Name: Gaby
Alter: 52 Jahre
Mutter von: Selina Johanna (27 Jahre) und Fiona Marie (11 Jahre)
Oma von: Noah Immanuel (18 Monate)
Ich wohne in Langenfeld im Rheinland. Eine wenig schöne Stadt mit ca. 60 000 Einwohner*innen. Ich liebe dieses Nest von Herzen, denn ich bin hier geboren, tief verwurzelt und in einem guten Netzwerk mit wundervollen Menschen bestens aufgehoben. Kurz nach der Geburt von Fiona haben wir ein Reiheneckhaus in ganz ruhiger Lage und zentrumsnah (nein, das ist hier nicht paradox) gekauft. Mit Garten. Fiona kann toben, Fußball spielen, schaukeln. Im März 2015 konnten wir das Haus direkt nebenan erwerben. Ein riesiger Glücksfall. Das braucht man manchmal einfach: Glück.
Wir bauen um. Seit Monaten. Fiona wird mittelfristig in unserer Nähe leben können mit einer Pflegekraft. Später einmal soll sie sich weiter von uns entfernen. Aber so weit sind wir noch nicht…
Beruf: Lektorin. Ich würde es Job nennen.
Berufung: Den Spunk suchen.
Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?
Abenteuerlich. Nie langweilig. Also eigentlich, was das betrifft, nicht wesentlich anders als heute. Einzig: Ich habe mir zuvor die Abenteuer selbst ausgesucht, hatte sie selbst zu verantworten, konnte Wege und Ziele planen, absehen, wann ich wo voraussichtlich ankomme und welche Hürden mich erwarten. Mit Selina wurde das schon anders. Ich hatte neben Plan A auch schon die Pläne B und C im Hinterkopf. Seit Fiona da ist, erinnert mich mein Bildschirmschoner mehrmals täglich: „If plan A didn’t work, the alphabet has 25 more letters. Stay cool.“
Bevor die Kinder kamen, bin ich viel gereist, war oft lange weg aus Deutschland, habe studiert, war politisch aktiv, habe Theater gespielt und und und… Mit Selina wurde nur das Reisen ein bisschen weniger. Seit Fiona da ist, frage ich mich, wie ich jemals mein altes Leben auch nur eine Sekunde als stressig empfinden konnte. Oder wie ich glauben konnte, dass es mir an Freiraum fehlt. Der Gedanke lässt mich über mich selbst schmunzeln.
Als Selina kam, war ich mitten in meinem ersten Studium. Mit ihr habe ich das Examen gemacht, mit ihr bin ich in den Beruf eingestiegen, mit ihr konnte ich eine nette, angenehme Karriere als Lektorin in einem kleinen Kölner Verlag durchlaufen. Nach der Ankunft von Fiona hat es kein halbes Jahr gedauert, bis mir klar wurde, dass ich meinen Teilzeitjob in Elternzeit aufgeben muss.
Wie sieht dein Alltag heute aus?
Mit Fiona habe ich komplett neu angefangen. Sie bestimmt den Tag, die Woche, den Monat und jede Nacht. Sie macht meine Abenteuer: 112 anrufen, Klinikaufenthalte, durchwachte Nächte, Streiten mit Institutionen, Kämpfe um Dinge, die uns zustehen, Löwenmama-Dasein, ruhige Momente genießen, unendliche Freude über kleine Fortschritte, sich selbst erst richtig kennenlernen und darüber erschrecken oder stolz sein – je nach Grenzgang des Ichs.
Meinen Job habe ich an den Nagel gehängt. Dafür hat Fiona mir ein neues Abenteuer geschenkt: Den Freiraum, den ich mir nehme, um Kraft zu tanken – mein Studium. Ich habe angefangen, meinen Kindheitstraum wahr werden zu lassen und studiere Medizin. Das ist Fionas Geschenk an mich. Ich muss zwar viel jonglieren mit der Uni, den Veranstaltungen, den Profs, aber ich kann immer für sie da sein und mache trotzdem mein ganz, ganz eigenes Ding, das ohne sie womöglich immer nur ein Traum geblieben wäre.
Wann und wie hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?
Die Tatsache wuchs langsam mit Fiona. Sie hatte einen schweren Sauerstoffmangel erlitten, schon vor der Geburt. Ein medizinischer Fehler. In der Klinik war immer „alles in Ordnung“. „Das Kind kommt schon, wenn es das will“… blablabla. Nix passierte. Und dann wurde sie per Notkaiserschnitt in der 43. (!) Schwangerschaftswoche geholt – leblos. Reanimiert. Säuglingsintensivstation. Hypoglykämische Krämpfe. Organversagen.
„Ob sie die nächste Nacht überlebt, ist fraglich.“ Sie hat überlebt.
„Sie wird vermutlich nicht laufen können und geistig behindert sein.“ An der Stelle erinnere ich mich, dass ich schrecklich geweint habe und dachte, dass ich gar nicht weiß, was ich darüber denken soll. Ich war todtraurig, aber eigentlich noch total ahnungslos. Und dann habe ich monatelang nur funktioniert. Wirklich. Wie eine Maschine. Ich habe teilweise gar nichts gefühlt. Nur manchmal, meist wenn ich in der Dusche stand, kam das Weinen und wollte gar nicht mehr gehen. Dann schossen all die Bilder und Gespräche von der Zeit um die Geburt herum unsortiert und ungefiltert durch meinen Kopf – dann habe ich mich gespürt. So traurig und so voller Schmerz wie nie zuvor in meinem Leben.
Heute läuft Fiona. Unsere kleine Wundertüte. Sie hat so viel geschafft. Dabei wussten wir während ihres ersten Lebensjahres nicht, was aus unserer Fluse wird. Sie unterschied sich kaum von den anderen Kindern. Ein bisschen schlapper, ein bisschen mehr Schielen, ein bisschen wenig Gebrabbel. Nichts von Belang. Aber die Schere wurde immer größer, die anderen Kids entwickelten sich immer weiter, während Fiona intellektuell damit einfach aufhörte. Die geistige Behinderung manifestierte sich. Epileptische Anfälle kamen hinzu und häuften sich. Und so wurden anfängliche Vermutungen zur Realität.
Es gibt also keinen spontanen Gedanken zu einem konkreten Moment. Wir sind mit ihr dort hinein und daran gewachsen. Die Flashbacks sind weg. Weinen muss ich trotzdem immer noch oft.
Inwiefern ist dein Kind behindert und welche Behinderung wiegt für dich am schwersten?
Am schwierigsten finde ich, dass Fiona nicht sprechen kann. Ich würde so gerne wissen, was sie denkt, empfindet, fühlt. Wir sind sehr aufmerksam geworden, lesen ihre Gesichtsausdrücke, Körperhaltung und Stimmungen wie Sätze. Wir sind darin ganz schön gut geworden, finde ich. Aber wenn etwas sie quält, wenn sie Schmerzen hat, ihr unwohl ist, dann können wir immer nur raten. Das tut weh. Allen.
“Eine Mutter liebt am stärksten ihr schwächstes Kind”, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das?
Nein. Ich liebe meine Große so unendlich wie die Kleine. Bis zum Ende des Universums und zurück. Aber für die Große musste ich nicht so stark sein. Ich bin da, wenn sie mich braucht, aber sie kann alles alleine. Die Große macht ihr Ding. Sie geht ihren Weg. Das tut die Kleine auch. Aber eben nicht allein. Die Bindung ist fester. Die Liebe aber nicht größer, nicht inniger. Die Liebe zu meinen Mädchen ist so unterschiedlich in ihrer Art und so gleich in ihrer Tiefe.
Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welches der anstrengendste?
Da gibt es keinen bestimmten Zeitpunkt am Tag. Wenn meine Große mit ihrer kleinen Familie kommt, bin ich immer glücklich. Wenn Fiona zu Hause ist, bin ich immer angestrengt. Glück ist frei und leicht und ohne Last und Sorge. Ich muss aber immer aufmerksam sein, immer aufpassen, dass sie sich oder mich nicht verletzt.
Natürlich gibt es schöne Momente: Wenn wir rumalbern und sie so richtig herzlich lacht und kichert – das ist wunderschön. Leider oft ganz schnell zu Ende, weil sie vor lauter Übermut um sich schlägt. Dann ist es ganz schnell schmerzhaft und vorbei mit dem Hauch von Glück.
Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert?
Als Selina zur Welt kam, hatten wir noch zwei wundervolle Großelternpaare, die mit viel Liebe und echten Oma-Opa-Enkelin-Wundertagen die Zeit bis zum Kindergarten verzaubert haben.
Sechzehn Jahre später sah das ganz anders aus. Auch Omas und Opas werden mal müde…
In der KiTa mit Fiona war es eine ziemliche Katastrophe. Nein, ich war nicht zufrieden. Die KiTa nannte sich zwar integrativ, aber mit einer Motte wie der unseren waren die Menschen dort schlichtweg überfordert. Viele Male habe ich Fiona vorzeitig abgeholt, Ausflüge begleitet, mich darüber echauffiert, dass ihr Tempo nicht berücksichtigt wird.
Seit sechs Jahren besucht Fiona eine Förderschule. Sie wird morgens abgeholt und kommt gegen 15:30 Uhr mit dem Bus nach Hause. Die Schule ist eine Oase, die Menschen dort richtig klasse.
Einzig: Der Träger ist der Kreis Mettmann. Der hat kein Geld. Also gab es zunächst keine Betreuung in den Schulferien. Zumindest nicht so wie im offenen Ganztag. Da wir da direkt zu Anfang von Fionas Schulzeit initiativ geworden sind, konnten die Eltern, gut unterstützt von der damaligen Schulleiterin, erreichen, dass zumindest für die Hälfte der Schulferienzeit sowie an Freitagnachmittagen eine Betreuung der Kinder von einem freien Träger – in unserem Fall der Lebenshilfe e. V. – übernommen wird. Einen Teil der Kosten übernimmt der Kreis, einen Teil die Eltern. Ich bin zufriedener, aber es ist nicht perfekt. Weil immer noch sieben schulfreie Wochen übrigbleiben – für Berufstätige nicht zu stemmen, zumindest nicht, ohne noch zusätzlich für Betreuung zu sorgen. Und das Geld muss man erstmal verdienen.
Wie sieht dein Arbeitstag aus?
Wie gesagt: Ich bin raus aus dem Job. Ein Vollzeitjob in der Medienbranche und ein behindertes Kind, das auch nachts zum Teil die volle Aufmerksamkeit braucht, das war nicht vereinbar. Anfangs noch viel weniger als jetzt, da Fiona zur Schule geht. Aber jetzt habe ich eben andere Pläne.
Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben?
Da ich studiere, würde ich sagen, ja, ich habe Zeit für mich. Und seitdem wir Mitte 2016 eine Behandlungspflege für die Nacht genehmigt bekamen, haben mein Mann und ich auch wieder Zeit füreinander. Essen gehen, Kino, Konzerte, Freunde treffen und immer wieder einfach schlafen, richtig schlafen – das ist so toll, und wir wissen es sehr, sehr zu schätzen.
Außerdem gehört meine Leidenschaft unserem Garten. In der Erde wühlen, Gepflanztes wachsen sehen, Früchte ernten und daraus Leckeres herstellen sind meine allerliebsten Lieblingsfreizeitbeschäftigungen. Ein bisschen wild sieht der Garten zuweilen aus. Wenn er einfach mal alleine wachsen muss. Aber das finde ich sehr schön.
Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?
Nein. Ausreichend unterstützt wären wir alle, wenn wir nicht mehr um Unterstützung bitten müssten. Wenn wir nicht immer und immer wieder um Dinge kämpfen müssten, die uns einfach zustehen. Wenn wir nicht mit diesem alles sagenden Unterton gefragt würden: „Wussten Sie das vorher?“ Allein, dass ein Mensch auf die Idee kommen kann, solch eine Frage zu stellen, zeigt, wie es um die gesellschaftliche Akzeptanz von behinderten Kindern und deren Familien gestellt ist.
Verbesserungsbedarf gibt es einfach überall. An allen Ecken und Enden der Gesellschaft und bei uns selbst. Wenn ich diese Frage beantworten würde, schriebe ich ein politisches Manifest.
Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?
Inklusion ist, wenn niemand jemanden anstarrt, weil sie oder er anders ist. Inklusion ist ohne Hindernisse. Inklusion ist barrierefrei. Inklusion kennt keine Hautfarbe. Inklusion kennt keine Grenzen. Inklusion ist Respekt gegenüber allem Anderssein. Inklusion macht eine Gesellschaft bunt. Inklusion ist die immerwährende Arbeit an sich selbst, Unbekanntes und Neues für sich zu entdecken und dann „total normal“ zu finden. Inklusion ist etwas Wunderschönes, Wertvolles und Bereicherndes.
Bist du die Mutter, die du sein wolltest?
Ich habe mir nie gedanklich vorab eine Mutterrolle entworfen. Das (Da-)Sein macht, was ich bin. Meine Kinder lenken mich. Und umgekehrt. Ich kann nicht mehr tun, als zu versuchen, immer das Beste und Richtige zu machen. Fehler und falsche Entscheidungen – auch gravierende – gehören dazu. So ist nun mal Leben. Ich bin mit mir zufrieden.
Wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest Du etwas anders machen, als Mutter und/oder als Mensch?
Nein. Nichts. Ich halte es mit der Piaf. Außerdem mochte ich noch nie Energie in Gedanken stecken, die mich nicht weiterbringen. „Hättewärewenn“ ist einfach nicht meins. Da bin ich sehr Kölsch: „Et kütt, wie et kütt. Et es, wie et es. Et hätt noch immer jot jejange.“ Gucken, wo man steht, und versuchen, das Bestmögliche daraus zu machen.
Ein Gegenstand Deines Kindes/ Deiner Kinder, den du ewig aufbewahren wirst?
Die ersten Schuhe, die ersten Strampler, die Briefe meiner Großen, die bunten Hand- und Fußabdrücke aus Gips von meiner Kleinen.
Welche Träume hast du?
Meiner Familie wünsche ich Gesundheit, Kraft, entspannte Momente. Das brauchen wir alle, um füreinander da sein zu können. Ich hoffe, dass wir immer in Frieden zusammenleben können, ohne hungern oder frieren zu müssen. Wenn wir das und uns haben, haben wir alles, was wir brauchen, und sind damit steinreich. Das ist Glück.
Für meine Große wünsche ich mir, dass sie ihre Träume leben kann und ihren Weg so geht wie bisher. Sie macht das schon. Sie ist wirklich toll.
Für meine Kleine wünsche ich mir auf immer liebevolle Begleitung durch ihr Leben, dass ihr nur Liebe begegnet, nichts als Schönes, dass immer jemand an ihrer Seite ist, der ihre Monster versteht, und dass ihre Reise ein wunderschöner ruhiger Fluss wird.
Ich arbeite weiter an meinem Traum. Wenn er eines Tages wahr wird, werde ich Kinderärztin sein.
Wenn nicht, suche ich weiter den Spunk.
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Herzlichen Dank, liebe Gaby! Noch mehr Mütterfragebögen gibt es hier.
- Und wie machst du das, Julia? - 21. April 2017
- Und wie machst du das, Anne? - 21. Februar 2017
- Und wie machst du das, Elisabeth? - 3. Februar 2017
Einfach nur DANKE für “ALLES INKLUSIVE”!
Ich lese das Buch gerade und bin zutiefst angerührt.
Liebe Kaisers,
meine besten Wünsche für eure kleine Familie, auch wenn eure Große nun nicht mehr sichtbar bei euch ist. In euren Herzen und Gedanken lebt sie weiter. Ich als Christin glaube fest, dass sie nun ein absolut beschwerdefreies und glückliches Leben bei Gott hat.
Ganz liebe Grüße, Konni
Hallo,
ich habe jetzt nach und nach alle Mütterinterviews gelesen, tolles Projet Danke an Mareice für die Durchführung danke an die Mütter, die so offen und ehrlich geantwortet haben!
Ein anderes, irgendwie dazu gehöriges Thema treibt mich immer wieder um. Ohne exakt recherchiert zu haben, scheinbar entscheiden sich viele Eltern/Mütter für eine Abtreibung, wenn sie von einer Behinderung ihres Kindes während der Schwangerschaft erfahren. Kognitiv kann ich mir die Gründe erklären, emotional macht mich das wütend und ich möchte die werdenden Eltern fragen: Wenn dein Kind mit 5, 15 oder 25 Jahren durch einen Unfall/eine Krankheit eine Behinderung “erwirbt”, würdet ihr dann auch eine Kalium-Chlorid Spritze setzen?
Das Thema ist emotional sehr belastet……
Vielleicht lesen ja werdende betroffene Eltern diese Interviews und bekommen damit noch weitere Impulse.
Ich habe jedenfalls den Impuls bekommen, mal genauer hinzuschauen, wann sich Menschen mit Behinderung für oder gegen Kind(er) entscheiden.
Liebe Grüße,
Anne
Schöner Beitrag. Danke für deine erfrischende Ehrlichkeit und hoffnungsvollen Worte.
Du bist genau die Mutter, die sich deine Kinder gewünscht haben. 😉
Das ist sie. Ich weiß das. Ich bin “die Große”. 🙂
.. ich hab die Tränen nicht verdrücken können sondern hab sie einfach laufen lassen..
Danke für den tollen Beitrag
Sehr sehr schade dass du Kinderärztin wirst. Jemand mit so viel Liebe, echter Warmherzigkeit und Wertschätzung für den einzelnen Menschen hätte für mich unbedingt in den pädagogischen Bereich gehört!
Bestimmt ist das auch eine gute Idee. Und in der Tat: Unterrichten liegt mir und macht mir sehr, sehr viel Spaß. Den Schüler*innen im Übrigen auch. Das eine schließt das andere aber ja auch nicht aus. Lehre an der Uni ist auch voll spannend. Haaach! Man kann so viele tolle Sachen machen! 🙂 Aber Kinderärztin zu werden wünsche ich mir nun schon seit 48 Jahren. Wird mal langsam Zeit! 😉
Danke für diesen Einblick. So toll geschrieben. Ich hab Tränchen verdrückt