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Um 21:50 Uhr klingelt das Telefon. Ich gehe ran. Hier ist die stellvertretende Pflegedienstleistung. Es tut uns leid, aber der Nachtdienst kommt heute nicht. Die Schwester hat gerade angerufen. Sie hat sich den Fuß umgeknickt und kann nicht zu Ihnen. Heute kommt also keiner. Ist das für Sie in Ordnung? fragt sie. Mir rutscht ein Nein raus. Nein, es ist nicht in Ordnung für uns. Kann denn keine Vertretung kommen? frage ich. Nein, antwortet sie. Die Kollegen müssten ja vorschlafen. So kurzfristig gibt es keine Vertretung. Ich sage, wir als Eltern haben doch auch nicht vorgeschlafen. Es tut ihr leid, sagt sie. Sie sagt, wenn etwas ist in der Nacht, können wir sie anrufen. Sie hat Bereitschaftsdienst. Ich sage nur: Darf ich sie anrufen, wenn ich vor Müdigkeit nicht mehr auf Josef achten kann. Kommen sie dann vorbei? Nein, antwortet sie. So meint sie es nicht. Wenn es Josef schlecht geht. Ich antworte. Dann rufe ich doch eher einen Arzt an. Auf Wiederhören. Auszug aus dem Blog 22 Monate
Anne und Uli sind die Eltern von Josef. Auf dem Blog 22 Monate berichten sie vom Leben mit Josef, von jedem Tag der 22 gemeinsamen Monate. Das Besondere an Josefs Leben ist, dass jeder seiner Lebenstage durch medizinische Dokumentationen beschrieben wurde – alles wurde im Krankenhaus, im Kinderhospiz, vom ambulanten Kinderpalliativ-Team und vom ambulanten Kinderintensivpflegedienst aufgezeigt. Anne und Uli haben alles gesammelt, mehrere Aktenordner sind gefüllt. Mit Anne habe ich über die Arbeit am Blog 22 Monate gesprochen.
Anne, Du und Deine Familie, wer seid Ihr?
Uli ist 41 Jahre alt, mein Mann. Wir kennen uns aus unserer Studienzeit. Er ist Ethnologe und Religionswissenschaftler. Seit 2012 arbeitet er in einem Wissenschaftsverlag. Er beschäftigt sich neben der Arbeit immer wieder mit dem Thema: „Das Fremde“. Aus ganz verschiedenen Perspektiven. Aus ethnologischer Sicht. Wie sehe ich als Mensch den anderen Fremden? Wie sieht der Fremde mich? Er macht die Bilder im Blog. Er verfremdet die Unterlagen und Dokumentationen von Josef. Wenn er es zu Hause tut, dann ist es eine sehr energetische Stimmung.
Klara ist zehn Jahre alt. Sie liest. Sie verschlingt Bücher. Sie ist sehr neugierig. Gleichzeitig zurückhaltend. Sie tanzt Flamenco und spielt Tennis. Sie liebt es Filme zu schauen, Cola zu trinken und Crepes zu essen. Sie spricht über ihre Gefühle und ist manchmal schon sehr reflektiert. Ich lerne sehr, sehr viel von ihr. Und schön ist sie.
Jette ist acht Monate alt. Bringt das Vertrauen ins das Leben wieder zu uns zurück. Sie ist geerdet. Neugierig. Beweglich. Sie beobachtet die Welt und greift sie sich. Sie wurde von ihrem Bruder geschickt. Davon sind wir überzeugt. Schön ist sie außerdem. Sie lacht so schön. Macht viel Quatsch. Ich liebe es, wenn sie plappert und Dinge entdeckt. Wem sie ihre Zunge herausstreckt und ganz wild ein Tuch über ihre Zunge hin und her streift um zu spüren, wie sich das Material anfühlt. Es ist einfach beglückend soviel Leben zu erleben.
Josef, vier Jahre, davon 22 Monate auf dieser Welt. Mit Josef konnte ich in die Tiefe schauen. In meine Tiefe und seine. Er hat mich in meinem Sein gespiegelt. Mir deutlich gemacht, das es wichtig ist bei sich zu bleiben. Darauf zu vertrauen, was ich spüre. Was gerade wichtig ist. Meine inneren Antreiber hat er in Frage gestellt. Er hat mich gelehrt gut zu atmen. Josef hat gezeigt, dass es wichtig ist sich den anderen Menschen zuzumuten. Sich nicht zu verstecken. Und das Aushalten habe ich gelernt. Auszuhalten, dass sein Lebensweg so war. Auszuhalten, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechterte. Es anzunehmen und bei ihm zu bleiben. Da zu sein. Nachsicht – Nachsicht mit anderen Menschen. Mir gegenüber fällt es mir immer noch schwer. Er war ein sehr verkuscheltes Kind. Sehr präsent. Josef hatte eine sehr enge Bindung zu seiner Schwester. Ein verschworenes Geschwisterpaar. Und schön war er. Seine Locken. Er hatte so einen schönen, kleine Leberfleck hinter seinem rechten Ohr. Unser geheimer Leberfleck. Den habe ich so gern geküsst.
Ich bin Anne, 40 Jahre alt. Studiert habe ich Rehabilitationspädagogik, Alte Geschichte und Philosophie. Dann habe ich eine eine Ausbildung zur systemischen Beraterin und dann zur Familientherapeutin gemacht. Nebenberuflich mache ich momentan noch eine Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Ich habe viele Jahre in der Beratung von Menschen mit Schwerbehinderung gearbeitet. Dann habe ich drei Jahre als Familientherapeutin gearbeitet. Mit Multiproblemfamilien. Vor Jettes Geburt habe ich mit psychisch erkrankten Erwachsenen Menschen gearbeitet. Damals schon im Studium (ich arbeitete in ehrenamtlich in einem Psychiatriebetroffenenverein), dann in der Arbeit habe ich mich sehr für die Selbstermächtigung der Menschen stark gemacht. Mir war und ist wichtig, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg findet. Mag dieser noch so befremdlich für uns sein. Mir war es wichtig, auf Augenhöhe zu arbeiten, dabei natürlich nicht den Blick zu verlieren, wenn es schwierig wird. Ich bin sehr neugierig. Neugierig auf andere Menschen, deren Narrative. Mt Josef war ich plötzlich der andere Mensch. Der, dem geholfen wird. Das hatte mich sehr irritiert. Es fühlte sich sehr befremdlich an, dass plötzlich andere Menschen über einen sprechen, mein Sagen beurteilen. Sich Meinungen bilden und über mich urteilen. Einfach so. Weil wir ein schwerstkrankes Kind hatten. Wir haben sehr hart um ein selbstbestimmtes Leben als Familie mit Josef gekämpft. Josef haben wir schnell in seinem So-Sein annehmen können. Natürlich auch mit Traurigkeit und Freude darüber, dass er da ist. Die Fremdbestimmung unseres Leben durch die aufwendige Pflege und die vielen Menschen in unserem zu Hause war das Schwierige. Manchmal kaum auszuhalten. Wir haben uns mit Josef oft gezeigt. Haben ihn in der Schule von Klara vorgestellt. Waren mit ihm draußen, wenn es ging. Hier unser Josef und wir. Waren so aber auch Zuschreibungen ausgesetzt: „Wäre es nicht besser, er wäre tot?“ „So etwas Schlimmes wünscht man noch nicht mal seinem ärgsten Feind.“ Oft gab es auch das Narrativ, mit uns Eltern stimme etwas nicht, sonst hätten wir nicht so ein krankes Kind.
Wo habt Ihr Euch mit Josef angenommen gefühlt?
Im Umfeld des Kinderhospizes Sonnenhof. Dort waren wir ab und zu stationär. Wenn der Pflegedienst ausfiel. Ich hatte dort das Gefühl, Josef wird so genommen wie er ist. Und wir als Eltern auch. Auch das ambulante Palliativteam hat uns in unserer lebensbejahenden Haltung mit Josef gestützt. Sie haben uns als Familie gesehen. Es ging immer darum, was wir als Familie brauchen um Josef gut tragen zu können. Ich glaube das ist uns wichtig, dass wir als Familie zusammen sind. Auf uns achten.
Wo und wie lebt Ihr?
In Berlin in einer großen Wohnung. Wir sind damals mit Josef und Klara von Falkensee nach Berlin gezogen, weil die Versorgung von Josef in Berlin besser war. Wir hofften so auf mehr Lebensqualität von uns allen. Wir wohnen gegenüber vom Kinderhospiz Sonnenhof. So hatten wir immer kurze Wege. Konnten trotzdem alle zusammen sein, auch wenn Josef in den Sonnenhof zog. Außerdem mögen wir Pankow Niederschönhausen. Es ist schön hier.
Wie war das nach Josefs Geburt?
Unser Leben hat sich mit der Geburt von Josef grundlegend verändert. Ich bin unendlich dankbar dafür. Er hat uns an unsere Grenzen und darüber hinaus geführt. Durch Josef habe ich gelernt, zu entschleunigen. Sein Tempo war sehr langsam und ruhig. Wollte ich mich auf ihn einlassen, musste ich mich anpassen. Ganz ruhig und langsam. Aufmerksam sein. Bei ihm sein. Damit keine anrollende Krise übersehen wird. Nicht übersehen wird, wenn er dann doch seinen Kopf dreht oder irgendetwas macht. Und dann wurde unser Leben durch die vielen Menschen (Pflegedienst, Therapeut*innen, ambulanter Kinderhospizdienst, Haushaltshilfe) auf den Kopf gestellt.
Euren Blog 22 Monate gibt es jetzt seit ein paar Wochen – wie kam es dazu?
Wir wollten zusammen etwas machen. Wir als Familie. Ich hatte schon immer etwas geschrieben. Aber irgendwie war es nur mein Narrativ. Uli drückt sich eher durch Bilder und Musik aus. Im September haben wir als betroffene Familie beim einem Weiterbildungs-Kurs zur “Palliativversorgung bei Kindern und Jugendlichen” vor Ärzten, Pflegekräften und Sozialarbeiter*innen gesprochen. Durch die Erfahrung zusammen über Josef zu sprechen, wurde der Wunsch nach einer Ausdrucksform immer stärker – dann kamen wir auf die Idee mit dem Blog. Durch die tagebuchartigen Eintragungen möchte ich den Prozess spürbar machen. In der Auseinandersetzung mit der schweren Schädigung von Josef und der Annahme, dass er nicht lange Leben wird. Dass es ein Leben im Sterben ist. Dann möchten wir auch spürbar machen, was es bedeutet. Konkret, wenn täglich Menschen ins Haus kommen. Zur Pflege. Wie es sich auf uns ausgewirkt hat. Dazu möchten wir ganz dicht an die Zeit heranzoomen. Es ist natürlich meine radikal subjektive Sichtweise. Gerade das soll es auch sein. Uli gestaltet seine Bilder dazu. Die ich sehr liebe. Klara wird vielleicht auch noch was machen. Der Blog ist eine Zusammenführung von unseren verschiedenen familiären Narrativen und radikal subjektiv. Das besondere an dem Blog ist, dass Josefs Leben tagtäglich dokumentiert worden ist. Durch Pflegeberichte, Doku des Palliativteams, Krankenhausaufenthalten, Kinderhospiz. Wir wollen die Lebenszeit von Josef tagtäglich spürbar machen. Kein Zeitraffer. Es aushalten. Tag für Tag. Dafür ist der Blog das richtige Medium. Kein Buch zum Vorblättern. Tagebuch habe ich immer schon geschrieben. Aus dem Bauch heraus schreiben und wieder Platz haben für neue Erfahrungen. Wie atmen.
Danke für das Gespräch und Euren Blog.
Wie in einen Sog; bin ich heute hineingeraten in eure Geschichte; körperlich gespürt; bitterlich geweint, danke für dieses Projekt, danke; so viel liebe ist da, und Sprachlosigkeit; werde Josef nie vergessen; mit tiefen Respekt! Klaudia Nessler
Vielen Dank für diesen Link. Ich lese den Blog seit Tagen und bin so berührt und dankbar für diese emotionale Leseerfahrung. Es berührt mich so sehr.
Danke für diesen Link! Das ist schwer zu lesen und auch gut zu lesen, dieser Blog. Danke.
Wow!
Wir haben uns auch alle Akten geben lassen.
Und: Kennt jemand in Pankow irgendeine (nicht dienstleistergebundene) „inklusionsorientierte“ Familien-/Selbsthilfegruppe für Austausch/Selbstvertretung für Familien mit pflegebedürftigen Kindern?
Danke für dieses Interview. Es hat mich tief berührt. Fühle mich so ruhig, dankbar und gleichzeitig sprachlos traurig, und klicke jetzt einfach rüber zu 22 Monate…