Über Zugehörigkeiten, Zebras und eine Community am Rare Disease Day

by Simone

„Wenn Du Hufgetrappel hörst, dann denke alle an Pferde und nicht an Zebras.“ Eine Redewendung, die in der Medizin deutlich machen soll, dass häufige Krankheiten wahrscheinlicher sind als seltene, auch wenn die Symptome eines Patienten zu beidem passen würden. Für rund vier Millionen Menschen in Deutschland ist genau das ein Problem: Sie sind Zebras, denn sie haben eine seltene Erkrankung. So wurde das Zebra zum internationalen Symboltier für die seltenen Erkrankungen.” Quelle Willkommen in der Welt der Zebras am “Tag der seltenen Erkrankungen” 2023.

Sprechen wir zunächst über Zahlen. Fakt ist: Menschen mit einer seltenen Erkrankung sind eine Minderheit, aber mit 300 Millionen Betroffenen dennoch ein großer Teil unserer Bevölkerung. Deshalb gibt es auch den Hashtag #seltensindviele. Fakt ist auch, dass das Verhältnis von Erkrankten zu Gesunden in Europa bei 1: 2.000 liegt. Das führt dazu, dass Menschen mit einer seltenen Erkrankung wenig Zugehörigkeit erfahren. Betroffene und ihre Angehörigen brauchen eine Community. Ich bin Mutter eines Kindes mit einem sehr seltenen Gendefekt. Mein Kind ist eines von 15 Menschen weltweit. Wahrscheinlich gibt es mehr Betroffene – diese sind aber nicht gelistet. Ohne Diagnose gibt es also auch keine Community, keinen Austausch, kein „sich gegenseitig stützen“. Wir sind Zebras.

Menschen sind keine Einzelgänger. Menschen sind sozial. Wir wünschen uns Zugehörigkeit. Es ist vielfach wissenschaftlich erwiesen, dass soziale Kontakte einen großen Einfluss auf unser seelisches Wohlbefinden haben. Menschen mit seltenen Erkrankungen erfahren jedoch häufig gesellschaftliche Ausgrenzung. Sie entsprechen scheinbar nicht der gesellschaftlichen Norm, können körperlich oft nicht mithalten, benötigen Hilfsmittel, absolvieren zahlreiche Krankenhausaufenthalte und zu oft glaubt man ihnen nicht, weil ihre Erkrankung keine äußerlichen Merkmale aufweist.

Leider gibt es wenige Studien und Forschung zum Thema, aber einige wenige gibt es dennoch. Wie zum Beispiel die Studie von Dr. Petronilla Raila aus dem Jahr 2008 an der sich 1000 Betroffene beteiligten. Quelle

„Ganz deutlich tritt als schlimmste Auswirkung, noch vor der Krankheit und Behinderung selbst, die Ausgrenzung hervor. Zwei Drittel der Eltern haben nicht nur Erfahrungen mit der Ausgrenzung gemacht, sondern sie sehen dies auch als besonders schlimm an. Die Diskriminierung trifft die ganze Familie, Geschwisterkinder, Eltern und sogar Großeltern.“

Wir als Familie brauchen Verbündete. Ich schreibe hier als pflegende Mutter eines Kindes mit einem seltenen Gendefekt. Auch ich brauche dringend mehr gesellschaftliche Zugehörigkeit. Zugehörigkeit zum gesellschaftlichen System Familie, zur Arbeitswelt und zu Freunden. Oft fühle ich mich aber innerhalb des Systems einsam. Meine Alltagsprobleme sind anders als die bei anderen Familien. Meine Arbeitswelt muss flexibel sein und ich kann mich nicht mehr in derselben Art und Weise mit Freunden treffen wie früher. Ich passe wegen der seltenen Erkrankung meines Kindes auch als Angehörige nicht mehr in die Norm. Deshalb tut es mir gut, Kontakte zu einer Community zu pflegen. Zur Community der „Seltenen“. Es geht um das Verständnis für meine Art mein Leben mit einem Kind mit seltenem Gendefekt neu zu erfinden. Es mag sein, dass wir andere Wege gehen, aber wir haben mittlerweile gelernt, wie und wohin sie führen können. Aber, wir können sie nicht in Einsamkeit und Isolation bestreiten. Wir sind ebenfalls ein Teil dieser Gesellschaft. Zugehörigkeit gibt mir Sicherheit, Selbstbewusstsein, Kraft und Zuversicht. Der Austausch mit anderen betroffenen Familien gibt mir Handlungsspielraum und eröffnet auch Türen zu Therapie, Forschung und Entwicklung für meinen Sohn. Erkenntnisse über die Erkrankung führen voraussichtlich nicht zur Heilung, können aber neue Wege aufzeigen. Wissen ist Macht. Und nur, wenn wir Zugang zu diesem Wissen über die Community haben, können wir diese Möglichkeiten ausschöpfen und unseren Kindern eventuell auch bessere Zukunftschancen ermöglichen und Ängste abbauen.  Chancen wahrnehmen, wo vorher keine waren.

Mein Kind hat nicht nur eine Behinderung. Mein Kind hat einen seltenen Gendefekt mit komplexen und chronischen Erkrankungen. Auch ich habe Angst vor unsicheren Prognosen. Was mir hilft? Der Austausch. Die Community. Zugehörigkeit. Auch wenn es nur 15 Menschen auf dieser weiten Welt sind. So sind es doch 15. Ich stehe in regelmäßigem Kontakt mit einer Mutter in Großbritannien. Ich erinnere mich noch heute an die Nacht, als ich sie über ein soziales Netzwerk gefunden  habe. Wir haben die ganze Nacht gechattet. Damals war ihre Tochter Anfang 20. Und Jane hat mir so viel Mut gemacht. Sie war die Welt für mich. Sie hat mir von ihrer Tochter erzählt und mir damit eine neue Perspektive geschenkt. Sie war eine von 15 Angehörigen und hat meinem Leben so viel Leichtigkeit verliehen. Dafür bin ich bis heute dankbar. Es war eine prägende Erfahrung für mich. Plötzlich erfuhr ich Verständnis, Zuversicht und Mitgefühl ohne Mitleid. Dinge die für uns normal sind, sind für andere Familien oft nicht nachvollziehbar. Bei anderen Betroffenen sind sie ebenfalls Alltag. Plötzlich ist da kein Gefühl der Ausgrenzung mehr, sondern Zusammenhalt. Man kann gemeinsam lachen und Scherzen – auch über schwere Erfahrungen und sich Halt geben. Das geht aber nur, wenn man ähnliche Erfahrungen gemacht hat. „Ach echt, du hast auch immer Spucktüten in deiner Handtasche? Ich auch.“ Es tut gut ein Teil von Etwas zu sein. Deshalb schreibe ich heute über Zugehörigkeit am Tag der seltenen Erkrankungen. Denn auch wenn es wenig Betroffene gibt, so gibt es sie dennoch als gesellschaftlich relevanten Teil dieser Gesellschaft.

Wichtige Ansprechpartener und Datenbanken für betroffene Familien gibt es bei Achse e.V. / Leona e.V.

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