Über (schulische) Integration in der Schweiz

by Simone

Heute begrüßen wir Nadine (Instagram: @inklu_do) mit einer weiteren Perspektive zum Thema inklusive Beschulung. Nadine berichtet von ihren Erfahrungen in der Schweiz. Ihre Tochter wird nun seit mittlerweile einem Jahr zuhause im Homeschooling beschult – Larina hat das Downsyndrom und ist 11 Jahre alt. Nadine berichtet sehr berührend über die Probleme mit der Inklusion, die ihre Familie ab dem Kindergarten dann begleiteten und warum sie sich letztlich für eine Beschulung zuhause entschieden haben.


Unsere Larina ist nun 11 Jahre alt, sie hat das Down Syndrom. Seit etwas mehr als einem Jahr unterrichten wir sie im Homeschooling. In einigen Kantonen der Schweiz ist das erlaubt, so auch bei uns in Bern. Wir haben ohne Probleme die Bewilligung bekommen. Aber so ganz freiwillig machen wir das nicht. Mir fehlen für Larina die Kindergruppe, der Turnunterricht, das gemeinsame Gestalten, die Lieder und Spiele, die Schulreise und einfach der tägliche soziale Kontakt. Den hatte sie mal! Sie durfte so selbstverständlich mit drei jährig in die Spielgruppe, wie vorher auch ihre beiden Geschwister. Die Kinder konnten mit ihr Inklusion lernen, sie hören, sie sehen, sie kennenlernen und sie ganz normal finden. Auch in der Kita hatten wir grosses Glück, Larina war voll dabei, ohne besondere zusätzliche Begleitung. Kein Wunder, dass auch der Kindergarteneinstieg hier im Dorf geglückt ist! Es war unglaublich berührend mitzuerleben, wie sich Larina jeden Morgen fröhlich vor dem Kindergarten in die Kinderschar einreihte! 6 Lektionen für eine Heilpädagogin wurden zu dieser Zeit als Maximum an Begleitung im Kanton Bern gesprochen. Trotzdem durfte Larina ihr Pensum bald aufstocken und fast so viel in den Kindergarten gehen, wie die anderen Kinder. Die grossen Mädchen nahmen sie so gerne mit ins Spiel und kümmerten sich rührend. Larina bekam auch Freundebücher mit nach Hause und wurde zu Geburtstagen eingeladen.

Mir schiessen gerade die Tränen in die Augen, wenn ich davon schreibe. Denn niemand hätte sich damals ausgemalt, wie sowas Grossartiges schon im zweiten Kindergartenjahr absolut traumatisch enden könnte. Stress durch eine lange Stellvertretung, Reaktion aller Kinder auf diese Herausforderung, Abschlusstheater, Schuljahresende… der Druck wurde immer grösser. Im absolut diskriminierend und defizitorientiert geschriebenen Schuljahresbericht über Larina zeigte sich die ganze Überforderung und Überlastung dieser letzten Wochen. Und in meiner scharfen Kritik dieses Berichtes zeigte sich ebenso Hilflosigkeit und Überlastung.  Ich finde jetzt wirklich keine Worte, die dieses Chaos, diese Schlammschlacht, diese masslose Ungerechtigkeit des nächsten Halbjahres beschreiben könnten. Mir zittern die Hände auf der Tastatur und mir bleibt die Luft weg! Ich möchte alles rausschreien, alles aufzählen, alle Schuldigen an den Pranger stellen!! Aber was bringts?

Larinas wundervolle 7 Jahre Integration im eigenen Dorf wurde mitten im 2. Kindergartenjahr beendet. Denn das kann man in der Schweiz. Wenn die Schule, also die Lehrpersonen, die Situation der Klasse nicht mehr tragen kann, darf Integration einfach aufgelöst werden. Dann ist das behinderte Kind das einzige, das man aus der Klasse werfen darf. Passende Argumente lassen sich immer finden, meist wird eine bessere Förderung des Kindes in einer heilpädagogischen Schule als Hauptgrund vorgeschoben.Und alleine da stand dann ein kleines Mädchen mit Trisomie 21, das zwar nicht reden konnte und Hörgeräte trug, aber genau verstand, dass alle anderen Kinder weiterhin in diesen Kindergarten gehen durften, nur sie nicht.

Larina hatte immer und für jeden ein Lächeln oder gar eine Umarmung übrig. Sie schenkte Liebe, versprühte Glück, verzeihte Fehler, ertrug Ungerechtigkeit, stand immer wieder auf, ging auf traurige und einsame Menschen auf der Strasse zu verschenkte ihren letzten Keks und war bis jetzt lachend Mittendrin und voll dabei. Jetzt stand sie da, alleine, von der Gesellschaft verlassen und aus ihrem eigenen Dorf ausgeschlossen. Und jedes Mal, wenn ich diese Geschichte aufzuschreiben versuche schwöre ich mir, dass es das letzte Mal ist. Die Geschichte geht noch weiter, mit Sonderschule und Privatschule. Aber egal wie ich es drehe und wende, es zieht mich hinunter und nimmt mir viel Energie weg. Und alle Lesenden macht es zwar betroffen, aber meist einfach ohnmächtig. Darum versuche ich auf unserem Instagramaccount @inklu_do einfach positiv zu inspirieren, diese grosse Freude und Neugier von Larina zu teilen und euch allen den Mut zu geben, Inklusion einfach anzupacken und durchzuziehen!

Wenn man Fahrrad fahren lernt ist es normal, dass man hinfällt. Deswegen schmeisst man das Fahrrad nicht gleich weg. Man stellt es auf und versucht es wieder. Also findet Lösungen, werdet mutig und kreativ, traut euch ganz unkonventionelle Dinge auszuprobieren und erhaltet die Integrationen! Schaut euch um, fragt nach womit ihr helfen könntet und hört gut zu. Denn gemeinsam schaffen wir Inklusion! Weil es ein Menschenrecht ist!

Ja, mit der UN Behindertenrechtskonvention wurde 2014 in der Schweiz allen Menschen mit Behinderung das Recht auf Inklusion zugesagt. Das Schulgesetz ist aber Sache der Kantone. So kann ein Kind mit Trisomie 21 im einen Kanton 100% begleitet werden und im anderen mit nur 6 Lektionen im Stich gelassen werden. Aber überall in der Schweiz hängt Integration von Einzelpersonen ab und kann fast jederzeit aufgelöst werden.

Herzliche Grüsse, eure Nadine

Ein Kommentar zu “Über (schulische) Integration in der Schweiz

  1. Leider seid Ihr nicht der Einzelfall. Bei uns lief es länger gut – aber jetzt nicht mehr und unser grosses Problem ist, dass bei uns Homeschooling nicht einmal erlaubt ist. Es wäre auch alles sehr schwierig für uns, da wir Bauern sind und mein Mann noch auswärts arbeitet – aber ich weiss nicht, wie sich die jetzige Situation überhaupt je noch zum Guten wenden kann. Unser Sohn mit Trisomie 21 ist soeben 13 Jahre alt geworden und im zweiten Jahr in der Sonderschule. Irgendwie hat er sich dort nicht zurechtgefunden und fällt nur negativ auf – zehrt allen die Nerven aus… Wir sind selber schockiert.

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