Und wie machst du das, Barbara?

by Gastbeitrag Kaiserinnenreich

“Ich hatte immer das Gefühl, dass manche Menschen in meinem Umfeld meinen Entscheidungen nicht wirklich trauen und ich sie immer verteidigen musste. Als wir z.B. entschieden haben, für Mechthild mit 8 Jahren einen Rollstuhl zu beantragen (auf Anraten ihrer Sonderpädagogin), haben mir meine Eltern, Schwiegereltern aber auch Freunde vorgeworfen, dass das ja eigentlich gar nicht nötig wäre, weil Mechthild doch laufen kann und ich das Kind „behindert mache“, obwohl es das doch eigentlich kaum ist. Welche Anstrengung das Laufen für Mechthild war und welche Freude der Rollstuhl für sie war, weil sie endlich mal mit den anderen mithalten konnte, wurde nicht gesehen.

Ich hatte sowieso oft den Eindruck, dass es gar nicht um Mechthild ging, sondern um die eigenen Befindlichkeiten, Ängste, den Schmerz. Ich hatte oft das Gefühl, dass ich nicht nur meinen Schmerz bearbeiten musste, sondern auch noch für die Großeltern mit. Dabei hätte ich mir gewünscht, dass jemand mir ein bisschen Last abnimmt.

Dennoch gab es natürlich tolle Freunde, die uns unterstützt haben, mit uns gemeinsam Sachen unternommen haben und meine Anfälle von Traurigkeit ausgehalten haben.”

Name: Barbara Kreuser        

Alter: 62

Mutter von:  Mechthild und ihrer jüngeren Schwester (geboren im Jahr 1989 und 1993)

Dein Beruf:  Lehrerin

Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?
Ich war sehr beschäftigt mit meinem Studium (Physik und Mathe für das Lehramt der Sekundarstufe I und II) und dann mit meinem Referendariat, das hat viel Zeit und Kraft gebunden. Für ein Jahr bekam ich eine Stelle als Lehrerin, in dieser Zeit war ich mit Mechthild schwanger. Ansonsten habe ich viel ausprobiert, von Töpfern über Flamenco tanzen, bis hin zu selbstgemachter Kosmetik und selbstgebackenem Brot. Außerdem war ich viel unterwegs, im Kino und Theater, mit Freunden treffen und vieles mehr.

Wie war dein Leben, als deine Kinder da waren?

Da ich mir immer Kinder gewünscht habe, habe ich nie irgendwelchen „Freiheiten“ nachgetrauert. Ich hatte keine feste Stelle als Lehrerin, so dass ich zunächst nicht berufstätig war, sondern nur ein paar Stunden in der Erwachsenenbildung unterrichtet habe. Erst als Mechthild im 2. Schuljahr war habe ich wieder an einer Schule angefangen. Ich habe die Zeit mit den kleinen Kindern sehr genossen und mich in dieser Zeit mit vielen Themen rund um Mechthilds Behinderung auseinandergesetzt und hineingearbeitet. Außerdem habe ich zusammen mit anderen jungen Müttern viel auf die Beine gestellt. Zum Beispiel haben wir in unserer Gemeinde mindestens einmal im Monat sehr schöne Kindergottesdienste gestaltet und eine Krabbelgruppe gegründet.

Dazu kam, dass Mechthild seit sie 3 Monate alt war regelmäßig Therapietermine hatte. Frühförderung, Krankengymnastik, Schwimmen, therapeutisches Reiten, Logopädie, Rollstuhlsport bei den Rollikids… Nicht immer alles zusammen aber mindestens zwei Termine pro Woche.

Als Mechthild dreieinhalb war, kam unsere jüngere Tochter (geplant und sehr gewünscht) auf die Welt. Ich fand es manchmal schwierig auch ihr gerecht zu werden, weil sich viele unserer Aktivitäten an Mechthilds Möglichkeiten orientierten. Andererseits war sie auch bei vielen Terminen aktiv dabei.

Zusammengefasst kann ich sagen: die Zeit war erfüllend, abwechslungsreich, spannend und natürlich manchmal auch richtig anstrengend.

Wie sieht dein Leben heute aus?

Beruflich bin ich immer noch sehr eingespannt. Da ich sehr gerne Lehrerin bin, kann ich gut mit dieser „Auslastung“ leben. Gerade jetzt in Corona Zeiten wird klar, wie wichtig der Lebensraum Schule für Kinder ist, diesen versuche ich so positiv wie möglich zu gestalten.

Unsere Kinder sind 2008 und 2011 von zu Hause ausgezogen, dennoch haben wir fast täglichen Kontakt dank Social Media. Ich bin sehr glücklich, stolz und zufrieden, dass beide Kinder ihren Weg so erfolgreich und mit großer Zufriedenheit gehen.

Mechthild hat sich nach einem Psychologiestudium in den Niederlanden und einigen Jahren im Marketing selbständig gemacht. Ihr Ziel ist es, dass Achtsamkeit und Yoga inklusiver werden.  Dafür bietet sie MBSR-Kurse an und veröffentlich regelmäßig sehr interessante Beiträge auf Instagram (@inklusiveAchtsamkeit) und ihrer Webseite www.inklusiveachtsamkeit.de.

Unsere Jüngere hat ebenfalls in den Niederlanden studiert, allerdings Molekularbiologie. Nach Stationen in Glasgow und Los Angeles (wo wir sie natürlich immer besucht haben) hat sie in Heidelberg promoviert und jetzt eine Stelle gefunden, bei der sie sich sehr wohlfühlt.

Wie hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?

Wir hatten eine gute Kinderärztin, die Mechthilds Behinderung erkannt hat. Deshalb sorgte sie auch dafür, dass wir alle möglichen Therapien (Krankengymnastik, Frühförderung, …) mit Mechthild machten und durchhielten. Allerdings sprach sie immer nur von einer Entwicklungsverzögerung. Mir kam das irgendwann komisch vor und ich fragte unsere Krankengymnastin, „ob das noch mal irgendwann weggeht“. Sie war ziemlich entsetzt, dass die Ärztin uns nicht richtig aufgeklärt hatte und sie das übernehmen musste, obwohl es weder ihre Rolle noch ihre Befugnis ist. Ich war zwar erstmal etwas geschockt, gleichzeitig aber auch sehr erleichtert, weil ich mir nicht nur eingebildet hatte, dass bei Mechthild etwas anders war als bei ihren gleichaltrigen Freund*innen.

Inwiefern ist dein Kind behindert?

Mechthild hat seit Geburt eine Zerebralparese, diese betrifft im Wesentlichen die Beine, aber auch Arme und Hände sind leicht betroffen. Seit sie acht Jahre alt ist hat sie einen Rollstuhl, der mittlerweile für sie nicht mehr wegzudenken ist. Er erweitert ihren Mobilitätsradius ungemein. Wenn die Umwelt sie nicht behindert (fehlende Aufzüge, hohe Bordsteinkanten, Stufen vor Hauseingängen, keine Behindertentoiletten, …) lebt sie sehr selbständig.

Welche sind deine glücklichsten Erinnerungen mit deinem Kind?

Da gibt es unglaubliche viele und sie unterscheiden sich gar nicht so sehr von den glücklichen Erinnerungen mit unserer jüngeren Tochter.

Da sind z.B. ihre Geburt, ihre ersten Schritte mit zwei Jahren, ihr Abitur, der Bachelor- und Masterabschluss. Auch viele tolle Reisen gab es, die wir als Familie unternommen und bei denen wir gemeinsam eine Menge erlebt haben.

Was / oder wer hat dir damals Kraft gegeben, durch die Herausforderungen zu gehen?

Ganz besonders mein Mann, der immer mit mir an einem Strang gezogen hat.

Außerdem tolle Therapeut*innen und Ärzt*innen. Von der Frühförderung über die Krankengymnastin (die uns fast 30 Jahre begleitet hat) bis zu Kinderärzt*innen, die mich unterstützt haben und mir vermittelt haben, dass ich verantwortungsbewusst handle und entscheide.

Natürlich auch Freundinnen und Freunde, die uns so genommen haben, wie wir sind.

Und vielleicht auch ein guter Schuss Naivität, Unwissenheit und ganz viel Gottvertrauen.

Viele Mütter*Väter von behinderten Kindern berichten, dass sie sich von ihrem Umfeld nicht immer verstanden fühlen. Wie war es für dich damals? Hast du dich von deinem Umfeld gut verstanden gefühlt?

Ich hatte immer das Gefühl, dass manche Menschen in meinem Umfeld meinen Entscheidungen nicht wirklich trauen und ich sie immer verteidigen musste. Als wir z.B. entschieden haben, für Mechthild mit 8 Jahren einen Rollstuhl zu beantragen (auf Anraten ihrer Sonderpädagogin), haben mir meine Eltern, Schwiegereltern aber auch Freunde vorgeworfen, dass das ja eigentlich gar nicht nötig wäre, weil Mechthild doch laufen kann und ich das Kind „behindert mache“, obwohl es das doch eigentlich kaum ist. Welche Anstrengung das Laufen für Mechthild war und welche Freude der Rollstuhl für sie war, weil sie endlich mal mit den anderen mithalten konnte, wurde nicht gesehen.

Ich hatte sowieso oft den Eindruck, dass es gar nicht um Mechthild ging, sondern um die eigenen Befindlichkeiten, Ängste, den Schmerz. Ich hatte oft das Gefühl, dass ich nicht nur meinen Schmerz bearbeiten musste, sondern auch noch für die Großeltern mit. Dabei hätte ich mir gewünscht, dass jemand mir ein bisschen Last abnimmt.

Dennoch gab es natürlich tolle Freunde, die uns unterstützt haben, mit uns gemeinsam Sachen unternommen haben und meine Anfälle von Traurigkeit ausgehalten haben.

Fühltest du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?

Nein, nicht wirklich. Ich hatte ganz oft das Gefühl, dass Mechthild das erste Kind ist, das mit einer Behinderung lebt. Ich musste mir mühsam so viele Informationen zusammensuchen. Ein Beispiel war ihr Führerschein, das war ungeheuer aufwändig, nirgends bekamen wir verlässliche Auskünfte und mussten auch manche Umwege gehen. Es hat dann aber doch geklappt! Insofern hätte ich mir eine Anlaufstelle gewünscht, die „alle Fragen gebündelt beantwortet“ und mir die richtigen Ansprechpartner*innen vermittelt.

Gab es bei dir Kommentare, die zu dir immer wieder gesagt wurden, die du nicht mehr anhören konntest? Welche waren sie?

Schon während der Schwangerschaft hat mich der Spruch „Hauptsache gesund“ auf die Palme gebracht. Oft habe ich geantwortet: „Auch wenn das Kind nicht gesund ist, werden wir es lieben und bestmöglich groß werden lassen“.

Dann kam sehr oft der Spruch „das arme Kind“, das konnte und wollte ich auch nicht mehr hören. Dieses Mitleid war unnötig und hat niemandem geholfen.

Als dritter Kommentar fällt mir ein: „sie ist doch eigentlich nur ein bisschen behindert, …“ (würdigt man unsere Anstrengungen nicht? Sollen wir uns nicht so anstellen? Soll uns das trösten?)

Wie sah dein Arbeitstag aus? Unter welchen Bedingungen konntest du Job und Familie miteinander vereinbaren

Durch Unterstützung von Freundinnen, aber auch meinen Schwiegereltern, die die Kinder immer mal wieder betreut haben. Das berühmte soziale Netz. Später dann die Betreuung in der Grundschule (damals noch nicht OGS). Durch meine Arbeitszeiten als Lehrerin konnte ich damals noch ganz gut Kinder und Arbeit vereinbaren, auch wenn ich oft abends und am Wochenende am Schreibtisch saß.

Wieviel Zeit hattest du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben?

Nicht viel, dennoch habe ich Sachen gemacht, die mir sehr am Herzen lagen. Zum Beispiel habe ich eine Weiterbildung als Schulmediatorin gemacht und Streitschlichtung bei uns an der Schule aufgebaut. Diese Fortbildungswochenenden haben für mich jeden Wellnessurlaub ersetzt. 2011, als auch unsere jüngere Tochter ausgezogen war, habe ich eine Ausbildung zur Mediatorin gemacht und bin Moderatorin für das Bensberger Mediations-Modell geworden, das Streitschlichtung in die Schulen bringt.

Inklusion war damals kein Begriff, wie wir ihn heute nutzen. Hast du aber trotzdem für Teilhabe gekämpft? Falls ja, kannst du uns von einer Situation berichten?

Damals sprach man noch von Integration, ich habe mich im Verein „gemeinsam Leben, gemeinsam Lernen“ engagiert. Ansonsten habe ich versucht, dass Mechthild möglichst viele, ganz normale Aktivitäten machen konnte. Dabei gab es aber immer wieder Rückschläge. So war es zum Beispiel nicht immer für sie möglich bei Gruppenreisen mitzufahren.

Kannst du mit uns eine schöne Situation mit deinem Kind teilen, die dich/euch glücklich gemacht hat? 

Auch da gibt es sehr viele. Eine davon war bei einer Reise nach New York. Wir reihten uns in der Schlange ein um Karten für die Besichtigung des Empire State Buildings zu kaufen. Wir wurden von einem „Ordner“ angesprochen, der uns aus der Reihe holte und persönlich und ohne Kartenkauf nach oben fuhr. Diese Aufmerksamkeit und Sonderbehandlung hat uns allen gutgetan.

Kannst du mit uns eine Situation mit deinem Kind teilen, die dich/euch traurig gemacht hat?

Mechthild wurde mit ca. fünf Jahren in der Bonner Uniklinik vorgestellt, weil ein MRT von ihrem Kopf gemacht werden sollte. Ich erwähnte, dass wir ein weiteres Kind haben, die Ärztin ging anscheinend davon aus, dass dieses Kind älter sein müsste als Mechthild. Als ich erklärte, dass Mechthild eine jüngere Schwester hat, schaute sie mich völlig entgeistert an. Ich hatte das Gefühl, dass sie uns für verantwortungslos hielt, nach einem behinderten Kind noch ein weiteres Kind zu bekommen.

Bist du die Mutter, die du sein wolltest?

Ich wollte die perfekte Mutter sein, das hat nicht geklappt ;-). Aber meine Kinder sehen mich durchaus als Vorbild, wie man z.B. Familie und Kinder unter einen Hut bekommen kann. Das freut mich sehr und insofern würde ich die Frage mit Ja beantworten.

Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest du etwas anders machen, als Mutter?

Ja, sicher. Vielleicht würde ich den Drang, Mechthild unbedingt beschützen zu wollen, etwas mehr unterdrücken. Außerdem würde ich mehr Zeit für unsere jüngere Tochter reservieren, dass auch sie ausreichend unterstützt wird.

Dennoch macht man ja immer das bestmögliche, was man in dieser Situation, zu dieser Zeit machen kann. Insofern mache ich mir darüber keinen großen Kopf.


Wenn du könntest, welchen Gegenstand deines Kindes würdest du ewig aufbewahren?

Das Kinderbuch über Luzie Langsam (Friedel Schmidt: Hurra, ich hab’s geschafft!, Lappan Verlag). Es geht um die kleine Schnecke Luzie Langsam, die eine große Strecke zurücklegen will. Andere Tiere kommen um ihr zu helfen. Aber Luzie kann nicht krabbeln, nicht fliegen, nicht laufen. Als sie irgendwann weint und sagt: „Ich kann gar nichts“, warf Mechthild ein: „doch, lachen!“.

Was würdest du einer jungen Mutter sagen, die heute eine ähnliche Situation lebt, wie du damals?

Sei stolz auf dich und vertraue vor allem deiner Intuition. Du weißt besser als alle anderen, was gut für dich und dein Kind / deine Familie ist. Such dir Freund*innen und Wegbegleiter*innen, die dir guttun und dich unterstützen.

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