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Eine Hebamme, die sich mit behinderten Kindern, ihren Familien und deren Lebensrealität auskennt, die müsste es geben! dachte ich in der Schwangerschaft mit Kaiserin 2. Ich wünschte mir eine Begleitung während der Schwangerschaft und im Wochenbett, die Erfahrung mit der traumatischen Geburt eines behinderten Kindes hat und um die Belastungen und Freuden, die ein Familienleben mit einem behinderten Kind mit sich bringen, weiß. Dass es so eine Hebamme gibt – und sogar in unserer Stadt – habe ich erst sehr viel später erfahren. Antje ist genau diese Hebamme. Ich bin froh und glücklich, sie persönlich getroffen haben. Eine warme, offene, humorvolle und tiefsinnige Frau. Schaut euch ihre tolle Website an, lest ihre wunderbaren Antworten und fragt sie als Hebamme an. Ich jedenfalls würde sie mir sofort ins Wochenbett wünschen!
Name: Antje
Alter: 43 Jahre
Mutter von: Toyo (7 Jahre) und Anias (10 Jahre)
Beruf: Hebamme
Wir bewohnen ein großes, unperfekt aber liebevoll renoviertes – die Nachbarn würden sagen: abbruchreifes – Haus in einer Köpenicker Handwerkersiedlung. Unser Haus hat einen Garten und zwei große Öfen. Es macht 25 Prozent meiner Lebensqualität aus, dass ich im Sommer um halb sechs mit der ersten Tasse Tee im Garten sein kann und im Winter morgens ein Feuer anmachen kann.
Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?
Bevor meine Kinder kamen, hatte ich mehr Zeit, habe besser gekocht, mehr Musik gehört und war ein bißchen kultivierter. Hatte aber eben keine Kinder.
Wann hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?
Ich habe die Trisomie 21 von Toyo einen Tag nach seiner Geburt realisiert. Das, was in anderen Familien die Situation der „Diagnosevermittlung“ ist und oft als traumatisierend wahrgenommen wird, war bei mir fast schön und jedenfalls so, wie man es sich nur wünschen kann: Meine beste Hebammenfreundin war nach der Hausgeburt bei uns geblieben und hat geduldig gewartet, bis ich meine Sorgen äußerte. Ich hatte Angst, er habe eine lebensbedrohliche Stoffwechselstörung. Wir haben uns viel Zeit genommen, bis Nadja endlich sagte: Mensch Antje, jetzt schau doch mal hin! Und dann war das Down-Syndrom eher die Erleichterung.
Inwiefern ist Dein Kind behindert und welche Beeinträchtigung wiegt für Dich am schwersten?
Für mich definitiv das Schlimmste am Down-Syndrom ist, dass die zusätzlichen Erkrankungen manchmal so sind, dass man ein Kind mit Down-Syndrom wieder hergeben muss. Richtig schrecklich fand ich es, als Toyo lebensbedrohlich an einer scheußlichen Epilepsieform erkrankte. Da war nur Verzweiflung und eine Höllenangst.
“Eine Mutter liebt am stärksten ihr schwächstes Kind”, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das?
Ich liebe an meinen beiden Kindern ihre Schwächen. Ein unterzuckerter Hochbegabter, der frei dreht, lässt mein Mutterherz so hoch schlagen wie ein überforderter kleiner Zweitklässler, wenn er auf den Schulhof gekackt hat. Ich liebe auch ihre Stärken, ihre Coolness. Ich nehme sie voreinander und vor anderen in Schutz, das Geschwisterkind und das behinderte. Ich empfinde uns alle drei in einer Situation, die geprägt ist von vielem, unter anderem von Behinderung in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Was ich auch sehr an ihnen liebe und was ich sehr besonders finde, ist ihre Geschwisterliebe, die ich miterleben darf. Toyo: Ich bin Anst! darauf Anias: Du brauchst nicht Angst, ich halt Dich fest.
Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern?
Die DutenMooden-Umarmung von Toyo, der sich ehrlich freut, mich wieder zu sehen nach der Nacht. Und das Guten Morgen von Anias, über die Schulter, wenn er schon längst vertieft in irgendein Buch, irgendeine Idee ist. Und meine erste Tasse Tee im Garten, bevor irgendjemand Guten Morgen sagt!
Welches der anstrengendste?
Zwischen Abendbrot und Zähneputzen mit noch nicht gemachten Mathe-Hausaufgaben am 22. Zyklustag. Boah.
Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert?
Mein Alltag ist geprägt von den Kinderzeiten und -bedürfnissen. Ich versuche, das, was ich planen kann, so zu legen, dass meine Kinder in der Schule sind.
Womit ich zufrieden bin, ist ganz klar mein gutes Gefühl für die Menschen, die Toyo an der Freien Montessorischule begleiten. Ich vertraue ihnen sehr weit. Sie sehen Toyo. Ich habe das Gefühl, mein Kind mit ihnen gemeinsam zu erziehen. Das empfinde ich als sehr großen Luxus. Ich empfinde es immer wieder als schwer, Kinderbetreuung auf dem dünnen Eis einer beendeten Beziehung – also auf Groll, Enttäuschung und dem guten Willen, es doch irgendwie zu schaffen – organisieren zu müssen. Aber da hilft nichts. Das müssen wir schaffen.
Wie sieht Dein Arbeitstag aus? Wie kannst Du Job und Familie miteinander verbinden?
Ich genieße es, selbständig zu sein und mein Arbeitspensum beeinflussen zu können. Bei meiner Arbeit habe ich es meist mit Leuten zu tun, deren Herz gerade butterweich ist und die Verständnis dafür haben, wenn mein Kind kotzt. Außerdem wachsen bestimmte Qualitäten von allein. Letztens sagte mir eine Schwangere Es ist schön, dass Sie nicht mehr so jung sind. Das finde ich auch. Nicht nur die Zeit, auch meine Muttererfahrung und meine Söhne haben mich professionalisiert. Toyos Down-Syndrom hat nicht nur äußerlich zu der Spezialisierung auf besondere Kinder geführt. Bei mir landen viele ungewöhnliche Frauen. Und auch wenn eine leidvolle Geschichte sie ungewöhnlich macht, ist das das Salz in meiner Arbeitssuppe, ist das das Potenzial.
Vereinbaren kann ich Job und Familie, indem ich eine klare Priorität auf den Bedürfnissen der Kinder habe, nicht besonders reich werde und mit der Unterstützung von Einzelfallhelferin und wunderbaren Babysittern, die versuchen, Zeit zu haben, wenn ich am Wochenende los muss und die ich über das Pflegeergänzungsgesetz finanziere. Mir macht meine Arbeit meistens sehr viel Spaß – das hilft. Manchmal kann ich Job und Familie auch nur verbinden, indem ich Toyo die „Grill-Löffel“-DVD (Toyos Wort für Grüffelo) anschauen lasse und Anias da bleibt und auf ihn aufpasst und ich schnell zu einem Hausbesuch hetze. Damit fühle ich mich schlecht, ich habe immer Angst, dass etwas passiert und ein schlechtes Gewissen, dass ich Anias überfordere. Aber manchmal geht es nur so.
Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben? Reicht sie dir? Wie nutzt du sie?
Frag nicht danach! Seit zwei Jahren versuche ich, einen Tangokurs zu machen. Vielleicht klappt es diese Woche zum ersten Mal.
Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt? Wo siehst Du Verbesserungsbedarf?
Ich finde, dass es viel Unterstützung gibt, wenn man weiß, wie man dran kommt. Als Hebamme für besondere Familien sehe ich meine Aufgabe auch darin, über Unterstützungsmöglichkeiten zu informieren. Mit dem, was einem zusteht, kann man recht weit kommen – vorausgesetzt, man hat gelernt und die sprachlichen Möglichkeiten, es einzufordern. Die aufreibende Klotzerei, um all das zu beantragen, kostet mich viel Zeit und Nerven und auch Herzschmerz. Nach dem MDK-Besuch bin ich regelmäßig drei Tage krank.
Ich fühle mich manchmal sehr schlecht mit einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft, die mich und uns ihre Lebensfeindlichkeit spüren lassen. Da fühle ich mich dann plötzlich sehr als „alleinerziehend mit behindertem Kind“, worüber ich mich sonst nicht unbedingt identifiziere.
Eine Besonderheit empfinde ich sehr stark in dieser Gesellschaft als Mutter eines Kindes, dessen Behinderung man vorgeburtlich feststellen konnte: Ich bin immer wieder konfrontiert – und als Hebamme in fast jedem Mutterpass, den ich in die Hand nehme – mit dem Trend, Kinder wie meines „vermeiden“ zu wollen. Das schmerzt, das macht mich traurig, wütend und besorgt mich zutiefst. Ich finde es in Ordnung, Angst zu haben. Ängste in der Schwangerschaft sind normal und auch gerechtfertigt. Was mich stört ist, wenn Firmen sagen: Komm, wir packen Deine diffusen Ängste und Zweifel in eine kleine Kiste, schreiben „Down-Syndrom“ drauf und dann hast Du eine Handhabe dafür. Und die gesellschaftlichen Folgen ihres Profits in Kauf nehmen. Dazu gibt es noch viel mehr zu sagen.
Ich spüre einen Druck, alles möglichst gut hinzubekommen und nach außen zu vermitteln, dass das gut zu schaffen ist, um niemandem Vorschub zu leisten für das Argument „ein behindertes Kind zerstört das Leben der Mutter“. Als wenn meine Leistungsfähigkeit ein Argument für das Lebensrecht eines Kindes wäre. Also ehrlich: Ich würde es auch ganz ohne irgendein Syndrom nicht schaffen, mir regelmäßig die Augenbrauen zu zupfen. Aber oft vermittle ich natürlich auch meinen Patientinnen in einer Zeit, in der sie sich fragen, ob ihr Leben wegen einer Diagnose jetzt zu Ende ist, dass ich am Leben bin, Alleinverdienerin und so gut gelaunt, dass ich mir gerne ihre Ängste und Sorgen anhöre. Und das ist ja auch nicht nichts.
Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?
Inklusion ist von uns allen noch nicht zu Ende gedacht und gefühlt.
Bist du die Mutter, die du sein wolltest?
Ja, schon oft und im Großen und Ganzen. Ich wäre gerne noch ein bisschen fröhlicher und nicht so blöd hetzig. Einmal hab ich morgens eine Mutter beobachtet, die ihr Kind zur Schule schickte. Sie sagte: Mach langsam, hast doch Zeit! Ich habe sie so sehr bewundert.
Ein Gegenstand Deiner Kinder, den Du ewig aufbewahren wirst?
Vielleicht werde ich Toyos kleine braune adidas-Sneaker aufheben in Größe 25, oder sein allererstes – und bisher einziges – gegenständliches Bild eines erkennbaren Luftballons, das er mit 7 ½ Jahren gemalt hat. Ganz sicher mein Lieblingsfoto von den beiden.
Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest Du etwas anders machen?
Ich würde früher und konsequenter etwas für meinen Rücken tun.
Welche Träume hast du? Für deine Kinder, deine Familie – und ganz persönlich für dich?
Bei Sternschnuppen und ausgefallenen Wimpern immer noch reflexhaft: Gesundheit für die Kinder.
Ein Wunschtraum, den ich in den nächsten Jahren verwirklichen möchte, ist ein Fest, bei dem wir gemeinsam „Unterstützung“ feiern. Ich finde gegenseitige oder auch einseitige Unterstützung eine tolle Liebesform, die professionell und unprofessionell funktioniert. Ich möchte mit vielen Leuten, die uns unterstützt haben in den letzten Jahren, und mit Menschen, die ich unterstützt habe, feiern, dass das möglich ist.
Also, wenn ich wünschen darf: Die Traumfrau an meiner Seite kann singen, Pizza backen, den Jungs etwas Handwerkliches beibringen (Filme schneiden oder Instrumente bauen stünde hoch im Kurs) und hat einen Motorsägenschein für den Berliner Forst. Den kann ich zur Not aber auch selber machen.
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Inspiriert wurde ich zu dieser Interview-Reihe durch den Mutterfragebogen von Okka Rohd auf SLOMO.
Liebe Mareice, vielen Dank für diese tolle Serie mit den wunderbaren Frauen.
Liebe Antje, wir sind dankbar für deine wertvolle Arbeit. Gerade in der ersten Zeit beim Verarbeiten der Diagnose warst du mit deiner sympathischen Art und deinen fachlichen sowie persönlichen Kenntnissen ein großer Lichtblick für uns. Du bist in echt genauso beeindruckend wie deine Antworten hier.
Herzliche Grüße,
Cindy
sehr sympathisch.Man spürt irgendwie ganz viel Lebendigkeit und Fröhlichkeit beim Lesen.
Schön, dass es auch beim Lesen rüberkommt! Hab Dank für deinen Kommentar.
Ein tolles Interview, gerade was Antje zur Unterstützung der Gesellschaft gesagt hat stimmt mich nachdenklich, sehr gut beschrieben!
wunderbar! Eine Antje hätte ich mir bei der Geburt unseres Sohnes mit Extrachromosom auch gewünscht!
Sollte das nächste Kind auch eine Sonderausstattung haben, komme ich nach Berlin 🙂
Boa, was für eine tolle Frau! Superschönes Interview, sehr gerne gelesen.
Schön bei dir rein gelesen zu haben. So herrlich ehrlich, das mag ich sehr.
Alles Gute für euch drei !
Liebe Grüße
Andrea
wow, was für eine beeindruckende, mega-sympathische frau! sollte ich durch irgendeine seltsame universale fügung doch mal ein zweites kind bekommen, dann hätt ich die gern als hebamme <3