(Disclaimer: als christlich sozialisierte Familie feiern wir Weihnachten, gehen aber nicht davon aus, dass das für alle gilt)
An dem Tag, als ich diesen Text schrieb, war der 1. Dezember 2022. Der hat früh angefangen. Um genau zu sein, an einem Samstag im August, als wir auf dem Heimweg aus dem Sommerurlaub waren. Für unseren Sohn Simon (7 Jahre alt, Autist) haben Jahreszeiten nur die Bedeutung, die er ihnen gibt. Seine Aufmerksamkeit und sein Zeitempfinden orientieren sich an Ereignissen. Manche davon sind durch den Kalender oder gesellschaftliche Konventionen vorgegeben, andere setzen wir fest. Und so sah er auf der Autobahn irgendwo zwischen NRW und Baden-Württemberg von seinem Tablet auf und sagte: „Ich freu mich so auf den 1. Dezember.“ „Warum, mein Schatz?“ „Da beginnt der Winter.“ Und während es draußen 32 Grad im Schatten hatte, verstand ich voll und ganz, was er meinte. Ohne Unterton und ohne mich lustig zu machen, fragte ich: „Und weil du da das erste Türchen am Adventskalender öffnen darfst und es nicht mehr so weit bis Weihnachten ist?“ „Ja genau“ sagte er und widmete sich wieder seinem Spiel.
Schon vor einigen Jahren haben wir festgestellt, dass Simon sehr anfällig für Vorfreude und Aufregung ist. Und wenn ich anfällig schreibe, dann meine ich alles verzehrende Vorfreude; eine, die den ganzen Körper übernimmt. Und Aufregung, die weit vor dem einsetzt, was die Gesellschaft für „normal“ hält. Aufregung, die sich ihren Weg in die Sprache und in die Träume bahnt und die ihn immerzu von dem entsprechenden Event reden lässt. Zu jeder Tages- vor allem aber Nachtzeit. Unsere Dialoge rund um und während der Schlafenszeit drehen sich nun schon seit einigen Monaten um Geschenke, um Deko und um genaue Abfolgen innerhalb der verschiedenen Events. Natürlich sind die Geschenke und auch die Adventskalender sehr wichtig, immerhin ist er ein 7-Jähriger, der kürzlich entdeckt hat, dass im linearen Fernsehen auch Werbung für Spielzeug kommt. Minutenlang, mit immer neuen Ideen. Er weiß jetzt, dass du mit Barbie alles sein kannst, und nachdem jeder zweite Spot von einer Switch erzählt, steht der Wunsch für den nächsten Geburtstag schon fest. Der schließt sich direkt nach Silvester an, im Mai.
Aber es ist nicht nur der Konsum, es ist alles rund ums Event. Für Simon ist es das Gesamtpaket und davon jede einzelne Ebene, die wir so gar nicht wahrnehmen. Für die meisten von uns ist Vorfreude lange Zeit etwas Stilles, dann ein bisschen lauter und entlädt sich beim Event, geht in Freude über und hält mit viel Glück noch eine Weile an. Für Simon schlägt die Aufregung Wellen, mit jedem Klingeln an der Tür wird er daran erinnert, dass ja ein Geschenk oder Deko oder ein Keksausstecher kommen könnte. Spätestens ab Anfang November fragt er intensiv nach dem tagesaktuellen Datum. Dieses Jahr haben wir Mitte November zwei Blätter ausgedruckt, auf denen er die einzelnen Tage abhaken kann. Es gibt die normalen Tage und es gibt die wichtigen Tage. Die normalen Tage nimmt er hin, durch die muss er durch, um zu den besonderen Kästchen zu kommen. Meiner Meinung nach verpasst er dadurch ein bisschen die Schönheit der normalen Tage, an denen es ja auch Schönes gibt. Zum Glück kann er Besuche auf dem Weihnachtsmarkt mit der Gruppe und den Geburtstag des Bruders trotzdem irgendwie genießen.
Seine Vorstellungen für die besonderen Tage sind genauso detailreich wie exakt. Es gibt genau eine richtige Abfolge für ihn, wenn der 24.12. dann da ist. Er weiß, an welchem Punkt der Schlafanzug angezogen wird, wer den Kindern dabei hilft und wer in der Zwischenzeit die Geschenke aus dem Keller holt und aufbaut. Die Geschenke für jedes Kind müssen an bestimmten Stellen stehen, wenn sie das Wohnzimmer betreten. Für viele mag das seltsam und manipulativ klingen. Die Erklärung ist aber ganz einfach. Alle Dinge sollen so ablaufen, wie wir es beim ersten Mal, an das er sich erinnern kann, gemacht haben. Das gibt ihm Sicherheit in all der Aufregung. Dieselbe Sicherheit braucht er, wenn wir mit dem Auto nach Hause fahren, da müssen wir immer denselben Weg nehmen. Oder es ankündigen, wenn wir aufgrund von starkem Verkehr eine andere Route nehmen. Manchmal schummle ich bei Essen eine bestimmte Zutat oder ein Gewürz rein, weil wir genau diese Zutat beim zusammen Kochen mal nicht reingemacht haben. Wenn er mitbekommt, dass ich sie reinschummle oder es riecht (wie z.b. Zwiebeln), dann kann er das Gericht nicht essen. Nicht weil er es nicht mag, sondern weil es nicht sicher ist.
Für uns alle ist die Zeit vor Weihnachten anstrengend. Wir als Eltern begleiten ihn durch diese Aufregung, durch die Vorfreude, durch all die Gefühle. Auch durch die Trauer, wenn die Zeit dann vorbei ist. Durch den Gefühlsrausch, wenn er den Nikolausstiefel entdeckt. Durch den Frust, wenn seine Geschwister das mit dem Adventskalender falsch machen. In dieser Zeit geht so viel in ihm vor und nicht alles fühlt sich gut an. Und auch die guten Gefühle können einen Overload (Überreizung) und einen Meltdown (Zusammenbruch aufgrund von Überreizung) verursachen. Was ich so schade finde, denn Simon ist Begeisterung pur für viele Dinge, seine Freude ist so echt, so authentisch. Und wenn diese Freude zu viel wird und er sie nicht regulieren kann, kippt alles und es geht ihm nicht gut. Zumindest ist es das, was ich von außen sehen kann. Denn wenn er in diesen Zustand kommt, kann es passieren, dass er nicht mehr spricht oder die Worte nicht mehr findet. Er kann mir also gar nicht sagen, wie es ihm geht. Er kann es mir nur noch zeigen. Und selbst das ist so schwierig, wenn er doch selbst nicht weiß, was gerade in ihm vorgeht. Von uns allen ist es für ihn am anstrengendsten.
Wir Eltern sind froh, wenn es Januar wird und er ein bisschen Ruhe bekommt. Bis ihm klar wird, dass im Februar/März Fasching kommt und er sich darauf freuen kann, ein Kostüm zu tragen. Und dann geht es von vorne los.