Und wie machst du das, Sarah?

by Gastbeitrag Kaiserinnenreich

“Wenn ich eine Sache in meinem Leben falsch eingeschätzt habe, dann die Rolle der Mutter. Ich hatte das Selbstverständnis, dass mir diese Rolle gefallen würde und ich die Aufgaben, die damit einhergehen, easy wuppen würde. Pflegende Mutter zu sein fällt mir schwerer, als ich mir je vorstellen konnte.”

Name: Sarah (auf Instagram: @a_variation_of_normal)

Alter: 33

Mutter von: Marie (5 Jahre) und Paula (3,5 Jahre) 

Beruf: Psychologische Psychotherapeutin

Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?

Passenderweise habe ich vor ein paar Tagen eine e-Mail weitergeleitet bekommen, die ich mit Anfang 20 einem Kumpel schrieb. Wie krass ist es, sie heute zu lesen! Ich erzähle in der e-Mail so frei und laut und überzeugt von meinem Alltag und meinen Plänen. Ich bin durch WG-Küchen getanzt, habe textsicher jeden Partyhit mitgegrölt und saß anschließend mit meinen Freund*innen verkatert in Cafés, um die Nacht Revue passieren zu lassen. Heute erscheint mir die Naivität, die ich in den Zeilen finde, fast schon ein wenig überheblich.

Wie sieht dein Alltag heute aus?

An schlechten Tagen würde ich sagen: anstrengend, einsam und vollgepackt mit schlechtem Gewissen. An guten würde ich sagen: bunt, intensiv und voller kleiner Jubelmomente.

Wann und wie hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?

Das war ein schleichender Prozess, der irgendwann gegen Ende des ersten Lebensjahres begann. Klar, im Nachhinein gab es auch davor schon “Auffälligkeiten”. Aber Marie war eigentlich ein totales “Anfängerbaby”: sie hat viel gelacht, konnte sich ausgiebig mit irgendeinem Gegenstand, den man ihr gab, beschäftigen und war zufrieden, solange wir in ihrer Nähe waren. Um den ersten Geburtstag fragte ich mich, warum mein Kind nicht wie andere zeigte, immer weniger brabbelte und in ihrer Entwicklung stagnierte. Mit 21 Monaten war ich mit sicher, dass Marie Autistin ist. Die offizielle Diagnose bekam sie mit 2,5 Jahren.

Inwiefern ist dein Kind behindert (und welche Behinderung wiegt für dich am schwersten) ?

Marie ist Autistin – und das ohne wenn und aber – und gleichzeitig allen gängigen Klischees über Autist*innen widersprechend. Sie ist sehr offen und neugierig. Sie bezieht einen in ihre Interessen ein und kuschelt super gerne. Sie hat kein Problem mit Blickkontakt oder Nähe. Sie lacht viel und wenn sie lacht, dann geht das vom Fußzeh bis zur Haarspitze. Ich kenne niemanden, der so sehr Freude (und auch Wut) empfinden kann.

Marie ist global entwicklungsverzögert. Das heißt, auch wenn sie 5 Jahre alt ist, sind ihr in vielen Bereichen Zweijährige schon voraus. Sie wird voraussichtlich immer auf Hilfe Dritter angewiesen sein. Sie kann sich nicht selbst an- oder ausziehen. Sie braucht bei allem Hilfe. Spricht für Außenstehende unverständlich. Trotz Melatonin braucht sie lange, bis sie einschläft und das nur an mich gekuschelt. Durch Marie habe ich erst bemerkt, wie viele soziale Regeln es eigentlich gibt. Sie versteht sie nicht. So steht sie beispielsweise mit ihrem Ball vor einem Kind und will mit ihm spielen, weiß aber nicht, wie sie das Spiel initiieren soll. Marie fallen Details auf, die erkennt sonst keiner. Sie kann sich an so vielen Kleinigkeiten erfreuen. Aber sie kann nicht mit anderen Kindern, auch nicht mit ihrer Schwester, spielen. Wenn sie wütend wird, haut/schlägt/beißt sie. Ich kann sie keinen Moment aus dem Augen verlieren, weil sie kein Gefühl für Gefahren hat. Mit Marie ist alles intensiv.

„Eine Mutter liebt am stärksten ihr schwächstes Kind“, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das? 

Ich kenne diese Frage noch aus der Zeit, als ich kaiserinnenblog.de das erste Mal las. Da war Marie frisch geboren und dass sie behindert sein könnte, daran dachte niemand. Ich fragte mich damals, wie es wohl für die Mütter sein müsste, sich diese Frage zu stellen. 

Ich will ehrlich sein: Es tut mir gut, durch Paula, Maries kleiner Schwester, noch andere Seiten von Elternschaft und Kindheit kennenzulernen: Die Leichtigkeit, die Geselligkeit, die Lust darauf, die Welt zu entdecken und zu erfahren. An manchen Tagen versöhnt mich das mit vielem, zum Beispiel mit der Einsamkeit, die unser Alltag mit sich gebracht hat. Das bedeutet aber nicht, dass ich eines meiner Kinder lieber hätte. Die Beziehung ist nur eine andere. Marie und ich sind so eng verbunden, ich bin ihr Sprachrohr und ihre Beschützerin. Paula und ich sind die Abenteurerinnen, die die Welt erobern wollen.

Welcher ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welcher der anstrengendste? 

Anstrengend sind immer die Momente, in denen uns Routinen fehlen. Zum Beispiel an Nachmittagen, an denen wir keine Therapien haben. Einfach Zeit zu Hause verbringen ist schwer: Die Kinder brauchen und fordern sehr unterschiedliche Dinge und ich versuche irgendwie beiden gerecht zu werden. Diesen Anspruch aufzugeben fällt mir nach wie vor schwer.

Jeder Tag bringt kleine Freuden mit sich. Mal ist es, wenn Marie und Paula kurze Zeit sich selbst beschäftigen, mal, wenn Marie in der Tür steht und sagt “Ich vermiss Mama”, mal wenn Paula im selbstgebastelten Vogelkostüm zur Tür hereinspaziert bekommt. Und auch an Tagen, die echt fies laufen, versuchen Tim und ich den Abend versöhnlich ausklingen zu lassen: Mit Wein und gutem Essen.

Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert? 

Beide Kinder gehen vormittags in getrennte Kindergärten. Das war uns wichtig, damit beide Kinder auch Ruhe voneinander haben können. Bedeutet für uns aber, dass wir täglich 2 Stunden mit Bringen und Abholen beschäftigt sind. Marie hole ich zwischen 13.00 und 13.30 vom Kindergarten ab und wir verbringen dann noch etwas Zeit, bevor wir Paula abholen. Tim übernimmt das Kindergarten-Bringen und die meisten Therapien, ich die Nachmittage und das ins Bett bringen.

Wie sieht dein Arbeitstag aus? Unter welchen Bedingungen kannst/könntest du Job und Familie miteinander vereinbaren?

Während Tim morgens die Kinder in die Kindergärten bringt, sehe ich im Onlinesetting meine*n erste*n Patient*in. Mittelfristig will ich auf zwei Patient*innen am Tag aufstocken, aber das schiebe ich gerade noch etwas auf. Danach mache ich die Dokumentation, beantworte eMails, lese ggf. etwas nach. Bis um 10.00 bin ich fertig. Danach habe ich Zeit bis um 13.00, bevor ich Marie abhole. In dieser Zeit mache ich all das, was anfällt (was immer mehr ist, als man denkt), was aber auch genug Zeit für mich beinhaltet.

Bis vor kurzem sah das übrigens noch anders aus: Da habe ich mich als festangestellte Therapeutin zwischen allen Bereichen aufgerieben und gemerkt, wie ich das nicht schaffe, ohne körperliche und psychische Folgen davon zuziehen. Mir das einzugestehen war ein Prozess und hat ganz schön an meinem Selbstbild gerüttelt.

Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben?

Vor einem Jahr hätte ich diese Frage ziemlich negativ beantwortet. Heute kann ich sagen: Genug. Klingt krass, ist es auch. Ich werde jetzt nicht schreiben, dass man sich diese Zeit eben nehmen müsse (blablabla) oder dass es nur so langfristig gehen kann (blablabla). Mir ist klar, dass die meisten Menschen unseren Weg nicht gehen können.

Ein Aha-Erlebnis, das ich erst vor kurzem hatte, ist, dass Fürsorge auch bedeutet, Aufgaben abzugeben. Was hab ich mich anfangs schlecht gefühlt, als ich den Familienentlastenden Dienst beauftragt habe meine Tochter zur Autismustherapie zu fahren! Heute denke ich: Wie dämlich kann man denn sein: Als ob sich meine Liebe durch Autofahren ausdrücken würde.

Und diese Haltung (übe) ich gerade bei vielem: auf was kommt es mir wirklich an? Muss ich das wirklich tun? Kann es wer anders übernehmen?

Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?

Ich bin immer wieder überrascht, wie viel Unterstützung einem in der Theorie zusteht: Windelpakete, Hilfsmittel, Fahrdienste, Unterstützung im Haushalt und in der Kinderbetreuung, Therapien…  Würde das alles so laufen, wie es auf dem Papier steht, wäre ich zufrieden. In der Realität muss man erst mal an all diese Infos kommen, beantragen, sich darum mit Krankenkassen und Sozialämtern streiten, organisieren… und anschließend sehr lange auf Wartelisten sitzen. Als Beispiel: vor knapp zwei Jahren haben wir einen Schwerbehindertenausweis beantragt und haben immer noch nicht den richtigen. Wir haben das große Privileg, dass wir berufsbedingt das Wissen und die Ressourcen haben, unser Recht einzuklagen. Kraft kostet es trotzdem. Dass Menschen mit weniger Privilegien aufgeben (und damit finanzielle, körperliche und psychische Nachteile aushalten müssen), kann ich gut verstehen. 

Inklusion – was bedeutet das Wort für dich? 

Auf Instagram schrieb ich mal: Inklusion ist für mich, wenn Vielfalt innerhalb der Gruppe wichtiger ist als Aktivitätenvielfalt. Das schrieb ich, als Marie nicht mehr an Ausflügen in ihrer alten Kita teilnehmen durfte. Inklusion kann nur gelingen, wenn alle bereit sind, für barrierefreie Bedingungen zu sorgen. Das macht Nicht-Behinderten womöglich nicht immer Spaß, aber genau darum geht es eben: Inklusion ist ein Menschenrecht und nichts, was man, wenn es gerade passt, mal halbherzig umsetzen kann.

Bist du die Mutter, die du sein wolltest?

Ganz ehrlich: Nein. Wenn ich eine Sache in meinem Leben falsch eingeschätzt habe, dann die Rolle der Mutter. Ich hatte das Selbstverständnis, dass mir diese Rolle gefallen würde und ich die Aufgaben, die damit einhergehen, easy wuppen würde. Pflegende Mutter zu sein fällt mir schwerer als ich mir je vorstellen konnte.   

Wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest Du etwas anders machen, als Mutter und/oder als Mensch?

Ich glaube nicht. Einzelentscheidungen sicherlich. In Bezug auf Marie denke ich, dass ich viel früher auf Entlastungssysteme hätte bestehen sollen. Nicht nur für mich und meine Familie, sondern auch, damit Marie sich daran gewöhnt, fremd gepflegt zu werden. 

Ein Gegenstand Deines Kindes/ Deiner Kinder, den du ewig aufbewahren wirst?

Meine Liste voller Jubelmomente, die ich (hundertfach gesichert) auf meinem Handy führe. Ich versuche so, die vielen kleinen Momente des Alltags festzuhalten- für schwierige Zeiten und als Erinnerung. Gerade habe ich sie mir wieder angeschaut und sitze jetzt hier mit einem fetten Grinsen 🙂

Welchen Satz kannst du einfach nicht mehr hören?

Oh das variiert. Anfangs war es “Aber xy hat auch lange nicht gesprochen”, später dann der all-time-classic “Ich könnte das ja nicht”. Aktuell gehen mir wirklich, wirklich die ganzen “Ich kenne ein*en Autist*in, bei dem*der…” Geschichten auf den Keks (rw). Ja, herzlichen Glückwunsch, dass das bei der*dem so ist. Bei uns isses halt nicht so. 

Welche Träume hast du?

Die schwerste Frage des Interviews ;-), die mich glücklich wie traurig macht. Traurig, weil ich mich garnicht mehr traue zu träumen (z. B., dass es hier demnächst einfacher würde) und glücklich, weil so viele meiner Träume in Erfüllung gehen durften: Zwei tolle Kinder, die durch unseren Garten springen, während ich mit einem großartigen Mann an meiner Seite ein großes Eis esse.

Gastbeitrag Kaiserinnenreich
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Ein Kommentar zu “Und wie machst du das, Sarah?

  1. ZITAT:
    Bist du die Mutter, die du sein wolltest?
    Ganz ehrlich: Nein. Wenn ich eine Sache in meinem Leben falsch eingeschätzt habe, dann die Rolle der Mutter. Ich hatte das Selbstverständnis, dass mir diese Rolle gefallen würde und ich die Aufgaben, die damit einhergehen, easy wuppen würde. Pflegende Mutter zu sein fällt mir schwerer als ich mir je vorstellen konnte. …

    Das ist für mich die beste aller Antworten auf diese Eurer Fragen, die ich je in einem Bogen hier gelesen habe.

    Für mich entblößt sie nicht nur die unglaubliche Ignoranz, die in Sätzen von Freunden oder Bekannten steckt, die eben kein behindertes Kind habe: Wie Du das machst…also ich könnte das nicht….

    Sondern sie ist auch so ehrlich und wahr, dass sie auch allen Müttern von uns klar machen sollte, dass man nicht dauernd der Außenwahrnehmung suggerieren muss, wir bekämen alles supereasy und fluffig gewuppt…

    Vielen Dank,
    Karo

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