Heute ist der 02.04.2025, an diesem Tag feiern wir den Welt-Autismus-Tag. Wie viele andere Tage sollen sie für Sichtbarkeit sorgen und die Personen in den Fokus rücken, die so oft nicht im Fokus stehen. Unter anderem deswegen, weil sie selber oder ihre Pflegepersonen (bei Kindern) keine Kraft dafür haben, sich zu zeigen und ihre Geschichten zu erzählen. Umso mehr freuen wir uns, dass wir heute wieder Constanze begrüßen dürfen, die uns ansonsten auf Instagram durch ihren Alltag mitnimmt: @tim_tanzt_trotzdem.
Constanze hat uns schon vor einiger Zeit einen Text mitgebracht, in dem sie von Sandwichpflege für ihre Mutter und ihr Kind erzählt. Heute berichtet sie ausführlich über ihre letzte Eltern-Kind-Kur. Wir freuen uns, dass sie gerade uns diesen Text schenkt.
Der Weg dahin Hallo. Meine Name ist Constanze, 39 Jahre alt, Mutter eines autistischen Sohnes mit dem Namen Tim, 9 Jahre alt. Mit der Behinderung meines Kindes zu leben kann wunderbar und herausfordernd zugleich sein. Und dann kommt da immer noch das Leben obendrauf, das so voller Unvorhersehbarkeit deinen Alltag aufgrund des Zusammenspiels von Emotionen, Anstrengung, Hoffnung und Akzeptanz von Unvermeidlichem beherrscht.
Obwohl die aufwendige Betreuung sowie Pflege meines Kindes meine gesamte Energie und Aufmerksamkeit benötigt, gab es für mich genug Unvorhersehbarkeit in Form von Krankheit und Tod in den letzten Jahren, dass die Umstände nicht spurlos an mir vorbeigegangen sind. Drei Jahre pendelte ich 660km zwischen meinem Zuhause und meiner Heimat regelmäßig hin und her, um meine chronisch schwerkranke Mutter zu begleiten bis sie im Dezember 2022 verstarb. Die Balance zwischen diesem Akt und dem weiterlaufenden Alltag gelingen zu lassen, hat mich all die Kraft gekostet, die ich so schon kaum hatte.
So waren im Jahr 2020 mein Sohn Tim und ich zum ersten Mal zur Eltern-Kind-Kur gefahren. Der Stress um die Pflege und Betreuung meines autistischen Kindes, dazu Erwerbsarbeit, Haushalt, die Partnerschaft/Ehe und sich selbst dabei nicht aus den Augen zu verlieren zu dem Zeitpunkt – all das war arg gewesen. Meine damals noch lebende Mutter hatte erst vor kurzem ihre lebensbedrohlichen Diagnosen bekommen, eine schwere Herzoperation überstanden sowie eine Lungenembolie überlebt. Ich war am absoluten Limit, emotional und körperlich.
Eine Kur sollte es richten, mir wenigstens eine kleine Weile Entspannung sowie eine gewisse Flucht aus dieser Schwere des Lebens bieten. Eins vor weg: Das tat es auch.
Heute ist der 21.03.2025. Am Welt-Down-Syndrom-Tag lenken wir die Sichtbarkeit auf die Menschen mit Down-Syndrom (Trisomie 21), auf ihre Geschichten, auf ihre Erfahrungen und Barrieren, die ihnen in den Weg gelegt werden. In meinem Buch “WIR – Geschichten aus dem Alltag mit behinderten Kindern” erzähle ich unsere autobiographischen Geschichten, auch von den Diagnosen unserer Söhne. Heute habe ich euch die Geschichte rund um die Diagnose unseres Sohnes Lukas mitgebracht. Er ist mittlerweile 8 Jahre alt und die Diagnose und die Gedanken drumherum sind schon lange her, aber nie vergessen.
Das Buch bekommt ihr im Buchhandel oder bei meinem Verlag
Brimboriumverlag im Onlineshop. (Klick auf Bild)
Es ist Sommer 2022. Der pränatale Bluttest NIPT ist ab sofort Kassenleistung.
Er soll aber nur „in begründeten Einzelfällen bei Schwangerschaften mit besonderen Risiken” durchgeführt werden, hieß es. Voraussetzung für eine Kostenübernahme ist eine intensive ärztliche Beratung. (www.tagesschau.de/inland/nipt-test-trisomie)
Als ich 2016 mit Lukas schwanger war, begann alles sehr unkompliziert. Naja, bis auf die Bauchspeicheldrüsenentzündung, die ich in der siebten Schwangerschaftswoche hatte. Von der Schwangerschaft wusste ich vielleicht gerade zwei Wochen. Nach der lebensgefährlichen Entzündung und einer Woche Vollpumpen mit Antibiotikum kam ich zu Simons ersten Geburtstag pünktlich nach Hause. Ich sollte zwei bis drei Monate fettarm leben, um meine Gallenblase zu schonen und die Entzündung nicht wieder aufflammen zu lassen. Ich erinnere mich so gut an den Tag, der letztendlich zu meinem Besuch in der Notaufnahme führte: ein Ausflug mit David und Simon in den Park, erster Vatertag zu dritt, Burger und Pommes zum Mittagessen, danach zwei Stück Erdbeertorte auf dem Balkon. Das Fett hatte meiner Gallenblase den Rest gegeben, ein Stein steckte fest und alles hatte sich entzündet. Man sagte mir, dass meine Leber ein paar Tage später aufgrund der vielen Entzündungen möglicherweise aufgegeben hätte. Sie war in einem Zustand wie nach zehn Jahren Alkohol-Missbrauch.
Ich erzähle das nicht, weil es so eine schöne Erinnerung ist, sondern weil diese Erfahrung zur Schwangerschaft mit Lukas dazu gehörte, genauso wie die Übelkeit und der Bauch. Eine OP sollte für das zweite Trimester anstehen, ich hatte also ein paar Wochen, um mich um Simons Eingewöhnung bei unserer Tagesmutter Antje und um mich selbst zu kümmern (natürlich in der Reihenfolge, was sonst?). Dann kam der Anruf am Nachmittag nach der Nackenfaltentransparenzmessung. Das war einer der ersten Tests im Verlauf der Schwangerschaft auf Trisomie 21, die man damals beim Uterus-Arzt machen lassen konnte. „Hallo Frau Mendel, die Untersuchung und die Blutwerte waren auffällig, Sie sollten einen Pränataldiagnostiker aufsuchen. Am besten noch nächste Woche.“ Über die 13. vielleicht auch 14. Schwangerschaftswoche hinaus sieht man bestimmte Marker nicht mehr so gut. Ich hing also am Telefon und fragte bei drei bis vier Praxen nach einem kurzfristigen Termin. Niemand konnte mir helfen bis eine Praxis dann versprach, mich gleich noch mal zurückzurufen. Endlich klappte es und David und ich mussten eine Woche warten, um dann endlich in diesem sehr schicken Wartezimmer zu sitzen und vor uns hin zu murmeln. Ich murmelte: „Und wenn es jetzt so ist?“ „Dann ist es jetzt so.“ murmelte er.
Ein Gastbeitrag von Hannah (Instagram @wunderlauschen). Ich, Simone, durfte Hannah bei der Reha meines Sohnes als Therapeutin kennenlernen und habe unheimlich viel von ihr mitnehmen dürfen. Hannah schreibt auf ihrem Blog Wunderlauschen über Begegnungen und die Begegnung mit Hannah war für mich definitiv auch eine wundersame. Heute stellen wir einen Text von Hannah vor, der von der “Löffeltheorie” handelt. Gerade für mich als Mama von einem chronisch kranken Kind ist die “Löffeltheorie” für die Gestaltung unseres gemeinsamen Alltags unfassbar wichtig. Oft muss ich mir vor Augen halten, dass mein Kind eben nicht so viele Löffel zur Verfügung hat, wie ich und das muss dann auch im Familienalltag berücksichtigt werden.
Zu verstehen, was ein normaler Tag von einem chronisch kranken Menschen abverlangt, ist oft nicht einfach. Warum so viele Pausen notwendig sind, warum manchmal spontanes Umplanen sein muss, warum in den Therapien manchmal nicht mehr die volle Leistung möglich ist, warum bei neurodivergenten Menschen in scheinbar entspannten Gesellschaftssituationen das Maskieren und Anpassen so viel Energie braucht, warum dann manchmal nicht mehr mehr als Tablet schauen möglich ist usw. Um das etwas verständlicher zu machen, hat Christine Miserandino die Spoontheory, also die Löffeltheorie, aufgestellt. Demnach hat ein chronisch kranker Mensch eben nur eine sehr begrenzte Anzahl an Löffeln, die hier die Energie darstellen sollen. Unterschiedliche Aktivitäten brauchen unterschiedlich viele Löffel. Entsprechend schneller oder langsamer können dann auch alle Löffel – und damit die Energie – aufgebraucht sein.
Für eine genauere Erklärung und die Geschichte dahinter könnt ihr gerne dem Link folgen.
In meiner Arbeit als Logopädin mit schwer mehrfach behinderten und chronisch kranken Kindern hilft mir das immer wieder. Wenn das Kind schon völlig fertig in meine Stunde kommt, nicht mehr mit Anforderungen umgehen kann, schnell wütend wird, verweigert oder weint, überlege ich manchmal, wie viele Löffel das Kind an dem Tag wohl schon gebraucht hat und wie viele entsprechend noch übrig sind. Oder ob überhaupt noch welche übrig sind. Meistens machen die Reaktionen des Kindes dann absolut Sinn. Entsprechend kann ich dann anders darauf eingehen und wir schwenken entweder zu einer einfacheren oder entspannten Aktivität um oder wir brechen manchmal auch die Stunde ab. Dann müssen erst wieder Löffel aufgeladen werden, bevor wieder etwas anderes möglich ist.
Aus solchen Situationen ist der folgende Text entstanden. In diesem Sinne: passt auf eure Löffel auf!
Löffeltage
ich wache auf
und zähle meine Löffel
was habe ich heute vor?
was kann ich heute tun?
ich zähle meine Löffel
einen fürs aufstehen
einen fürs aufs Klo gehen
einen fürs frühstücken
einen fürs Rollstuhl an den Tisch rücken
zwei fürs Zähne putzen
zwei fürs Haarbürste benutzen
zwei fürs Anziehen
zwei fürs mentale Vorbreiten für die Therapien
drei Löffel fürs kurz nach draußen gehen
eine Runde drehen
und dann kann ich fast nicht mehr stehen
Zeit für die erste pause
ich richte mich wieder auf
und zähle meine löffel
was kann ich heute machen?
was erlauben meine Löffel?
Ich zähle meine Löffel
einen fürs in den Rollstuhl setzen
einen fürs mich dabei am Schienbein verletzen
einen für den weg aus dem Zimmer
einen für ein kleines Gespräch – das geht nicht immer
zwei für den weg zur Therapie
zwei für die Pollenallergie
zwei fürs Rucksack auf der suchen nach einem Taschentuch verfluchen
zwei fürs ewige Mülleimer suchen
drei Löffel fürs in den Therapien maskieren
immer wie erwartet reagieren
und nicht die Konzentration verlieren
aber leider keine Zeit für die nächste Pause
ich gehe im Kopf den Tag kurz durch
und zähle meine Löffel
was bleibt mir nachher noch übrig?
was kann ich noch für mich machen?
Ich zähle meine Löffel
einen fürs im gang auf die nächste Stunde warten
einen für den Weg durch den Garten
einen fürs Katze kraulen
einen fürs Mama wegen meiner Müdigkeit anmaulen
zwei fürs laute Geräusche aushalten
zwei fürs dabei immer wieder auf ein Gespräch umschalten
zwei fürs Erkennen dass sie mich überfordern
zwei fürs Pause einfordern
drei fürs Pläne umwerfen
die kritische Löffellage entschärfen
und mich ins Bett werfen
ich hätte heute gerne noch gelesen
oder wäre draußen in der Sonne gewesen
ich hätte noch Kaba trinken wollen
oder mich lachend durchs Bett rollen
ich hätte gerne noch mit Mama gespielt
oder mit Papierkügelchen auf den Mülleimer gezielt
heute waren aber die Löffel schon aus
schlecht geschlafen und schon bin ich raus
zu lange mit Katze kraulen beschäftigt gewesen
blieben also keine Löffel mehr zum lesen
mich in den Therapien zu sehr angepasst
sind gleich noch mehr Löffel für heute verblasst
entweder oder ist es meistens nur
und fast nie ein und
und stelle ich mich einen Tag stur
bleibt am nächsten Tag ein kleinerer Löffelbund
ich kann nicht immer alles leisten
brauche mehr Pausen als du
habe nicht so viel Energie wie die meisten
und trotzdem gehöre ich gern dazu
bitte nimm Rücksicht und gib auf mich acht
zusammen kriegen wir das hin
dann zeige ich dir was mich ausmacht
und was für ein lebensfroher Mensch ich neben meiner Krankheit bin
Die Zeilen von Air Supply klingen aus dem Musik Magneten am Kühlschrank, den ich meinem Mann zu unserem letzten Hochzeitstag geschenkt habe. Lukas liegt in meinen Armen, ich sitze am Esstisch, grade haben wir noch zu Abend gegessen. Sein Kopf liegt auf meiner Schulter und er singt mit. Klar und deutlich singt er Strophe 1, Refrain, Strophe 2. Zum nächsten Refrain steht er auf, nimmt seine Position ein und schmettert die Worte, die zum Klimax führen. Seine Posen passt er dem Text an, obwohl er ihn nicht versteht. Er versteht aber, dass es ein Lied mit ganz viel Gefühl ist und beschreibt mit seinen Armen große Kreise, während er den letzten lang gezogenen Ton beendet. Seine Hände landen übereinander gelegt auf seiner Brust und er schaut mich liebevoll an. Dann verbeugt er sich mit viel Schwung in alle Richtungen. Mein Mann und ich klatschen und rufen “Bravo, Bravo!”.
Danke an Bárbara für das Zusammenstellen dieser wunderbaren Graphik.
Wer ist eigentlich berufstätig unter den Pflegenden und aus welchen Gründen?
Bald ist wieder Equal Care Day, so wie jedes Jahr, und seien wir mal ehrlich: Wer von den pflegenden Familien hier auf der Plattform und generell schafft es, das 50/50-Modell zu leben, in einer Gesellschaft, die familiäre Pflege mit Ehrenamt gleichstellt? Selbstverständlich ist Pflegearbeit in unserer Gesellschaft ein Teil der Fürsorgearbeit! Und wer verrichtet 2025 die Fürsorgearbeit? Ganz genau – es sind immer noch vor allem die Frauen, was zu realen geschlechtsspezifischen Ungleichheiten führt, die sich über verschiedene Aspekte ihres/unseres Lebens ziehen. Das hat sowohl individuelle als auch gesamtgesellschaftliche Konsequenzen – und politische Ursachen.
Wir haben auf unserem Instagram-Kanal einmal nachgefragt, was euch beschäftigt in Sachen Erwerbstätigkeit und Pflege. 71 Antworten haben wir bekommen – vorwiegend von Frauen bzw. pflegenden Müttern. Und ihr habt geantwortet und erzählt, wie ihr euch mit dem Spagat aus Beruf und Pflege fühlt. Es gibt wirklich sehr viele Übereinstimmungen. Es ist ein Meinungsbild, dem wir (die Autorinnen – Simone, Anna und Bárbara) uns anschließen können. Lasst uns mal genauer hinsehen.
In unserem heutigen anonymen Gastbeitrag lässt uns eine Mutter an ihrem Denkprozess teilnehmen, den sie über die Jahre durchlebt hat. Für sie hat auch die Reflektion über die Bezeichnungen “behindert” und “mit Behinderung” viel dazu beigetragen. Danke, dass du uns deine Gedanken schenkst.
In diesem anonymen Gastbeitrag werden die Themen Essstörung, Suizidgedanken, Suizidversuche, Depression und Klinikeinweisung behandelt. Wenn du gerade mental verletzlich bist und diese Themen dich belasten (könnten), lies den Text bitte nicht oder komm zu einem späteren Zeitpunkt zu uns zurück.
Weißt du, was es heißt?
Weißt du, was es heißt, eine 13-jährige Tochter mit einer Essstörung zu haben? Weißt du was es heißt, wenn dein Kind so depressiv ist, dass sie nicht mehr leben möchte und konkrete Pläne aufschreibt, wie sie ihr Leben beenden möchte?
Es heißt, dass die Familie sowieso schuld ist. Der Vater, der beruflich viel unterwegs ist. Die Mutter, die ganz offensichtlich mit den vier Kindern überfordert ist und sich ja wohl nicht richtig kümmert. Vielleicht ist auch der kleine Bruder schuld, der ist doch Diabetiker und hat LRS und ADHS, der braucht bestimmt so viel Aufmerksamkeit, dass für die anderen Kinder keine Zeit mehr übrig ist!
Ein Gastbeitrag in Form eines Gedichtes von Simone. In ihrem Gedicht ergründet sie die gleichzeitige Präsenz von Liebe und Angst, die seit acht Jahren das Leben ihrer Familie prägen. Mit Ehrlichkeit beschreibt Simone die Herausforderungen und Freuden, die das Leben mit ihrer Tochter mit sich bringt, und zeigt, wie sich die stärksten Gefühle in jeder Minute abwechseln können.
Dankbarkeit Dass Du noch bei uns bist. 8 Jahre schon dürfen wir Deine Familie sein. Als vollkommenes, wunderschönes Mädchen wurdest Du in unsere Familie geboren. 4 starke Geschwisterhände halten Dich fest, wenn Du es brauchst. Fangen Dich auf, wenn Du fällst. Für immer. Deine Brüder könnten stolzer nicht sein.
Vor fünf Jahren hatte ich beinahe ein Inkassoverfahren am Hals, weil ich mehrfach vergessen habe, einen Sondenbody für mein schwerstkrankes Kleinkind zu bezahlen. Ich habe den Body im Internet bestellt, er kam irgendwann an und lag verpackt auf dem Küchentisch. Niemand packte ihn aus. Wir waren in der Klinik und dann in der nächsten Klinik und dann auf der Intensivstation und die Mahnungen flatterten rein und dann kamen wir nach Hause und ich packte die Koffer aus und wusch unsere Kleider und packte eine neue Kliniktasche. Ich kaufte Lebensmittel, bestellte Rezepte, rannte zur Apotheke, sondierte, wickelte, aß und trank nicht und vergaß die Rechnungen. Der Tag hatte nur 24 Stunden. Wir hatten keinen Pflegedienst. Ich hielt Nachtwache vor dem Monitor und dachte: ich muss heute die Rechnungen bezahlen. Morgen früh. Da werde ich sie überweisen. Ganz sicher.
Es wurde morgen früh. Mein Kind baute ab und ich warf die Kliniktasche ins Auto, packte den Rucksack und vergaß die Rechnungen. Ich fuhr ins Krankenhaus. Ich hatte vergessen zu tanken. Mein Kind erbricht sich auf dem Rücksitz. Aber ich muss tanken, sonst kommen wir nie im Krankenhaus an. Zeitgleich telefoniere ich mit der Kinderärztin und dem Krankenhaus. Mir fallen die Rechnungen ein. Ich schreibe meinem Mann, dass er nach dem Büro die Rechnungen bezahlen soll. Aber am Abend, als unser Kind wieder auf der Intensivstation liegt, haben wir beide die Rechnungen wieder vergessen. Ich bin wütend auf meinen Mann. Er kommt erst spät zu uns in die Klinik. Wir streiten. Wir haben keine Nerven für den Alltag einer normalen Familie. Wir streiten nie über die banalen Dinge im Alltag, sondern immer über existentielle Dinge. Wir streiten, wer erschöpfter ist, wer mehr von seinem Leben aufgegeben hat und wer die heutige Nacht in der Klinik übernehmen muss. Wir wollen überhaupt nicht streiten, aber wir sind am Rande unserer Belastbarkeit angekommen. Die Prioritäten haben sich verschoben von: wer zahlt wann die Rechnungen zu: wer sorgt dafür, dass unser gemeinsames Kind heute Nacht im Krankenhaus nicht verstirbt? Also werden wir abgemahnt. Aber nicht nur wegen der Rechnungen, sondern auch vom System, das uns hat fallen lassen.
Wir haben keine Zeit für den Alltag, aber er läuft weiter und frisst unsere Ressourcen. Oft zahlen wir drauf, weil die Rechnungen dann halt immer teurer werden und diese Rechnungen stehen auch metaphorisch für unseren Lifestyle. Einer zahlt immer drauf. Meist sind es die Mütter. Sind wir mal ehrlich. Wie oft habe ich meinen Mann beneidet, weil er statt ins Krankenhaus ins Büro gehen kann? Und wie oft hat er mich beneidet, dass ich bei unserem Sohn sein darf, während er arbeiten muss. Eigentlich sollten wir zusammen sein können. Zu dritt. Aber das geht nicht. Stattdessen zahlen wir drauf. Finanziell und mit unserer Psyche. Wir sehnen uns nach Gemeinsamkeit und streiten über den Mental Load. Wenn wir zuhause sind, versuchen wir dort anzuknüpfen, wo wir zuvor aufgehört haben und schaffen es nicht. Es ist zu viel liegen geblieben. Nicht nur die Rechnungen. Auch die Behördenbriefe, der Müll, die Wäsche, der Staub. Wir kommen völlig ausgelaugt zuhause an und wissen nicht wo beginnen. Alle wünschen uns ein schönes Ankommen zuhause. Wir fragen uns nur: wie um Himmels willen sollen wir zuhause ankommen, wenn unser Leben die Zwischenwelt ist? Die Berge von Verpackungsmaterialen erschlagen mich und machen die Wohnung wenig barrierefrei. Wenn ich jetzt einen Aufbewahrungsschrank im Internet bestelle, dann baut diesen wahrscheinlich nie jemand auch und die erste Mahnung liegt quasi schon im Briefkasten. Wir wissen nicht, wo wir diesen normalen Alltag einer Familie unterbringen sollen, neben dem medizinischen Wahnsinn, der Pflege und dem Überleben. Also zahlen wir weiterhin drauf, ohne uns zu beschweren. Ein Guthaben gibt es leider nicht. Schade Schokolade.
Ein Gastbeitrag von Mareike, Mutter eines Kindes mit Down Syndrom.
Wieder einmal steht der jährliche Check-Up meiner beiden Großen in der Universitätsklinik an. Beim Anblick des Gebäudes macht sich ein Unwohlsein bemerkbar, spätestens als die Kinder beim Passieren der Entbindungsstation sagen, dass hier ihre Schwester geboren sei, zieht sich meine Magengrube zusammen. Ich denke kurz daran, dass ich eigentlich immer, wenn ich hier bin, einfach mit dem Aufzug hochfahren, mich nach der Chefärztin der Neuropädiatrie erkundigen möchte, in ihr Büro stürme und sie eine blöde, emotionslose Kuh nenne. Auch heute werde ich es nicht tun, immerhin 6 Jahre nach der Geburt.
Damals fuhren mein Mann und ich bei einsetzenden Wehen ganz entspannt ins Krankenhaus. Beim dritten Kind ist man dann ja auch nicht mehr so aufgeregt. Die Hebamme war nicht gerade begeistert, da der Kreissaal gerappelt voll war. Sie wollte uns loswerden, da das Kind bestimmt noch nicht käme. Ich erwiderte, dass es spätestens in zwei Stunden da sei, und ich sollte recht behalten. Sie schickte uns Treppenlaufen. Als wir dann eine halbe Stunde später wieder auf der Matte standen, wollte sie mir nicht so recht glauben, legte mich auf ein Kreißsaalbett und verschwand in die Pause. Nur mit Mühe konnte mein Mann sie finden, als unsere Motte schon fast auf der Welt war. Diese Erfahrung brauche ich dann auch nicht noch einmal. Die Kinderärztin kam, untersuchte unser Kind und stellte fest: „Endlich ein gesundes Kind heute!“ Sie würde nicht recht behalten.