“Du machst das so toll – Ich könnte das nicht! ” und “Inklusion? Das ist ein weiter Weg”. Beides faule Ausreden. Zum einen kann jeder mehr als er oder sie denkt und niemand will für etwas, das er bedingt durch die Umstände übernimmt, falsches Lob bekommen. Wer reißt sich darum hauptberuflich, unentgeltlich zu pflegen und zur Bittstellerin zu werden? Und das hat nichts mit der bedingungslosen Liebe zum Kind zu tun!
Name: Verena Sophie Niethammer (auf Instagram @sophiesanderswelt )
Alter: 38
Mutter von: zwei Kindern, einem Sohn (6) mit PG 5, chronischer Niereninsuffizienz, ICP, Epilepsie, ausgeprägten Dickkopf und Charme sowie einer lebhaften Tochter (4).
Beruf: Fachdidaktikerin für Literatur- und Medienwissenschaft, freie Redakteurin, aktuell – PR-Mitarbeiterin bei einem kirchlichen Arbeitgeber in Teilzeit und pflegende Mutter
Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?
Ich war Lehrbeauftragte an einer pädagogischen Hochschule und Doktorandin, dadurch war ich auch ziemlich gebunden. Ich war öfter in Deutschland unterwegs bei Tagungen und Fortbildungen. Mein Mann und ich sind früher mit unserem ausgebauten Bus gerne quer durch Europa gereist. Wir hatten gern Besuch und sind zu Konzerten und Festivals gegangen. Dieses spontan zu sein fehlt mir heute sehr.
Wie sieht dein Alltag heute aus?
Ziemlich fremdbestimmt, obwohl ich da auch gegen ankämpfe. Wir haben einen ambulanten Kinderpflegedienst, der unseren Sohn als I-Kind in den Regelkindergarten begleitet. Doch der Pflegenotstand ist auch hier deutlich zu spüren, immer wieder sind Dienste nicht besetzt oder fallen aus. Das heißt für mich dann Homeoffice und Pflege. Ich habe viel zu koordinieren, allein die Bürokratie, die zur Pflege dazu kommt, die Klinik-, Therapie- und Arzttermine, den ganzen Schreibkram bei Anträgen oder Widersprüchen. Ein für mich wichtiges Anliegen und auch mein größtes “Hobby” ist es mich für mehr Selbstbestimmung und für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und pflegenden Familien einzusetzen. Dabei verbinde ich das Nützliche mit dem Schönen und organisiere zum Beispiel inklusive Lesungen. Dazwischen versuche ich Zeit zu finden, um mit der Kleinen zum Markt oder in die Bücherei zu gehen oder zusammen im Garten zu entspannen. Ich backe auch leidenschaftlich gerne. Das ist für mich kein Widerspruch zu meinen feministischen Ansichten.
Wann und wie hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?
Direkt nach der Geburt unseres Sohnes. Er hatte eine Art unbemerkten Plazentainfarkt mit beginnendem Multiorganversagen. Direkt nach dem Notkaiserschnitt musste er reanimiert werden. Dazu kamen innere Blutungen, weshalb man ihn nicht kühlen konnte. Zunächst stand das reine Überleben, dann die zerstörten Nieren und der Beginn der Bauchfelldialyse im Vordergrund. Erst langsam wurde uns klar wie ausgeprägt seine Großhirnschädigung wirklich ist. Erst durch eigene Recherchen kam ich auf die Diagnose ICP. Mehrere Ärzt*innen prophezeiten zahlreiche unpassende Bilder und sagten uns negative Prognosen voraus. Diese sind so nie eingetreten. Sie reichten von “Leben im Wachkoma” bis hin zu “wird nicht atmen können”.
Inwiefern ist dein Kind behindert?
Er ist chronisch krank und schwer mehrfach behindert durch die Tetraparese ausgelöst vom massiven Sauerstoffmangel bei der Geburt. Da unser Junior nicht laufen, sitzen, greifen oder sprechen kann, benötigt er dauerhaft eine 24h Vollversorgung wie ein neugeborenes Kind. Er stürzt, hält den Kopf und weiß als 6-Jähriger genau was er will oder auch nicht. Wir können ihn inzwischen auch ohne Verbalsprache weitgehend verstehen. Er nimmt sehr viel Teil an seiner Umwelt, liebt Musik, kuscheln und wildes Toben wie die meisten Kinder.
„Eine Mutter liebt am stärksten ihr schwächstes Kind“, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das?
Ich habe kein schwaches Kind, sondern einen kleinen starken Kämpfer, der nur viel Unterstützung im Alltag braucht, dabei aber unglaublich resilient und lebensfroh ist. Nach seiner letzten großen OP stützte er in seinem riesigen Hüftgips. Trotzdem strahlte er nach kurzer Zeit, als wäre nichts gewesen. Ich habe eine andere Bindung zu ihm, da er mich dringender braucht und vielleicht bald sogar eine meiner Niere erhält. Aber meine Tochter liebe ich nicht weniger. Sie ist die, die mich zum ersten Mal Mama nannte und mir ein Fenster zurück in altes Leben geöffnet hat, da ich mich so oft in ihr wieder erkenne.
Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welches der anstrengendste?
Es gibt viele schöne und anstrengende Momente. Wenn ich morgens keinen Zeitdruck habe, finde ich es schön zuzusehen wie die Kleine sich zu ihrem Bruder ins Bett kuschelt. Das Anstrengendste war lange Zeit die Pflegeroutine abends zusammen mit Schlafproblemen und Schmerzattacken des Großen und dann das zu Bett bringen der Tochter. Das gab mir mir am Tagesende den Rest gab und ich frage mich, wie wir es eigentlich nur zu zweit geschafft haben.
Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert?
Beide Kinder gehen halbtags in den Kindergarten, wenn wir eine Pflege haben. Fällt der Pflegedienst aus, springe meist ich ein, da ich weitgehend im Homeoffice arbeite. In den Ferien oder an seinen freien Tagen übernimmt das mein Mann, der als Berufsschullehrer Gott sei Dank dann auch Ferien hat. Außerdem helfen die Großeltern viel und nehmen unsere kleine Tochter regelmäßig an circa zwei Nachmittagen in der Woche. Arzttermine und Klinikaufenthalte teilen wir uns.
Wie sieht dein Arbeitstag aus? Unter welchen Bedingungen kannst/könntest du Job und Familie miteinander vereinbaren?
Ich arbeite an vier Tage insgesamt 50% in Teilzeit in einem PR-Job. Von ca. 9.00-13.00 Uhr bis ich unsere Tochter wieder vom Kindergarten abhole. Drei Tage bin ich im Homeoffice, einen Tag im Büro mit längerer Anfahrt. Auch wenn das ziemlich stressig ist, tut mir dieser Job unglaublich gut und nimmt mir die Angst vor Altersarmut. Es ist auch so wichtig etwas anderes zu sehen und zu denken, um nicht über den vielen Ungerechtigkeiten, alltäglichen Diskriminierungen und Kämpfen für Teilhabe zu verzweifeln.
Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben?
Nicht viel. Ich versuche ein Zeitfenster für etwas Sport oder Treffen mit Freunden frei zu halten. Oft bin ich aber erschöpft. Auch wenn ich auf viele wie ein Energiebündel wirke, bin ich häufig ganz schön abgeschlagen.
Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?
Das Hauptproblem ist eigentlich nicht die fehlenden Unterstützungssysteme – denn es gibt unzählige Rechte für Menschen mit Behinderungen und für pflegende Angehörige. Diese sind jedoch zu großen Teilen nicht abrufbar und existieren nur auf dem Papier! Speziell, wenn der pflegebedürftige Mensch einen hohen Pflegegrad hat und jung ist greift vieles nicht. Pflege richtet sich weiterhin an Senior*innen – Entlastungsleistungen für minderjährige Pflegebedürftige? Kurzzeitpflege oder Ganztages- oder Ferienbetreuung für Kinder oder junge Erwachsene mit Behinderungen – das gibt es fast nirgends. Schon gar nicht in ländlichen Regionen. Wir wohnen im Nixklusionsland Baden-Württemberg mit Tradition im fünfgliedrigen Schulsystem, wo Sonderschulen (SBB) weiter aus- statt abgebaut werden, auch mit grünem Ministerpräsidenten. Dabei wären die Strukturen vorhanden, sie werden nur nicht entsprechend erweitert! Beispielsweise haben Schulbegleitungen in den Schulferien oft unbezahlt frei, während die pflegenden Familien am Stock gehen.
Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?
Ein Menschenrecht, das niemandem verwehrt werden darf. Es wird noch viel zu häufig nur auf die Schule bezogen. Aber auch im Beruf, in der Freizeit und im Alltag haben Menschen mit Behinderungen – weit gefasst – jeder Mensch, auch mit geringem Einkommen, Fluchterfahrung oder Migrationshintergrund – Recht auf Selbstbestimmung und Inklusion. Nicht zu vergessen wir pflegende Angehörigen, wir pflegende Familien. Wir sind co-behindert an der gesellschaftlichen Teilhabe. Wir sind unsichtbar, sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Familienpolitik, die uns so wenig beachtet wie die Pflegepolitik. Dabei machen wir uns bemerkbar, sind laut – vertreten in Gremien, schreiben Protestbriefe und verfassen erfolgreiche Petitionen – aber es wird bewusst weggesehen!
Bist du die Mutter, die du sein wolltest?
Das ist doch eigentlich niemand, oder? Jede*r malt sich das Muttersein doch anders aus, als es schließlich kommt. Sonst gäbe es wohl kaum Geburten. Was ich vermisse ist meine Leichtigkeit und Unbedarftheit. An das Gute im Menschen zu glauben, fällt mir zunehmend schwerer. Dafür habe ich zu viel Schlimmes gesehen und erlebe zu viel Ungerechtigkeit. Zwischendurch kann ich mich auch fallen lassen, doch das Hamsterrad im Kopf und im Pflegealltag läuft schnell weiter. Der Mental Load erdrückt mich immer wieder. Immerhin bin ich froh, Prioritäten gut setzen zu können und mich nicht durch gesellschaftlichen Leistungsdruck stressen zu lassen, dem viele Familien – besonders Mütter – erliegen. Perfektionistinnen bemitleide ich etwas.
Wann fühlst du dich besonders stark? Und wann besonders schwach?
Stark fühle ich mich beim Schreiben meiner Artikel und im Dialog mit Politiker*innen oder Journalist*innen, wenn ich für die Rechte unserer Kinder und Pfleger*innen der Familien eintreten kann. Und wenn ich es schaffe mich wieder aufzurichten und durch schwere Zeiten zu kommen ohne zu verzweifeln. Ich ziehe viel Kraft daraus, andere in meinem Verein der Hölder – Initiative für Kultur und Inklusion e. V. und der Selbsthilfegruppe “Teilhabe jetzt!” zu unterstützen und hierbei auch aus dem gegenseitigen Support und Vernetzen von und mit anderen Aktiven.
Wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest Du etwas anders machen, als Mutter und/oder als Mensch?
Ganz pragmatisch würde ich ab der Schwangerschaft eine Rechtsschutzversicherung abschließen. Alles andere entzieht sich doch unserer Macht. Jede*r kann von heute auf morgen krank oder behindert werden, da hilft auch keine Zeitmaschine.
Ein Gegenstand Deines Kindes/ Deiner Kinder, den du ewig aufbewahren wirst?
Das sind die ersten Mini-Orthesen unseres Juniors, die trägt heute der Teddybär in unserer ausleihbaren Inklusionsbox vom Verein. Und ein paar Babykleider, die heute die Puppen und Kuscheltiere meiner Tochter anziehen dürfen.
Welchen Satz kannst du einfach nicht mehr hören?
“Du machst das so toll – Ich könnte das nicht! ” und “Inklusion? Das ist ein weiter Weg”. Beides faule Ausreden. Zum einen kann jede*r mehr als er oder sie denkt und niemand will für etwas, das er bedingt durch die Umstände übernimmt, falsches Lob bekommen. Wer reißt sich darum hauptberuflich, unentgeltlich zu pflegen und zur Bittsteller*in zu werden? Und das hat nichts mit der bedingungslosen Liebe zum Kind zu tun! Zum anderen: Der Weg bleibt nur unerreichbar, weil Gesellschaft und Politik nicht step by step an der Umsetzung arbeiten, sondern sich lieber herausreden oder sogar rückwärtslaufen. Es ist ein unglaubliches Armutszeugnis nach 12 Jahren UN-BRK wie wenige öffentliche Orte barrierefrei sind und mit Toiletten für alle ausgestattet sind; wie viele Menschen mit Behinderungen ohne Schulabschluss und exklusiv in Werkstätten ohne Mindestlohn arbeiten und in Heimen fremdbestimmt und oft unterbetreut leben und wie viele pflegende Angehörige ausbrennen und auf Harz IV angewiesen sind und sich dafür auch noch rechtfertigen müssen.
Welche Träume hast du?
Ich wünsche mir, dass aktivistische Bewegungen gegen Rassismus, Antisemitismus und für LGBTQ-Rechte zusammen schließen mit Inklusionsaktivist*innen. Nur so wird nicht nur von Menschenwürde geredet, sondern sie wird auch erlebbar. Ich persönlich hoffe, dass unser Sohn die nächsten Jahre (voraussichtlich mit erneuter Dialyse und Transplantation) gut übersteht. Dass wir ihm in Zukunft ein möglichst selbstbestimmtes Erwachsenenleben mit Assistenz ermöglichen können und ich nicht nur “pflegende Mutter von” bleibe, bis ich selbst nicht mehr kann, sondern auch wieder freier leben und den Pflege-Mikrokosmos etwas verlassen kann.
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