„Mama, rate mal, was es zum Essen gab! Rate!“ „Ich weiß nicht, vielleicht Pizza?“ „Neeeiheiiin!“ Simon lacht, als hätte ich einen wirklich lustigen Witz gemacht. „ Es gab Schnitzel und Spaghetti mit Tomatensoße. Beides, zusammen.“ „Echt?“ „ Ja, echt!!“ Er zupft sich Mütze und Schal vom Kopf, hängt die Jacke auf und stellt die Stiefel ganz ordentlich neben den Haufen Schuhe, den seine Schwester erst vor ein paar Minuten konstruiert hat. Aus dem Bad höre ich, wie er sich die Hände wäscht und wie er ruft: „Und in der Abschlussrunde gab es…“ dramatische Pause.. „Milchreis!“ Er kommt grinsend ums Eck.
Simon kommt immer recht spät am Tag aus der Tagesgruppe. Oder wie es im Fachjargon heißt: ein sozialpädagogisches und sonderpädagogisches teilstationäres Förderangebot für den Nischenbedarf von autistischen Kindern und Jugendlichen, „die sich in den entsprechenden Regelschulen aufgrund ihrer autistischen und sonstigen Erlebens- und Verhaltensweisen nicht zurechtfinden, obwohl sie dort ansonsten in der Lage wären, dem Bildungsgang zu folgen.“ (Quelle) Gemeint ist damit die Kombination aus förderschulischer Beschulung am Vormittag und Tagesgruppe mit sozialpädagogischer Betreuung und Förderung am Nachmittag, beides auf demselben Gelände, beides in derselben kleinen Gruppe von maximal 6 Kindern, dazwischen gibt es Mittagessen, engmaschige Begleitung, viel Engagement, viel Verständnis.
Als Simon so zwei oder drei Jahre alt war, hat er nicht viel gesprochen, außer der bei vielen Autist*innen üblichen Echolalie hat er keine Wörter benutzt und vor allem nicht kommuniziert. Er hat auf sprachlicher Ebene keine Verbindung zu uns aufgebaut. Ein Gespräch wie das über Schnitzel und Milchreis war damals jenseits jedes Erwartungshorizontes. Wir hatten schon innerhalb seines ersten Lebensjahres eine Ahnung, dass mit ihm „was los ist“. Spätestens als die Sprache rund um den dritten Geburtstag nicht da war, fiel zum ersten Mal der Begriff Autist zwischen mir und meinem Mann. Mit vier Jahren bekam unser Sohn in einem zugegebenermaßen sehr schnellen Diagnostikverfahren die Diagnose Asperger Syndrom, die wir und die meisten aus der Community lieber als Autismus-Spektrum bezeichnen. In der neuesten ICD-11 („International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems”) hängt an der Diagnose noch ein Störung dran, was mich persönlich aber sehr stört. Die Abkürzung Spektrum oder „sich im Spektrum befinden“ ist weithin anerkannt. Für uns war eine frühe Diagnose aus verschiedenen Gründen wichtig. Wir wussten von den Jahren mit seinem Bruder Lukas, der eine per Gentest bestätigte Diagnose der Trisomie 21 hat, dass für viele Institutionen nur das zählt, was auf dem Blatt steht (Rw). Und seien wir ehrlich, eine Diagnose unterstützt durch einen Schwerbehindertenausweis oder einen Pflegegrad ist den meisten leider immer noch am liebsten. Und meist gibt es aber SBA und PG eben nur mit Diagnose. Ein Teufelskreis. Jede Hilfe, jede Unterstützung durch Kassen oder Ämter ist wahrscheinlicher, wenn wir etwas vorlegen können. Die frühe Diagnose gingen wir auch deshalb an, weil wir von einer langen Diagnosestellung ausgingen, und diese dann gern beendet haben wollten, wenn es Richtung Schule ging. Ihr seht, wir waren sehr überzeugt davon, dass Simon Autist ist.
Ein weiteres Argument für eine frühe Diagnose war außerdem die Tatsache, dass sehr viele erwachsene Autist*innen, denen ich online folge, es immer wieder betonen, dass vieles anders und auch besser hätte laufen können, wenn sie die Diagnose schon früher gehabt hätten. Ich habe vor allem von Sahid, Jasmin und Nomi gelernt.
Wir gingen also mit sehr viel Vorlauf und einem guten Gespür dafür ins letzte Kindergartenjahr, was unser Kind kann und was wir ihm zumuten können. Während er dort keine Begleitung hatte, konnten wir uns das für die Schule nicht vorstellen. Viele fanden es übertrieben, aber für uns waren hier neben der Anforderungen im Unterricht vor allem die Umgebung und die sozialen Gegebenheiten eine Problematik, die er unserer Meinung nach nicht alleine bewältigen konnte. Wir bereiteten uns also auf den Antragsmarathon vor, als die ehemalige Kindergartenleitung uns diese Schule in Stuttgart vorschlug. „Schauen Sie mal, eine Klasse nur für autistische Kinder.“ Eine ganze Weile rumorte es in meinem Kopf und in meinem Herzen und ich hörte vor allem all die Stimmen, die sagten, dass ich meinem Kind Inklusion ermöglichen soll, dass er eine Gruppierung von gleichaltrigen Kindern, nicht von gleichen Kindern braucht. Gleichzeitig sah ich mein Kind, hielt mich für die Expertin (zusammen mit meinem Mann) für all das, was er brauchte, was er konnte, wofür er noch länger brauchen könnte und wo wir noch viel Geduld haben müssten. Und seien wir ehrlich, die Inklusion an Regelschulen ist -freundlich gesagt- ausbaubar. In der Realität gehen Eltern an ihre Grenzen und weit darüber hinaus, um all die Lücken zu schließen, die die sogenannte Inklusion im Schulbetrieb her gibt.
Diese Lücken ergeben nämlich eine Kette von Problemen, die wenn man sie weiter schiebt, immer, immer auf die pflegenden Eltern zurollt. Und die entweder von diesen auch gelöst werden müssen oder von ihr überrollt werden und dann eben damit leben müssen.
Als wir uns entschieden haben, dass wir uns um einen Platz in dieser Förderklasse bemühen wollen, war klar, dass wir dem Thema Inklusion in der Regelschule erstmal keine Chance geben wollen. Oder anders gesagt, dass Regelschule Plan B und C war, denn ein Antrag ist ja nie genug, deswegen gab es noch drei weitere Anträge und Anmeldungen. Ich war hoch schwanger und hoch depressiv, die Inklusion unseres anderen behinderten Kindes war im Kindergarten gescheitert, so dass wir auch da in die Förder-Richtung schon mal denken mussten, und ich sah mich selber nicht in der Lage, einen täglichen Kampf zu kämpfen. Ich war auch der Meinung, dass unser Sohn es verdient, erstmal einen guten Einstieg in das Thema Schule und Bildung zu bekommen, ohne dauerhafter Überreizung ausgesetzt zu sein. Wir wollten sehen, zu was er fähig ist, wenn die Umgebung optimal und unterstützend ist und er sich voll aufs Lernen konzentrieren kann.
Im „Vorstellungsgespräch“ betonen unsere Gesprächspartner*innen, dass es mehr Interessierte als Plätze gibt. Klar, bei einer Klasse von sechs Kindern im Alter von 6 bis 10. Aber auch, dass die Klasse für viele eine Möglichkeit ist, zuerst einmal anzukommen und dann weiter zu gehen, vielleicht in die Regelschule, vielleicht in eine andere Förderschule mit anderem Schwerpunkt. Das Streben nach Regelschule empfinde ich auf der einen Seite nach schwierig, weil es als die „richtige“, die „normale“ Art der Beschulung gesehen wird. Auf der anderen Seite hat auch mein Kind jedes Recht darauf, dass es wie die Nachbarskinder einfach über die Straße geht, um im Schulgebäude zu verschwinden anstatt jeden Tag lang im Bus zu sitzen, weil es die Beschulung, die ihm gut tut, nur im nächsten Landkreis gibt.
Mittlerweile ist Simon in der zweiten Klasse, er ist ein guter Schüler, seine Lehrerin beschrieb kürzlich alles als tippitoppi. Innerhalb der altersdurchmischten Gruppe erhält er alle Aufgaben, die seinem Wissens- und Bildungsstand entsprechen, er kann Pausen machen, er wird vor allem verstanden, wenn etwas nicht gut klappt. Das pädagogische Personal hat schnell seine Persönlichkeit erfasst, konnte seine Mimik lesen, seine Körpersprache. Sie konnten sich Zeit nehmen, ihn kennen zu lernen, Probleme zu lösen, Fähigkeiten auszubauen. Sie erkennen sofort, wenn was nicht stimmt und er in die Überreizung kommt. Manchmal wünsche ich mir, das wäre in einer Regelschule möglich, da isser wieder, der Gedanke. An den meisten Tagen bin ich aber einfach sehr dankbar. Aus diesen umständlichen Beschreibungen in der Broschüre für die Schule am Vormittag und die Gruppe am Nachmittag sind Namen und Erlebnisse und eine Basis und eine Art zweites Zuhause geworden. Die Räumlichkeiten der Tagesgruppe sind wie eine Wohnung aufgebaut. Ein Esszimmer, ein Wohnzimmer, ein Bastel- und ein Toberaum, ein großer Garten, den sie sich mit den anderen Gruppen teilen. Unser Sohn ist an vier Tagen ganztags in Schule und Gruppe, ane einem bis nach dem Mittagessen und es gab nicht einen einzigen Tag in den letzten 1 ½ Jahren, in denen er nicht in die Schule wollte. Er hatte niemals Angst dorthin zu gehen, fast schon im Gegenteil, ist er enttäuscht, wenn er zu krank dafür ist. Er hat Freunde gefunden (ja, nur männlich gelesene Kinder), er übernimmt gerne Aufgaben und Verantwortungen, er arbeitet zusammen mit den Betreuer*innen an sich. Und er hat nie, niemals das Gefühl, nicht dazu zu gehören oder falsch zu sein. Für uns als Eltern ist das einfach ein wunderschöner Gedanke, dass unser Sohn gut aufgehoben ist und wir ihn ohne existentielle Sorgen in den Tag entlassen können. Gleichzeitig ermöglicht die Gruppe ihm Teilhabe am öffentlichen Leben: Besuche in der Bibliothek, Ausflüge und Einkaufen im Supermarkt gehören genauso zum Tagesprogramm wie Reflektion und das Annehmen der eigenen Behinderung. Außerdem werden 6 Wochen Ferien im Jahr mit einer Ferienbetreuung abgedeckt. Für uns kosten- und aufwandsfrei. Ich liebe es.
Ich bin so glücklich darüber, wie gut es ihm geht, und weiß gleichzeitig, dass es nur noch ein bisschen Glück auf Zeit ist. Denn je besser er zurecht kommt, desto eher wird er ein Kandidat, um weiter zu ziehen. Sehr wahrscheinlich erst in ein paar Jahren, aber ihr wisst ja, wie schnell die vergehen. Bis dahin wird die Inklusion immer noch nicht sehr viel weiter sein, aber unser Sohn ist dann gestärkt und konnte sich ein paar Jahre darauf konzentrieren, zu lernen und ein Teil einer Klasse zu sein. Er konnte sich daran gewöhnen, dass es Regeln im Klassenzimmer gibt und er konnte lernen, auf sich selber zu hören, was er braucht und was ihm gut tut. Und dann schauen wir weiter.
Diese Art der Schule wünsche ich mir für alle Kinder. Auf die Kinder eingehen, sie fordern und fördern entsprechend ihrer Persönlichkeit und in kleinen Klassen. Leider ist das ja in unserem Schulsystem nicht vorgesehen. Stattdessen müssen die LehrerInnen versuchen in zu großen Klassen allen Kindern gerecht zu werden und können eigentlich nur scheitern. Ich habe sehr viel Hochachtung vor den LehrerInnen die jeden Tag für alle Kinder ihr Bestes geben und über ihre Grenzen hinausgehen.