Für mich ist es nicht wichtig, Ideale in meinem Kopf zu haben, was die Erziehung von Finn betrifft oder mir als Mutter. Für mich ist es wichtig, dass ich bedürfnisorientiert erziehe oder begleite. Das ich dafür sorge, dass es ihm gut geht und ihn da abhole, wo er steht.
Name: Ivonne (auf Instagram hier)
Alter: 34 Jahre
Mutter von: Finn (bald 7 Jahre)
Beruf: Sozialpädagogin
Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?
Anders aber deshalb nicht unbedingt besser. Vor Finn habe ich als Heilerziehungspflegerin in einer Wohnstätte für Menschen mit Behinderungen gearbeitet. Schichtdienst war normal und auch mehrere Tage am Stück zu arbeiten. Mit Finn ging das nicht mehr, denn plötzlich hatten wir 3 Therapietermine in der Woche oder irgendwelche Entwicklungsgespräche oder Auswertungstermine. Ich war auch gern unterwegs. Besuchte Konzerte, ging ins Kino usw.
Wie sieht dein Alltag heute aus?
Der Alltag ist eigentlich immer ziemlich durchgeplant. Ich arbeite während Finn tagsüber in der Kita ist. Für mich war es immer wichtig, neben Mutter auch noch ich selbst sein zu können und dies auch auszuleben. So habe ich beispielsweise auch berufsbegleitend mein Studium im Bereich Sozialpädagogik angefangen als Finn etwa 2 Jahre alt war und vor knapp zwei Jahren abgeschlossen. Ansonsten ist mein Alltag manchmal auch sehr entspannt. Finns Papa und ich sind seit 3 Jahren getrennt und wenn Papa-Woche ist, bleibe ich länger auf, mein Partner und ich gehen ins Kino, besuchen Freunde, gehen am Wochenende aus oder fahren auch mal über das Wochenende weg. In der Papa-Woche lade ich meine Akkus auf und übe mich in Gelassenheit.
Wann und wie hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?
Das irgendetwas mit Finn nicht stimmte, war ziemlich schnell nach der Geburt klar. Er wurde bei 31.+2 ssw. per Notkaiserschnitt geboren und fiel durch eine ausgeprägte Muskelschwäche auf. Auch optisch gab es wohl einige Marker, die einen Hinweis auf eine syndromale Erkrankung gaben, ich selbst sah diese aber nicht oder wollte sie nicht sehen. Es erfolgte ein Marathon an Untersuchungen auf unterschiedlichste Erkrankungen, Syndrome und Gendefekte aber die endgültige Diagnose erhielten wir erst als Finn 3 Jahre und 9 Monate alt war. Die Diagnose erhielten wir damals über die Uniklinik Leipzig, denn diese haben ein Forschungsprogramm für genetische bedingte Entwicklungsverzögerungen. Da alle anderen Ärzte ratlos waren und unsere Genetikerin uns wenig Hoffnung auf eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse machte, wendeten wir uns an dieses Forschungsprogramm und hatten etwa 6 Monate später endlich eine Diagnose.
Inwiefern ist dein Kind behindert (und welche Behinderung wiegt für dich am schwersten?)
Finn hat einen Gendefekt – das sogenannte Coffin-Siris-Syndrom. Betroffen ist bei ihm das SOX11 Gen. Insgesamt gibt es mehrere Gene, die bei Betroffenheit für das Syndrom verantwortlich sind. Man weiß derzeit von etwa 2500 Fällen weltweit mit diesem Syndrom. Bei ca. 40- 50 Fällen davon ist das gleiche Gen verantwortlich wie bei Finn. Er besitzt eine globale Entwicklungsverzögerung, also alle Bereiche z.B. Motorik, Sprache, Kognition usw. sind betroffen. Er ist kognitiv auf dem Stand von etwa 9 Monaten, dass Sprachverständnis liegt bei ca. 3-4 Monaten, er ist nonverbal , die Motorik ist nicht altersentsprechend entwickelt usw. Als Baby hatte er einen Hodenhochstand beidseitig und eine Harnstauungsniere, weshalb er bereits mit knapp einem Jahr operiert werden musste. Organfehlbildungen sind bei dem Syndrom häufig, ebenfalls neigen die Kinder zu Epilepsie, ADS, ADHS u.ä. Finn hat dazu noch Bluthochdruck und den Verdacht auf frühkindlichen Autismus (aufgrund seiner kognitiven Einschränkung kann die Diagnose aber nicht gesichert werden). Sein Schmerzempfinden ist z.B. auch herabgesetzt, weshalb man ihm bestimmte Erkrankungen oft nicht anmerkt. Er hatte bereits 3x eine Mittelohrentzündung mit geplatzten Trommelfell, da er keine Symptome oder Schmerzen zeigt, merken wir dies immer erst wenn die Flüssigkeit aus dem Ohr hinausläuft. Am schwersten wiegt für mich, dass er nonverbal ist. Bis 1 1/2 Jahren entwickelte sich die Sprache altersentsprechend, dann war sie rückläufig. Seit letztem Jahr spricht er gar nicht mehr. Am traurigsten macht mich, dass ich meinem Kind vermutlich nie die Welt erklären kann. Er nie Fragen an mich richten wird. Gleichzeitig ist auch auch phasenweise sehr schwer für mich jüngere Kinder zu sehen, die deutlich weiter entwickelt sind als er und immer vor Augen zu haben, was er nicht kann. Mir ist bewusst, dass sich vergleichen nicht lohnt, dennoch mache ich es oft unbewusst. Umso älter er wird, desto größer wird die sprichwörtliche Schere zwischen ihm und anderen Kindern.
„Eine Mutter liebt am stärksten ihr schwächstes Kind“, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das?
Finn ist mein einziges Kind, weshalb ich da keinen Vergleich ziehen kann. Ich denke schon, dass die Hilfsbedürftigkeit des Kindes dafür sorgt, dass Mütter über sich hinauswachsen. Wir kämpfen mit allen Mitteln für unser Recht und die Rechte unserer Kinder. Wir sind das Sprachrohr und müssen von Anfang an viele Entscheidungen treffen, sei es was Untersuchungen betrifft, später die richtigen Institutionen, Therapien, Medikamente, Hilfsmittel usw. Am Ende wollen wir alle nur, dass unsere Kinder glücklich sind und ihren eigenen Weg gehen können aber bei einem Kind mit Behinderung müssen wir entscheiden, was das beste für das Kind ist und das unabhängig vom Alter des Kindes.
Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welches der anstrengendste?
Die glücklichsten Momente sind immer die, wenn Finn gut gelaunt ist. Zur Zeit hat er z.B. unglaublich viele Lachanfälle. Ihn fröhlich und ausgelassen zu sehen macht mich unglaublich glücklich. Seit Dezember besitzen wir einen Autismusbegleithund. Auch hier sehen wir deutliche Fortschritte welche zeigen, dass die Entscheidung für dieses Tier die Richtige gewesen ist. Die anstrengendsten Momente sind die, wenn er stark in seine Verhaltensauffälligkeiten verfällt. Es gibt Tage, an denen wir permanent alle Handlungen wiederholen müssen, Abweichungen vom Gewohnten nur schwer akzeptiert werden. Da reicht es z.B. manchmal nur die andere Straßenseite zu benutzen, wenn wir aus dem Kindergarten kommen. Anstrengend kann auch stundenlange Einschlafbegleitung sein während er total aufgedreht ist und man selbst total müde.
Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert?
Finn ist an insgesamt drei Wochen im Monat bei uns und eine Woche + Wochenenden beim Papa. Durch die Schichten vom Papa können wir das nicht anders organisieren. Mein Partner holt Finn gelegentlich aus dem Kindergarten ab, wenn ich z.B. länger arbeiten müsste. Zuhause sucht sich Finn aus mit wem er spielen möchte. Manchmal spielt er für sich alleine, da kann z.B. in Ruhe gekocht werden oder der Haushalt erledigt. Es gibt aber auch Momente, wo er uns sehr viel einspannt , da übernimmt dies mein Partner während ich z.B. das Abendbrot vorbereite. Therapien und Arzttermine teilen Finns Papa und ich auf. Wichtige Arzttermine z.B. im SPZ machen wir aber auch gemeinsam, sofern dies möglich ist.
Wie sieht dein Arbeitstag aus? Unter welchen Bedingungen kannst/könntest du Job und Familie miteinander vereinbaren?
Ich arbeite nun seit knapp zwei Jahren als Sozialpädagogin in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Der Job macht mir viel Spaß und glänzt natürlich auch durch seine Arbeitszeiten. Ich arbeite Mo-Fr von 7:30Uhr – 15Uhr, Wochenenden und Feiertags natürlich frei. Während des ersten Lockdowns konnte ich von Zuhause aus arbeiten. Insgesamt habe ich das Gefühl, dass ich einen sehr kulanten Arbeitgeber habe, was mein Privatleben und meine persönliche Situation betrifft. Mir wurde bereits mehrfach gesagt, dass Familie vor geht und der Rest „nur“ Arbeit ist. Hier habe ich den Eindruck, dass dies nicht nur eine Floskel ist, sondern tatsächlich auch stimmt. Meinen damaligen Job in der Wohnstätte habe ich gekündigt, da ich hier nicht die erwünschte und benötigte Hilfe erhielt als ich nach der Elternzeit wieder einstieg. Statt Entlastung durch bestimmte Dienste hörte ich nur, dass diese Wünsche nicht berücksichtigt werden könnten. Schließlich hatte ich mich fünf Jahre zuvor auf eine Stelle im Schichtdienst beworben. Gleichzeitig wurde mir vorgeschlagen meine Elternzeit zu verlängern. Für mich war dies keine Option. Also verließ ich meinen damaligen Arbeitgeber mit den Worten: „Wenn es hier nicht geht, dann geht es woanders.“ Familie und Beruf muss für mich vereinbar sein – ich sterbe nicht ans Herzdrücken, wenn ich den Arbeitgeber wechsle, weil ich unzufrieden mit den Bedingungen bin und sich nichts ändert, wenn ich es anspreche. Ich bin der Meinung, dass ich noch viele Jahre arbeiten muss und das ich in diesen Jahren auch einen Job machen möchte, der mich vollends befriedigt und bei dem die Rahmenbedingungen stimmen. Wenn das auf Dauer nicht funktioniert, ziehe ich weiter. Im sozialen Bereich bieten sich viele Möglichkeiten und es werden permanent Menschen gesucht. Aktuell kommt ein Wechsel aber nicht in Frage.
Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben?
Die Zeit, die ich mir nehme. Ich war in den letzten Jahren mehrfach aus psychischen Gründen krank. Zum einen Überlastung, zum anderen auch aus körperlichen Gründen wie Anfang des Jahres durch die Entfernung meiner Schilddrüse. Ich habe mit der Zeit gelernt mehr auf mich und meinen Körper und Kopf zu hören. Mir ist bewusst, dass ich nur dieses eine Leben habe und ich dafür verantwortlich bin, wie es aussieht oder wie gut / schlecht es mir geht. Ich genieße es, bewusst auch mal alleine zu sein, mit dem Hund stundenlang spazieren zu gehen, mir per Rezept Massagen verordnen zu lassen oder mich anderweitig privat zu entfalten. Für all das bin ich verantwortlich und niemand anderes sonst.
Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?
Generell denke ich, dass wir Glück haben in einem Land wie Deutschland zu leben in dem Familien viel Unterstützung erhalten und es viele Helfersysteme gibt. Oftmals sind die aber nicht transparent genug zugänglich für alle. Das es beispielsweise die Möglichkeit der Frühförderung gibt, für Kinder die von Behinderung bedroht oder betroffen sind, wusste ich nur, weil dies damals Thema in meiner Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin war. Von Ärzten, die uns von Anfang an begleitet haben, gab es diesen Hinweis nicht. Was mich stört ist, dass es so viele verschiedene Ansprechpartner gibt um Dinge zu beantragen. Jede Institution will seine Berechtigung haben. Auf der einen Seite sind die Behördenstrukturen durch so viele Zwischenschritte geprägt, dass plötzlich dutzende von Menschen involviert sind (z.B. bei dem Schuleingangsverfahren), auf der anderen Seite wird nach Aktenlage entschieden, ob mein Kind ein Anrecht auf einen Schwerbehindertenausweis oder ein Hilfsmittel hat.
Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?
Inklusion bedeutet für mich, dass Menschen mit Behinderung ganz selbstverständlich zum Stadtbild gehören, ohne kritisch beäugt zu werden oder das Verhalten wie Stimming negativ kommentiert wird. Es heißt, dass ich mit meinem Sohn Kinderbücher ansehe und dort ganz selbstverständlich auch Personen sind, die nicht der Norm entsprechen und das ohne mir gezielt solche Bücher kaufen zu müssen. Inklusion heißt für mich auch, dass neue Spielplätze und Gebäude so konzipiert und gebaut werden, dass sie für jede Person zugänglich sind. Das Medien automatisch über leichte Sprache zugänglich sind oder ich sie mir vorlesen lassen kann. Es bedeutet Rücksicht, Toleranz und Aufgeschlossenheit für Menschen die offensichtlich andere Bedürfnisse haben, als du und ich sie haben.
Bist du die Mutter, die du sein wolltest?
Vor der Geburt von Finn hatte ich kein vorgegebenes Bild von Mutterschaft in meinem Kopf. Ich hatte ein Bild von meiner Schwangerschaft und auch seiner Geburt in meinen Gedanken, aber auch dieses war durch unglückliche Umstände alles andere als gewünscht. Für mich ist es nicht wichtig, Ideale in meinem Kopf zu haben, was die Erziehung von Finn betrifft oder mir als Mutter. Für mich ist es wichtig, dass ich bedürfnisorientiert erziehe oder begleite. Das ich dafür sorge, dass es ihm gut geht und ihn da abhole wo er steht.
Wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest Du etwas anders machen, als Mutter und/oder als Mensch?
Pauschal kann ich da keine Antwort drauf geben. Ich glaube, dass mich viele Erfahrungen in meinem Leben geprägt haben und das schon weit vor Finn. Vermutlich würde ich mich schneller von bestimmten Menschen in meinem Leben trennen, statt krampfhaft an z.B. kaputten Freundschaften festzuhalten.
Ein Gegenstand Deines Kindes/ Deiner Kinder, den du ewig aufbewahren wirst?
Ich hab diverse Sachen von Finn. Dazu gehören die ersten Fotos nach dem Kaiserschnitt, den ersten Nuckel von der ITS, sein Kuscheltuch oder auch die Babydecke – eine neu und eine die ich selbst benutzt habe als ich ein Baby war.
Welchen Satz kannst du einfach nicht mehr hören?
Es gibt verschiedene Sätze, die ich nicht mehr hören kann. Am meisten stören mich Sätze wie „ich könnte das nicht“ – dazu habe ich auch selbst schon mal einen Beitrag verfasst. Gleichrangig ist er allerdings mit: „Besondere Kinder suchen sich besondere Eltern“. Ich weiß, dass diese Sätze eigentlich Anerkennung und Wertschätzung ausdrücken sollen aber sie zeigen auch wie unsicher der Mensch ist, der einem gegenüber steht. Ich glaube schon, dass auch andere Menschen all das können und auch machen würden, wenn sie an meiner Stelle wären. Das es so ist, sehe ich an all den Müttern und Väter die über ihr Leben mit behinderten Kind auf unterschiedlichsten sozialen Plattformen berichten. In unserem Fall sind wir von Anfang an mit Finn Besonderheiten konfrontiert worden und quasi hineingewachsen. Weder er noch ich wissen, wie das Leben aussehen würde, wenn er seine Behinderung nicht hätte. Natürlich wäre es an einigen Stellen anders oder einfacher aber auch das Leben mit ihm und seine Mutter zu sein, bereichern mich jeden Tag aufs Neue und sorgen dafür, dass ich heute der Mensch bin, der ich bin. Ohne ihn hätte ich bestimmte Entscheidungen nie gefällt, hätte mich vielleicht weniger getraut, für mich und andere einzustehen und wäre bestimmte Wege in meinem Leben nie gegangen. Ohne ihn hätte ich bestimmte Personen nie kennen gelernt.
Welche Träume hast du?
Es gibt verschiedene Träume, die ich habe. Die Familie irgendwann zu vergrößern gehört dazu. Ansonsten auch so sekundäre Dinge wie ein Haus oder eine Wohnung mit Garten. Gerade ist mein Traum ein zukünftiges Fotoprojekt für das ich aktuell Eltern mit Kindern mit Behinderung suche, die in Dresden und Umgebung wohnen. Ansonsten wünsche ich mir, dass wir bald alle wieder etwas Normalität erleben können. Mir fehlen Tapetenwechsel oder auch am Wochenende auszugehen oder ein Kinobesuch. Ebenfalls fände ich es schön endlich wieder ans Meer fahren zu können.
Gibt es noch was, was dir am Herzen liegt und du gerne mit uns teilen möchtest?
Eltern, habt keine Angst. Ein Kind mit Behinderung zu bekommen ist keine Bürde, keine Strafe oder hat etwas mit Karma zu tun. Ein Kind mit Behinderung ist ein Geschenk und eine Bereicherung. Es zeigt euch jeden Tag aufs Neue wieviel in euch steckt, es zeigt euch klare und ehrliche Liebe. Es zeigt euch, auf wen ihr euch bedingungslos verlassen und auf wen ihr verzichten könnt. Ein Kind mit Behinderung ist eine Herausforderung aber eine die es sich zu nehmen lohnt.
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