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Geplant hatte ich einen Text über die Liebe zu meinem Kind zu schreiben. Er war sogar fast fertig. Aber morgen habe ich ein Telefonat mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MDK). Es geht um unseren Antrag für die Erhöhung des Pflegegrades von unserer Tochter. Es ist genau 22.41 Uhr und ich sitze am Küchentisch und habe den Rest meines Abends mit Zoes erstem Order, der mit den unzähligen Unterlagen schon am Platzen ist. Eine treue Gesellschaft von den letzten drei Jahren.
Ich schau mir die Liste an, die mein Mann am Anfang Juli 2018 geschrieben hat, als Vorbereitung für das erste Gespräch mit dem MDK. So viele aufgelistete Punkte, dachte ich damals schockiert. Zoe, um die es ging, war damals drei Monate alt und durch eine gute Freundin von uns, die auch ein Kind mit Spina bifida hat, waren wir ziemlich früh mit allen Orga-Krams, die zu einer Behinderung hier in Deutschland gehören, sehr gut organisiert.
Für mich war das alles wie eine andere Welt: MDK, Behinderterausweis, Krankenkasse, Pflegekasse, Pflegegrad, Verband, Verein… Ich brauchte eine Zeit, um das alles einzuordnen und zu verstehen, wer für was zuständig ist. Es waren so viele neue Begriffe. Und das alles in einer Fremdsprache. Ich hatte nicht nur die neue Sprache von Zoes Diagnose neu zu lernen, sondern auch die von dieser bürokratischen Welt. Ich war damals sehr dankbar, dass mein Mann Deutsch ist. In der Zeit hatte er alle diese Aufgaben übernommen. Heute kann ich vieles, wenn nicht alles, selber erledigen.
Quelle: Unsplash. Foto von Camille Brodard
Mit sehr gemischten Gefühlen schaue ich meine jetzige Liste und die mit der Handschrif meines Mannes an. Fast drei Jahren sind es her. Was sehe ich da? Ich meine nicht die Punkte auf der Liste: Katheterisieren, Darmmanagement (lustiges Wort!), die Beine nachts lagern, Arzttermine bei fünf Spezialist*innen… Wenn ich frage, was ich da sehe, meine ich mich.
Ich bin nicht mehr die gleiche, die damals Angst hatte, mit der Frau von MDK zu sprechen und etwas Falsches dabei zu sagen. Die frischgeborene Mutter, die ich damals war, hielt bei dem Termin ihr Baby auf dem Schoß und fühlte sich ihm gegenüber richtig gemein. Falls du nicht weiß, was ich damit meine: Eltern müssen dem MDK alles berichten, was so zu sagen, nicht gut klappt. Alles was das Kind nicht kann. Auf Portugiesisch flüsterte ich dann meinem Baby zu: „minha linda, alles was ich der Frau sage, hat nichts, überhaupt nichts mit meiner Liebe zu dir zu tun, okay? Das hier ist ein blöder Schritt, den wir Erwachsenen machen müssen. Du bist richtig, so wie du bist!“. Diese Stunde zerriss mich innerlich.
Vor Morgen habe ich keine Angst mehr. Ich muss mich nicht mehr vorbereiten, als ob ich einen ausgedachten Text auswendig lernen müsste, wie das Ganze sich damals anfühlte. Der Text ist jetzt tief in mir verinnerlicht und den kann ich auswendig. Das ist mein Alltag.
Wenn ich mich frage, was ich nach diesen drei Jahren sehe, sehe ich meine Muskulatur.
Als Mutter eines behinderten Kindes trainiere ich mehrmals täglich diese Muskulatur. Ich trainiere meine Belastbarkeit, meine Resilienz, meinen Mut. Ich musste lernen, wann meine Stimme lauter werden sollte. Meine Beine stehen fester auf dem Boden, wenn der Tornado kommt. Und manchmal schaffe ich meinen geplanten inneren Sturz: in der Dusche, im Bett, beim Autofahren.
Diese Muskulatur ist aber kein Schutzschild gegen Angst. Im Gegenteil: Vulnerabilität wurde zu meinem Amulett. Auf eine seltsamen Weise bin ich stärker und berührbarer als sonst.
Viele Mütter von behinderten Kindern lesen diesen Text. Ich möchte gerne einige Fragen mit euch teilen. Ja, weil eure Muskulatur ist sicherlich so geübt wie meine.
Welche Kräfte hast du neu entwickelt? Welche Linie von dir selbst bist du überschritten, von denen du nicht glaubtest, weitergehen zu können? Mut zu was hast du in dir gefunden? Wie viel Unbehagen kannst du heute aushalten?
Das alles sind meine und deine Fähigkeiten.
Ich persönlich bin stolz auf meine Muskulatur. Und es geht nicht darum, meinen Schmerz oder die Dinge, die ich durchgemacht habe, um hierher zu kommen, zu romantisieren. A U F K E I N E N F A L L!!!! Jasmins letzter Beitrag ist so stark und ich kann mich zu 100% in ihrer Müdigkeit wiedersehen. Ich bin auch sehr müde, gerade jetzt.
Wenn ich sage, dass ich stolz auf meine Muskulatur bin, geht es nicht um Romantisierung – das mögen die Deutsche nicht, das habe ich schon gelernt. Es geht aber darum, zu erkennen, dass diese Mutterschaft, mit all ihren unerwarteten harten Erfahrungen, uns eine starke Muskulatur gibt – ob wir das wollen oder nicht. Und vor allem: es geht darum, mich zu umarmen. Ich wiederhole es, weil die Umarmung einfach guttut: es geht darum, mich zu umarmen. Und mir zu sagen: Schau, wie stark du aus dem, was weh getan hat, geworden bist.
Aber Pausen sind wichtig – auch wenn wir die physische Muskeln trainieren.
Es ist schon spät. Ich muss ins Bett. Morgen ist noch ein Tag, wo meine Muskeln angefragt werden.
Gute Nacht.
Hey..Dankeschön ♡ es hat mich sehr berührt. .und meine Gefühle wunderbar in Worte gefasst die die Liebe und Stärke und Mut widerspiegeln die unsere Geschichten aus uns gemacht haben.
Es sieht größer aus von “der Seite…Eine schöne Aussicht und Eigenanerkennung…
Zu der Seite ..Die nur aus Angst =Bedrohlichkeit : Leid und Dauersorge..und extrem Belastbarkeit. .Bis zur gefühlten Ohnmacht.
IN LIEBE UND DANKBARKEIT FÜR DIE GRÖßTE LIEBE MEINES LEBENS. 7JAHRE ALT. MARLON.
♡Lichst Grüsse ich alle Herzenskriegerin ☆
Silke
So ein toller Text! Ich erinnere mich sehr gut an unsere erste Beurteilung vom MDK. Ist ja auch noch nicht lange her. Das Bild mit der Muskulatur finde ich schön. Bisher hatte ich eher den Eindruck, dass ich hart und bitter werden muss, um diese ganze Last tragen zu können. Muskulös gefällt mir viel besser. Danke, Bàrbara!