Und wie machst du das, Martina?

by Gastbeitrag Kaiserinnenreich

Wie erlebten Mütter von Kindern mit Behinderung ihre Mutterschaft und die Behinderung ihrer Kinder vor 20, 30, 40 Jahren? Haben sie damals Unterstützung von ihrem Umfeld bekommen? Wie konnten sie Mutterschaft und Arbeit vereinbaren? Hatten sie den Eindruck, die Politik an ihrer Seite zu haben?

Mutterschaft, Kindheit und Behinderung sind soziale Konstrukte, die von symbolischen und realen Elementen beeinflusst werden, wie z.B. von kollektiven Narrativen, von akzeptierten sozialen Rollen, von politischen Entscheidungen, von Religion und Glaube, von Traditionen usw.

Wir vom Kaiserinnenreich sind sehr neugierig auf diese Erfahrungen und Erzählungen. Dafür haben wir Mütter von behinderten Kindern interviewt, welche schon im Erwachsenenalter sind. Wie schauen sie auf ihre Vergangenheit? Was teilen sie mit uns, die Mütter, die heute in dieser Rolle stehen?

Für unsere Premiere haben wir Martina als Gästin.

Name : Martina

Alter: 61 Jahre

Mutter von: Marian, 1997, Tilman, 1992 und Tabea, 1990 (Tabea und Marian sind auf Instagram mit dem Profil @notjustdown )

Beruf: Bildende Künstlerin, Kunsttherapeutin, Selbstständigkeit mit einem Unternehmen in der Metallverarbeitung.

Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?

Ich lebte seit 1980 mit meinem Mann in Berlin Friedenau. Mein Leben bestand aus verrückten Reisen, Freunden, Unternehmungen. Ich arbeitete als Malerin durch Senatsförderung „Kunst am Bau“. Hatte einen Job im ZDF Studio Berlin und war auch tätig als Aufnahmeleitung beim RIAS Frühstücksfernsehen.

Wie war dein Leben, als deine Kinder da waren?

Als Tabea geboren wurde, machten mein Mann und ich uns selbständig in Berlin Neukölln. Wir hatten eine riesige Fabriketage, in der wir uns mit der Funkenerosionstechnik selbständig machten und ich auch ein wunderschönes großes Atelier besaß. 1994 mussten wir die Firma wieder schließen, weil sich die wirtschaftliche Lage durch den Mauerfall für uns auf unvorhergesehene Weise verschlechterte. Wir versuchten einen Neustart in Köpenick – der misslang. Matthias, mein Mann ging dann zurück in seinen Heimatort und versuchte seinen Neustart im elterlichen leerstehenden Betriebsgebäude. Ich folgte 1996 dann mit Tabea und Tilman. Das Leben aus der Großstadt ins Dorf war für mich die Hölle. Ein Jahr später 1997 wurde ich unverhofft abermals schwanger, mit Marian. Als die Kinder da waren, drehte sich alles um sie und unsere Existenz. Es war für mich nicht gerade eine Zeit des Glücks. Zwar sah ich die Kinder mit ihrer Zufriedenheit und dem Leben mit viel Natur, aber auch als sehr große Belastung, da wir große finanzielle Sorgen hatten durch die Berliner Firmenschließung. Das Leben aus der großen Stadtwohnung hinein in die winzige Wohnung unterm Dach auf dem Dorf, noch dazu die Schwiegereltern vor der Nase, mit denen ich mich nicht sonderlich verstand, war sehr schwer für mich…..doch die Kinder waren glücklich mit ihrem Landleben, mit der Freiheit, mit der Natur um sie herum und ihren Tieren.

Wie sieht dein Leben heute aus?

Heute sind unsere Kinder alle drei erwachsen…. und ich schaue auf jedes Einzelne von ihnen und freue mich wieder und wieder, dass sie so einen Zusammenhalt haben und doch jeder für sich auch sein eigenes Leben hat. Das macht mich glücklich…. Wenn ich so sehe, wie sie sind und ihr Leben gestalten. Mein Leben ist nun ruhiger und ich fange an, nach meinen eigenen verloren gegangenen Träumen und Wünschen zu suchen. Bin wieder mal auf der Suche nach Neuem oder verlorengegangenem Alten, was ich wieder aufnehmen sollte, könnte, möchte – wie ich es mit 20 tat 🙂

Wie hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?

Nach der Entbindung von Marian sagte eine Ärztin, dass unser Baby eine Vierfingerfurche habe und sein großer Zeh weit abstehe… Ein Indiz für eine Trisomie. Wir konnten es nicht glauben, da Marian weiter keine Anzeichen für diesen Verdacht zeigte. Auch der Professor der in der Kinderklinik nebenan eine Downsyndrom Ambulanz leitete und selber einen Sohn mit Trisomie hatte, war sich in Marians Fall unsicher. Erst nach der Humangenetischen Untersuchung 6 Wochen später, wurde der Verdacht dann doch bestätigt. Bis dahin glaubte niemand daran auch die Hebamme nicht. Wir waren nach der Diagnose sehr erschüttert und es dauerte Tage/Wochen bis wir diese Bestätigung annahmen. Wir konnten einfach keine Anzeichen von Trisomie bei Marian sehen…. Und doch gab es nun diesen Befund.

Inwiefern ist dein Kind behindert und welche Behinderungen wiegten für dich damals (oder heute noch?) am schwersten?

Trotz viel Förderung und sehr guter früherer Prognosen der Spezialisten, kam Marian nicht ins flüssige Sprechen, wo ich damals wie heute seine Behinderung sehe. Es fällt ihm schwer, sich über Sprache mitzuteilen und man braucht viel Zeit, Geduld und Verständnis für ihn. Abstraktes Denken ist kompliziert. Somit ist es für mich oft schwer seine Gedankenwelt zu begreifen und er muss beobachten, um vieles mitzubekommen.

Welche sind deine glücklichsten Erinnerungen mit deinem Kind?

Die erste glückliche Erinnerung ist für mich, dass beim Verdacht der Trisomie nach der Geburt die Ärzte sagten, ich könne Mari nicht stillen wegen der Hypotonie und es dann doch klappte. Ich konnte Marian ein dreiviertel Jahr lang stillen. Dann habe ich noch die glückliche Erinnerung daran, wie unsere ersten Urlaube im Ausland gemeinsam mit Marian und unseren großen Kindern wunderschön waren und wir viel Achtsamkeit und Positivität in fremden Ländern durch Marians offene Art erfahren konnten.

Was hat dir damals Kraft gegeben, durch die Herausforderungen zu gehen?

Wenn ich zurückblicke, war es vor allem, dass mein Mann und unsere großen Kinder mit unglaublicher Liebe und Zuneigung Marian gegenüber standen. Aber auch ich hatte das große Bedürfnis von Zusammenhalt und das es nur so zu schaffen sei, war mein Glaube dahinter. Allerdings schlich sich auch über Zeiten bei mir so etwas ein wie: „Der Welt werd ich’s zeigen“. Das war dann eine Kampfansage, die mich auch antrieb.

Viele Mütter*Väter von behinderten Kindern berichten, dass sie sich von ihrem Umfeld nicht immer verstanden fühlen. Wie war es für dich damals? Hast du dich von deinem Umfeld gut verstanden gefühlt?

Ich gehöre zu den Eltern, die sich von ihrem Umfeld nicht immer verstanden gefühlt haben. Oft wurde mein Aktionismus in Bezug auf Frühförderung/Förderung belächelt und einige glaubten wohl, dass ich damit Marians Behinderung „weg-therapieren“ wollte. Dabei nahm ich lediglich medizinische und therapeutische Empfehlungen wahr, um unserem Kind beste Entwicklungsmöglichkeiten zu geben. Da das nun mal auch mein erstes Kind mit Behinderung ist und ich keine Erfahrungen im Umgang damit hatte, machte ich das, was empfohlen wurde. Mit meiner Erfahrung heute, würde ich bestimmt einiges anders machen.

Fühltest du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?

Ein klares NEIN. Mir fehlte viel Unterstützung in meinen persönlichen Bedürfnissen als Mutter eines Kindes mit Behinderung. Erst viele Jahre später durch meine Kunsttherapeutische Ausbildung konnte ich tatsächlich erfahren, wie ich auf der Strecke blieb/ geblieben war. Auch in Antragsstellungen und Fördermöglichkeiten war sehr vieles unglaublich mühsam und zusätzlich sich darum auch noch zu kümmern kostete mich viel Energie. Es müsste sowas wie eine Beratungsstelle geben, die im Namen des Antragsstellers all diese Sachen erledigt. Das habe ich mir oft gewünscht.

Gab es bei dir Kommentare, die zu dir immer wieder gesagt wurden, die du nicht mehr anhören konntest? Welche waren sie?

Ja!! Beispielsweise: “diese Kinder sind ein Geschenk“, “sie sind immer fröhlich und so niedlich“ :/ Oder auch: “DU Arme, du tust mir so leid, dass du so viel viel Arbeit mit diesem Kind hast”, “wirst nie frei sein, er wird dich immer brauchen“. Oft kamen diese Sätze von älteren Menschen aus dem Freundeskreis von Eltern und Schwiegereltern.

Wie sah dein Arbeitstag aus? Unter welchen Bedingungen konntest du Job und Familie miteinander vereinbaren?

Dadurch, dass mein Mann und ich unserer Selbstständigkeit nachgingen und unser Betrieb neben der Wohnung lag, war vieles bequem und einfach. Auch gab es einen Mitarbeiter zur damaligen Zeit, der einfach so viel Verständnis mitbrachte für unser chaotisches Familiendasein und Marian oft während seiner Arbeit tatsächlich auf seinem Arm herum trug – was Marian natürlich genoss. Auch konnte ich meine Arbeit als Freischaffende Künstlerin am Nachmittag für einige Stunden an verschiedenen hiesigen Schulen mit künstlerischen Projekten anbieten – was rettend für mich war, damit ich auch mal Abstand zu Allem/ Familie bekam und es mir aber auch viel Freude bereitete mit fremden Jugendlichen beispielsweise Theaterkulissen für aktuelle Aufführungen zu erstellen. Dabei unterstützten mich auch meine Eltern, die Marian mega oft dann zu sich nahmen für diese Stunden.

Wieviel Zeit hattest du für dich – jenseits der beruflichen und familiären Aufgaben?

Nun, da war nicht viel. Eigentlich war da gar keine Zeit mehr. Erst die 4 Jahre der Kunsttherapie Ausbildung brachten dann in den Blockseminaren und Wochenendseminaren mal so etwas wie….“ich tue etwas für meine persönliche Entwicklung“. Auch dass ich da nicht gut auf mich achtgab, sehe ich heute kritisch. Ich hatte mich maßlos verausgabt. Als ich dann auch noch nach dem Tod meines Vaters die Pflege meiner Mutter übernahm stand ich kurz vor einem Kollaps. Damals gab es hier vor Ort eine Kampfsportschule an der Tabea und Tilman Muay Thai Boxing machten und deren “Großmeister“ der Leiter dieser Schule ausgebildeter QiGong Lehrer war. Er brachte mir die vier Säulen des Stillen QiGong bei, was ich heute noch regelmäßig praktiziere. Das war und ist meine Rettung noch immer in belastenden Zeiten.

Inklusion war damals kein Begriff, wie wir ihn heute nutzen. Hast du aber trotzdem für Teilhabe gekämpft? Falls ja, kannst du uns von einer Situation berichten?

Ja, zunächst war ich viele Jahre sehr aktiv im Arbeitskreis Down Syndrom Bielefeld. Danach hier vor Ort für “Eine Schule für Alle“. Als Marian dann die Regelschule als erstes Kind mit Down Syndrom besuchte und ich dann erfuhr, dass diese Grundschule 10 Jahre integrativ arbeitet, aber im Ort Gymnasium, Real-und die Hauptschule nebenan keinen integrativen Sek I Bereich anbot – fing ich an mich dafür stark zu machen im Kreis. Es wurde dann eine Petition einberufen und noch im Abschlussjahr der vierten Klasse von Marian wurde die Hauptschule als Integrative Schulform im Sek I angeboten. Drei Klassenkameraden von Marian konnten dann vor Ort weiter machen. Marian wollten wir in dieses Abenteuer nicht entlassen, da schon unsere vierjährige Erfahrung mit der Regelgrundschule nicht so lief, wie wir uns es vorgestellt hatten. Außerdem ich viele Jahre schon an der Hauptschule Kunstprojekte anbot und Einblick im Schulgeschehen hatte. Heute ist es eine Gesamtschule.

Kannst du mit uns eine schöne Situation mit Ihrem Kind teilen, die dir/euch glücklich gemacht hat?

Uns und mich besonders, machte es sehr glücklich, wenn damals 4/5 enge Grundschulfreunde*innen mit ihren kleinen Rädern zu uns radelten mit Marian den Nachmittag spielend verbrachten und sich alle zusammen dann glücklich wieder am Abend auf den Nachhauseweg machten. Oder wenn er auf Geburtstage eingeladen wurde und auch alleine, ohne mich dort bleiben konnte. Es gab Eltern, die das nicht wollten, da sie es als zu verantwortungsvoll ansahen.

Kannst du mit uns eine schöne Situation mit deinem Kind teilen, die dich/euch traurig gemacht hat?

Es gab mal einen Augenarzttermin als Marian etwa 4 Jahr war. Als der noch relativ junge Arzt ins Behandlungszimmer kam, er war sehr schweigsam, und nach einigen Minuten mich ernst ansah und sagte: „Muss das denn heute noch sein??“ Ich begriff nicht sofort was er damit meinte, bis es in Sekunden dann bei mir dämmerte. Ich verließ umgehend die Praxis, wünschte ihm aber beim Verlassen des Behandlungszimmers, viel Glück für sein weiteres Leben und bei Invalidität, die ihm ja möglicherweise zustoßen könnte – freundliche Menschen die sich seiner annehmen würden. Mich hatte dieser Vorfall sehr traurig und fassungslos gemacht.

Bist du die Mutter, die du sein wolltest?

Ja, bin ich !

Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest du etwas anders machen, als Mutter?

Ja, es gibt da etliches, was ich heute anders machen würde. Ich habe aber erst durch Erfahrungen diese Erkenntnisse, somit ist es zu mühsam sich damit auseinander zusetzen. Ich denke, man entscheidet immer so, wie es einem im Moment der Entscheidungen möglich ist – ganz einfach 🙂

Wenn du könntest, welchen Gegenstand deines Kindes würdest du ewig aufbewahren?

Marian hat einen kleinen SigiKid Hund. Der hat ihn durch seine ersten Jahre begleitet und wurde kaputt-geliebt. Der ist archiviert und wird bewahrt.

Was würdest du einer jungen Mutter sagen, die heute eine ähnliche Situation lebt, wie du damals?

Diese junge Mutter bekäme meine ganze Achtung….ich wünschte ihr Mut, Liebe und Zuversicht.

Gastbeitrag Kaiserinnenreich
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10 Kommentare zu “Und wie machst du das, Martina?

  1. Liebe Matina,
    ich habe diese sehr schön beschriebene Lebensgeschichte gelesen und kann nur als alte Freundin des Hauses Mewes sagen das es so war und ist und immer bleibt , denn Marie ist immer als ganz normaler Junge von mir und Johanna behandelt worden!! Er ist und bleibt immer mein Freund Marie !!!
    Und was deine Person betritt sage ich einfach nur; du bist eine sehr starke Persönlichkeit die niemals Mitleid wollte oder brauchte !
    Deine innere Kraft und Stärke haben dich und deine Kinder zu dem gemacht was sie heute sind !!!

    Liebe Grüße an Tillmann, Tabea, Marie , Matthias
    Fühl dich von mir gedrückt !!!
    Karola Mückenhaupt

  2. Wie schön und wahr , das geschrieben ist. Oft finde ich. mich in der Geschichte wieder.
    Habe manche Sachen ähnlich erlebt. Mein Großer Sohn mit DS wurde 1990 geboren.

    Danke ♥️

  3. Dieses Interview hat mich sehr berührt und vieles in Erinnerung gebracht. Es waren schwere, manchmal traurige Jahre aber es gab immer wieder schöne und erheiternde Erlebnisse. Mein Sohn Felix mit Down-Syndrom ist mittlerweile 28 Jahre alt und aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Ja er hat unser Leben bereichert und wir haben mit ihm viel gelernt.

  4. Wundervoll❤️ Danke für diese ehrlichen Worte und Einblicke in dein Leben-in vielen Teilen erkenne ich Sequenzen aus meinem Leben mit meinem Sohn wieder. Ganz viel Liebe und Achtung für Martina. Herzlichst, Dany und Justus

  5. Vielen Dank für die offenen und echten Worte ! Ich bin selber alleinerziehende Mama zweier Töchter, von denen die jüngere blind ist und zudem eine ausgeprägte Autismus Spektrum Störung hat. Vieles habe ich ähnlich erlebt. Meine Töchter sind beide wunderbar, aber der Weg hat auch Kraft gekostet. Die Rolle die Geschwister von Menschen mit besonderen Bedürfnissen ist auch ein wichtiger und interessanter Bereich. Danke für Ihr Interesse. VG

  6. Hallo ihr Lieben vom Kaiserinnenreich….ich möchte mich bei euch sehr herzlich bedanken, dass ich eure intensiven Fragen beantworten durfte. Einige hatten es in sich und ich musste manchesmal sehr in die Jahre zurück gehen…..danke an euch – es war gut ❤️❤️

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