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Das schönste Mitbringsel von der Leipziger Buchmesse war ein Buch zum Fühlen. In die Hand gedrückt hat es mir Antje Mönnig, Gestalterin aus Leipzig. “Klapperlapapp – Formen und Oberflächen” heißt es und soll das erste Buch einer neuen Kinderbuchreihe sein. Ein anderes Buch von Antje steht bei uns bereits seit 2015 im Bücherregal: Unmöglich. Aber machbar. Antje macht Bücher zum Lesen, Hören und Fühlen. Ich habe mit ihr übers Buchmachen, Verantwortung im Design und über das Wort “normal” gesprochen.
Ein dickes Buch in schwarzem Einband. Es ist so schlicht, dass es genau deshalb die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Keine Illustration auf dem Cover, keine besondere Typographie, nichts. Nur kleine Erhebungen im Schwarz, die ich erfühlen kann. Keine Indizien, was für ein Buch ich da in den Händen halte. Ich drehe es herum und finde am Buchrücken doch noch Schrift: Unmöglich. Aber machbar. Inklusion von blinden und sehbehinderten Schülern steht da in zarter, weißer Schrift auf schwarzem Grund. Die Erhebungen vorne und hinten erkenne ich als Braille-Schrift, die so genannte Blindenschrift. Sie wurde vom Franzosen Louis Braille erfunden und besteht aus Punktmustern, die mit den Fingern als Erhöhung zu ertasten sind. Für mich als Sehende sind die Punkte nicht als Schrift zu entziffern.
Die Gestalterin Antje Mönnig wollte genau diese Unsicherheit provozieren, einen Perspektivwechsel. Nun bin ich es, die die Schrift nicht entziffern kann. Normalerweise sind es blinde und sehbehinderte Menschen, die mit unserer herkömmlichen Schrift nichts anfangen können. Aber, was ist eigentlich normal?
Da ist es wieder: >normal<. Dieses Wort verfolgte mich während meiner gesamten Recherche. Denn man kann nur aus dem Schöpfen, was man kennt. So hab ich alle Szenarien immer mit dem >normalen< Schulalltag oder Werdegang verglichen, wie ich ihn kenne.
Unmöglich. Aber machbar ist für Sehende gemacht – und vergisst dennoch nicht blinde und sehbehinderten Menschen. Auf einigen Seiten simuliert sie Augenerkrankungen, zum Beispiel den Grauen Star. Um zu visualisieren, wie Menschen mit Grauem Star sehen, hat Mönnig ein transparentes Papier in das Buch eingefügt, durch das die nächste Seite nur verschwommen zu erkennen ist. Beim Grauen Star entsteht der Eindruck eines verschwommenen und verschleierten Bildes, die Sehkraft wird dadurch eingeschränkt. Das Buch ist dadurch nicht nur eines zum Lesen, sondern auch zum Fühlen – und sogar zum Hören. Um den Inhalt auch für blinde und sehbehinderte Menschen zugänglich zu machen, ist dem Buch eine CD beigelegt, auf dem Bildbeschreibungen und Interviews zu hören sind.
Dieses Buch soll eine Tür öffnen. Um zu fühlen, zu erfahren und zu verstehen. Das Buch soll Fragen beantworten und wird gleichzeitig neue stellen.
Protagonist*innen sind Jette und Toni, zwei Jugendliche, die mit einer Sehbehinderung bzw. blind an inklusiven Gymnasien lernen. Beide gehen ihren schulischen Weg, Tonis Mutter beschreibt ihn als „selbstbestimmt und uneingeschränkt“. Jette und Toni sprechen offen über ihren Alltag, ihre Hilfsmittel und die Herausforderungen in der Schule. Beide sind glücklich mit ihrem inklusiven Schulweg. Dabei fällt immer wieder auf: Die Barrieren sind oft nicht die Behinderungen, sondern die Bürokratie.
Inklusion ist eine radikale Vision. Wenn man die Definition wortwörtlich nimmt, lässt sie keine Kompromisse zu. Im alltäglichen Leben als auch in der Bildung verlangt sie gleiches Recht für alle und gleiche Zugangsmöglichkeiten für alle. Und nur im Anstreben der Kompromisslosigkeit liegt die Chance auf Erfolg.
Ein Erfolg war die Inklusion nicht nur für Jette und Toni. Im Interview erzählt Tonis Klassenlehrer auch von der anderen Seite: „Die Schüler nehmen ihn oder tolerieren ihn als Toni. Nicht als blinden Schüler, sondern als Individuum, als Gleichberechtigten“. Was selbstverständlich sein sollte, ist für Jettes und Tonis MitschülerInnen selbstverständlich. Einfach, weil beide die Entscheidung für ein inklusives Schulleben getroffen haben.
Je vielfältiger die Menschen sind, mit denen wir bereits in jungen Jahren aufwachsen, desto weiter wird unser Blick als Erwachsener sein.
Auch für Antje Mönnig hat die Arbeit an diesem Buch den Blick verändert. Daran, dass es so wenig Schulmaterialien für blinde und sehbehinderte Kinder gibt, will sie jetzt selbst etwas ändern. In ihrem Buch antwortet sie bereits auf die ersten Fragen. Wie werden Bilder für blinde Schüler fühlbar? Welche Kriterien müssen Abbildungen für sehbehinderte Betrachter erfüllen? Welche Parameter sollte man bei einer Bildbeschreibung für blinde Nutzer beachten?
Die 35-jährige Designerin beschreibt das Spannungsfeld der Inklusion anhand ihres Buchtitels. Unmöglich steht dabei für unsere Umwelt, die normierte Welt, die wir Menschen geschaffen haben, in der Behinderung nur peripher vorkommt sowie für die bestehenden Barrieren in den Köpfen. Aber machbar steht für die nötige Haltung der Menschen in der Gesellschaft, für die Selbstverständlichkeit, mit der wir allen anderen Menschen die gleichen Rechte zugestehen sollten, die wir auch für uns selbst einfordern.
Bei meiner Begegnung mit Toni und seiner Familie erfuhr ich, wie Toni als Kind unbedingt mit dem Gameboy seiner sehenden Geschwister spielen wollte. Niemand würde auf die Idee kommen, einem blinden Jungen einen Gameboy zu schenken – das funktioniert doch ganz offensichtlich nicht. Toni fand durch Zuordnung von Sound und Aktion eine Möglichkeit, das Spiel zu spielen.
2016 hat Unmöglich. Aber machbar den Sächsischen Staatspreis für Design im Bereich Kommunikationsdesign gewonnen. Thema in diesem Jahr war: Verantwortung im Design.
Für mich liegt genau da meine Aufgabe, die gefühlt zufällig zu mir gekommen ist. Ich bin nicht politisch aktiv, habe noch immer keine Antworten auf so viele Fragen. Aber ich kann mit dem, was ich gut kann, etwas bewegen.
Antje Mönnig war als Mitarbeiterin der Deutschen Zentralbibliothek für Blinde (DZB) an der Umgestaltung von Printprodukten beteiligt. Anfang 2018 erschien als erste Ausgabe einer Kinderbuchreihe “Klapperlapapp – Formen und Oberflächen”. Kurze Beschriftungen ermöglichen das Kennenlernen und erste Lesen der Schriftsprache in Punktschrift (Braille). Und abgesehen davon ist es ein toll gestaltetes Buch, das man gern liest, fühlt, umklappt und ausprobiert.
Das Angebot für taktile Kinderbücher ist noch klein und es braucht viele Hände, das zu ändern. Wie wir miteinander lernen können, beschäftigt mich weiter.
Die Arbeit an inklusiven (Kinder-)Büchern hat Antjes Blick verändert. Aktuell ist sie an der Gründung eines Vereins beteiligt, der sich für das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen einsetzt.
Füll mich! Ein Buch zum Basteln und Fühlen
Taktil illustrierte Bücher vom Anderes Sehen e.V.
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