttern, dass es pflegebedürftige Kinder gibt. Man klärt uns über das Ende auf, aber nicht über den Anfang. Man klärt uns darüber auf, dass wir Kinder mit Behinderung heutzutage nicht mehr bekommen müssen. Man klärt uns über Abtreibung und Pränataldiagnostik auf, aber nicht über ein gemeinsames Leben mit unserem Kind, das eine Behinderung hat.
Niemand spricht über die Liebe, über den ehrlichen Alltag, über unsere Optionen, die Hürden und die Freuden von pflegenden Familien. Vor über sechs Jahren wurde ich pflegende Mutter, aber was wusste ich schon? Ich wusste nichts darüber. Pflegende Angehörige waren für mich nicht präsent in meinem Alltag aus Karriere, Partnerschaft und Hobbys. Und darauf bin ich wirklich nicht stolz. Aber worüber gesprochen wird, das ist die Angst davor ein Kind mit Behinderung zu bekommen. Wir sprechen über das Ende, bevor es richtig angefangen hat. Schließlich muss das heutzutage nicht mehr sein. Und so war es bei mir auch. Ich hatte Angst vor einer Risikoschwangerschaft und wollte deshalb keine Pränataldiagnostik. Weil ich lieber über die Liebe zu meinem Kind, als über Abtreibung nachdenken wollte. Ich wollte es nicht wissen und hoffen, dass es mich schon nicht treffen wird. Naiv war das. Ich weiß.
In der 11. Schwangerschaftswoche sagte mir meine Frauenärztin, dass die Nackenfalte meines Babys auffällig ist – obwohl ich das nicht wissen wollte. Plötzlich saß ich in einer Praxis für Pränataldiagnostik. Völlig unvorbereitet. Ich wollte wissen, ob es meinem Kind gut geht. Mehr nicht. Ich wollte mich um mein ungeborenes Kind kümmern, es beschützen, ihm medizinische Behandlung zukommen lassen, falls es notwendig ist. Ich wollte für mein Baby da sein, wie eine Mutter das tut. Ich setzte mich auf einen Stuhl, eine Ärztin, die ich vorher noch nie gesehen hatte, saß mir gegenüber und ohne den Blick zu heben, fragte sie mich: “ ich sehe den Befund ihrer Frauenärztin. Wollen Sie also abtreiben?” Ich war völlig perplex und antwortete, dass ich wissen will, was mein Baby hat, ob es krank ist. Dann sagte sie mir, dass ich mich schon entscheiden müsse, ob ich das Kind bekommen will, je nachdem würde sie mir unterschiedliche Vorschläge für die Diagnostik unterbreiten können. Ich habe geweint, weil die Ärztin nicht verstanden hat, was ich will: mein Kind lieben, es beschützen, ihm helfen. Egal ob behindert oder nicht. Denn es ist mein Kind, es wuchs in meinem Bauch heran und es hat ein Recht auf meinen Schutz und meine Liebe. Es hat ein Recht auf eine Familie. Zwei Wochen später war ich in einer Beratungsstelle, weil man immer wieder von mir verlangte mich zu entscheiden. Immer wieder die Frage: wollen Sie das Kind? Diese Frage wurde mir ohne eine Diagnose gestellt. Mein Kind hätte immer noch gesund sein können, denn Auffälligkeiten in der Pränataldiagnostik können nicht zu hundert Prozent eine Behinderung bestätigen oder ausschließen. In dieser Beratungsstelle wurde mir zum ersten Mal die richtige Frage gestellt: was ändert sich für Sie, wenn Sie wissen, dass ihr Kind behindert ist? Lieben Sie es dann weniger?
Es steht uns als Gesellschaft nicht zu pflegende Elternschaft zu bewerten oder zu hinterfragen. Vielmehr sollten wir dringend unsere Ethik, unsere Moral und unsere Wertvorstellungen hinterfragen. Wir sollten werdende Eltern aufklären, dass es zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens möglich ist, dass ihr Kind erkrankt, eine Behinderung erwirbt oder in seiner Entwicklung zurückbleibt. Wir sollten Eltern aufklären, beraten und begleiten. Dein Kind kann völlig gesund sein und bei der Geburt Schaden nehmen. Aber niemand kann Eltern die Liebe zu ihrem Kind nehmen.
Ich bin nun also eine pflegende Mutter. Als ich vor über sechs Jahren ein kleines Baby mit 900 Gramm auf die Brust gelegt bekam, hatte ich keine Ahnung was auf mich zukommt. Ich wusste nicht, wie anstrengend und glücklich die nächsten sechs Jahre werden würden. Ich wusste nichts von Schwerbehindertenausweisen und Pflegegraden für Kinder. Ich dachte immer das wäre etwas für Senioren. Ich habe nie über Inklusion diskutiert, weil es mich nicht betraf! Mir war nicht klar, dass Babys über Monate hinweg im Krankenhaus leben, weil es kaum ambulante Intensivbetreuungsplätze für Babys und Kleinkinder gibt.
Ich sage nicht, dass es ein leichter Weg ist, ein Kind zu pflegen. Aber ich sage, dass wir darüber sprechen müssen, dass es pflegebedürftige Kinder gibt, dass ihr Leben glücklich, lebenswert und gewollt ist. Ich sage, dass wir am Beginn des Lebens nicht nur über das Ende sprechen dürfen, sondern über den Weg, die Möglichkeiten die Liebe und über die Familien. Denn das sind wir. Eine Familie. Ich pflege mein Kind. Ich bin eine pflegende Angehörige und heute ist der europäische Tag der pflegenden Angehörigen, aber pflegende Eltern sind selbst innerhalb dieser marginalisierten Gruppe eine Minderheit. Aber heute bin ich sichtbar – mit diesem Text. Heute stehe ich nicht im Schatten. Heute bin ich selbstbewusst und stehe für uns ein. #ichpflegemeinkind
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