Was ich weiß.

by Mareice Kaiser

Mareice Kaiser
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Vor einigen Tagen habe ich über das geschrieben, was ich nicht weiß. In der Zwischenzeit ist einiges passiert. Noch immer weiß ich vieles nicht. Zum Beispiel, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass eine humanitäre Katastrophe vor dem LaGeSo nur haarscharf verhindert werden konnte, in dem sich hunderte freiwillige Menschen – organisiert von Moabit hilft – gefunden haben, die dort tagtäglich Großartiges leisten. Noch immer weiß ich nicht, warum dort nicht hauptamtliche Menschen genau diese Arbeit tun. Ich weiß nicht, warum die Politik es nicht schafft, Hilfsorganisationen zu schicken, die dort genau so professionell und empathisch arbeiten, wie die ehrenamtliche Helfer_innen in den vergangenen Wochen. Ich weiß nicht, warum ein Security-Mitarbeiter einen geflüchteten Jugendlichen vor dem LaGeSo geschlagen hat. Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, wie es sein muss, das eigene Kind im Meer zu verlieren. Wie es sein muss, nach vielen Tagen, Wochen und Monaten einer langen Flucht in Berlin anzukommen und keine Schuhe und davon brennende Füße zu haben. Ich weiß nach wie vor nicht, wie auch nur ein_e einzige_r Politiker_in mit offenen Augen und Herzen vor dem LaGeSo gewesen sein kann, ohne danach nicht sofort Konsequenzen anzuordnen, die unverzüglich umgesetzt werden. Damit das Notwendigste getan wird, nachhaltig und professionell.

Aber einige Dinge, die weiß ich mittlerweile. Es gibt Menschen, die gesehen, gefühlt und verstanden haben und danach handeln. Viele von ihnen durfte ich in den vergangenen drei Wochen kennenlernen. Mein Leben ist reicher durch sie geworden. Mit drei von ihnen habe ich Kreuzberg hilft gegründet. Es war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus. Jede von uns wusste: Nichtstun ist keine Option. Also taten wir etwas. Wir fanden einen großen Lagerraum zum Sammeln von Sachspenden, wir fanden Helfer_innen zum Sortieren, wir fanden Fahrer_innen zum Ausfahren der Spenden. Und dann war Kreuzberg hilft da. Vom Gedanken in die Tat, innerhalb einer Woche.

Dienstag, 1. Tag Kreuzberg hilft
“Für 100 Euro Bananen, bitte – gibt es dafür vielleicht einen Rabatt?” Die Fillial-Leiterin bei EDEKA schaut mich mit großen Augen an. Von unserer ersten Geldspende will ich Bananen für die geflüchteten Menschen vor dem LaGeSo kaufen. “Nein, einen Rabatt kann ich Ihnen nicht anbieten”, bedauert die Dame. Auch meine Erklärung, dass das Obst für geflüchtete Menschen sein soll, überzeugt sie nicht. Sie schaut im Keller nach und kann mir eine kleine Bananenkiste anbieten. “Die andere brauchen wir für die anderen Kunden”, sagt sie. Mein Elan, mit dem ich den Supermarkt betreten hatte, ist halbiert. Ich packe noch die Hälfte aller Äpfel der Obstabteilung in den Einkaufswagen und an der Kasse aufs Band. Während die Kassiererin das Obst einscannt, wird ein Mann hinter mir unruhig. “Zweite Kasse”, murmelt er; erst leise, dann immer ungemütlicher und lauter. “Kann ja wohl nicht wahr sein, dass die hier die ganze Obstabteilung leer kooft und dann auch noch die Kasse blockiert”, motzt er nun. Mit “die” meint er mich. Manchmal hasse ich Berlin. Während der Motzer zur zweiten Kasse – die nun geöffnet wird – geht, sehe ich die Ware in seiner Hand, die er unbedingt und ganz dringend bezahlen wollte: Zwei Bier.
Bei NETTO um die Ecke treffe ich auf zwei Frauen in roten T-Shirts, die Fillialleiterin und ihre Mitarbeiterin. Nach einer kurzen Erklärung schaue ich in funkelnde Augen: “Wir helfen Ihnen tragen. Nehmen Sie bitte alle Bananen, die in Ihr Auto passen” entscheidet die Fillialleiterin. Auch hier gibt es keinen Rabatt – aber helfende Hände, freundliche Worte und die Aussicht auf größere Mengen Bananen, wenn ich es rechtzeitig ankündige. Immerhin.

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“Bananen für 100 Euro, bitte.”

Der Einkaufswagen ist nun so vollgepackt, dass ich ihn alleine nicht mehr schieben kann. Ich rufe M. an, die sich auf unseren Aufruf nach Fahrer_innen gemeldet hat. Sie kommt zum NETTO und lädt das Obst zu den anderen Spenden, die sie gemeinsam mit ihrem Freund zum LaGeSo transportieren wird. Eine Stunde später bekomme ich eine SMS von M.: “Alles abgeliefert! Bis zum nächsten Mal!”
Zurück im Homage Store, in dem wir unsere Sammelstelle eingerichtet haben. Ich betrete den Keller und mir wird schwindelig. Kreuzberg hilft gibt es seit drei Stunden und das Lager ist voll – mit Sachspenden und sortierenden Menschen, die ich größtenteils noch nie gesehen habe. Lisa, die alle koordiniert, mittendrin. Eine wuselige Geschäftigkeit, ich traue mich kaum “Hallo!” zu sagen. Und ich kann es auch nicht, so groß ist mein Kloß im Hals.

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vorher

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mittendrin

Mittwoch, 2. Tag Kreuzberg hilft
Immer mehr Spenden kommen an und immer mehr Menschen, die helfen möchten. Minütlich landen die E-Mails in unserem Postfach. J. erstellt eine Liste, in die sich alle Helfer_innen für unterschiedliche Schichten eintragen können. Wir verschicken die Liste an alle, die sich bisher gemeldet haben. Eine halbe Stunde später schaue ich in das Dokument und sehe: Der komplette September ist voll besetzt.

Donnerstag, 3. Tag Kreuzberg hilft
Ich sitze mit F. im Auto. Hinter uns: Müllsäcke voller Kleidung, Schuhe, Rücksäcke, Hygiene-Artikel. Die Hälfte aus unserem Kreuzberg hilft-Lager, die andere Hälfte zusammengepackt von F. und ihren Eltern. F. und ich haben uns am LaGeSo kennengelernt. Wir treffen uns dort nun zwei Mal pro Woche und versuchen, zu helfen wo wir können. Sie spricht arabisch und weiß genau, was die dort wartenden Menschen gebrauchen können. Sie erzählen F. ihre Geschichten. F. erzählt sie mir. Im Auto haben wir eine halbe Stunde Zeit, F. berichtet mir von Familien, die auseinandergerissen wurden. Sie ist mittlerweile jeden Tag am LaGeSo. “Ich kann erst gehen, wenn ich weiß, dass alle Schlafplätze gefunden haben”, sagt sie mir. Vor zwei Tagen blieb eine syrische Frau übrig – F. nahm sie über Nacht mit zu sich nach Hause. “Oder soll sie etwa draußen schlafen?” F.s Frage ist rhetorisch. Am LaGeSo angekommen treffen wir B. Er ist dort, immer. Ich war noch nie am LaGeSo, ohne auf B. zu treffen. Er ist eine meiner LaGeSo-Konstanten. Heute habe ich eine gute Nachricht für ihn. Ich erzähle B. von Kreuzberg hilft und wir verabreden, täglich die aktuelle Bedarfsliste telefonisch auszutauschen, damit wir ihm die benötigten Spenden bringen können. Später erzählt mir F., dass sie B. schon zwei Mal ohne Schuhe getroffen hat. Beide Male kamen geflüchtete Männer, für die keine Schuhe im Kleiderlager der Caritas vorhanden waren. B. gab ihnen seine.
Zurück im Kreuzberg hilft-Lager packt A. zusammen mit drei anderen Helferinnen die Kisten nach B.s Liste. Kurz darauf fahren zwei Autos Taschentücher, Deos, Rasierer und Feuchttücher zum LaGeSo. Abends kommt eine SMS von B.: “Super!”

Freitag, 4. Tag Kreuzberg hilft
Unser Lager platzt aus allen Nähten, so viele Spenden sind bei uns schon angekommen. Unsere Konsequenz: Erst halbieren wir die Bedarfsliste, später entscheiden wir einen Annahmestopp. Wir halten eine Helfer_innen-Konferenz ab. Wir sind acht Menschen, die sich bis vor vier Tagen nicht kannten. Jetzt sitzen wir an einem Tisch, haben Computer oder Notizblöcke vor uns und denken uns Konzepte aus, wie wir unsere ehrenamtliche Arbeit optimieren können. A. ist für den Überblick im Lager zuständig. G. packt die Kartons, fährt sie aus und will wegen seiner Erfahrungen in den Notunterkünften in einen sozialen Beruf wechseln. C. schreibt eine Liste der Notunterkünfte mit Ansprechpartner_innen. E. wird sie anrufen und nach direkten Ansprechpartner_innen fragen. Neben den acht Menschen an diesem Tisch gab es in den vergangenen Tagen viele weitere helfende Hände, die oftmals auch ganz leise mitgeholfen haben. Unsere Website besuchen täglich über 10.000 Menschen. Wir bekommen jeden Tag hunderte von E-Mails. Es vergehen keine zehn Minuten ohne Leute, die mit Spenden unter dem Arm den Homage Store betreten. Täglich fahren Helfer_innen in mehrere Autos die Spenden von unserem Lagerraum zum LaGeSo und den unterschiedlichen Notunterkünften. Wir bauen Kontakte zu den Unterkünften weiter auf und arbeiten weiter an einer Struktur. Wir haben Begleiter_innen für einen Ausflug zum Olympiastadion mit geflüchteten Jugendlichen gefunden und Frisör_innen, die ihnen die Haare schneiden. Wir bekommen Presseanfragen, formulieren Absagen und sagen ausgewählt zu. Wir besprechen uns – per SMS, per Facebook, am Telefon, per Skype. Wir wollen bedachte Entscheidungen treffen, um nachhaltig helfen zu können.

HelpingHands

Helping Hands

“Ich bin so froh, dass Ihr Kreuzberg hilft gegründet habt!” sagt A. am Ende unserer Besprechung zu Lisa und mir. Lisa antwortet: “Du bist Kreuzberg hilft.”

8 Kommentare zu “Was ich weiß.

  1. Jeden Tag höre und sehe und lese ich über die Flüchtlinge, deren Situationen, Geschichten und ich warte auf Lösungen. Denn so viel Unglück und Not dieser tapferen und mutigen Menschen treibt mir fast immer die Tränen in die Augen. Und oft bin ich kurz davor den Glauben an Empathie und Hilfsbereitschaft zu verlieren, weil es auch so viele Negativstimmen gibt. Aber dank Frauen (und Männern) wie dir, von denen es leider viel zu wenige gibt, ist da etwas ganz Großes, für das sich alles lohnt und das nicht nur den Flüchtlingen sondern auch mir hilft.

    Danke für tolle “Arbeit” und so viel Liebe und Menschlichkeit. Du brennst dich in mein Herz damit.

  2. LIebe Mareice
    danke. Und jetzt geht es den Schritt weiter. Welcome refugees Organisationen aus Spanien und Belgien haben uns heute nach Best Practices gefragt. Und wir haben von euch erzählt.

  3. Ihr seid wirklich großartig. Ich ziehe meinen Hut vor Euch, Eurem Engagement, Eurer Hilfsbereitschaft mit dem Wunsch, nachhaltig zu helfen. Viel lieber lese ich hier von Euch, als auf Facebook diverse Kommentare von Menschen, die leider zu wenig wissen und zu leicht zu beeinflussen sind.
    Danke!!

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