Wir dürfen nicht länger Bittsteller sein. Es geht um die Umsetzung von Rechten, nicht um Geschenke.
Name: Jennifer (auf Instagram: @jennifermeyerueding )
Alter: 39
Mutter/Vater von: Mädchen 11 Jahre, Junge 8 Jahre, Mädchen 2 Jahre
Beruf: Freie Autorin, ursprünglich Politikwissenschaftlerin und Agrarökonomin
Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?
Mein Mann und ich haben in Berlin gewohnt. Ich habe in einem deutsch-indischen Klimaprojekt gearbeitet und war deswegen häufig im Ausland. Dieses Leben hat mich total erfüllt. In Berlin haben mein Mann und ich beide viel und gerne gearbeitet, Sport gemacht, Freund:innen getroffen und die Vorzüge der Großstadt genossen. Unsere erste Tochter war geplant. Aber ich konnte mir vor ihrer Geburt nicht vorstellen, wie sehr sie, wie sehr Kinder, mein Leben verändern würden. Ich wusste nicht, welche Mutterliebe ich empfinden würde. Erst nach ihrer Geburt habe ich realisiert: Es ist nicht unsere Tochter, die sich unserem Leben anpassen wird und muss. Ab jetzt organisieren und priorisieren wir unser Leben um diesen kleinen Menschen herum.
Wie sieht dein Alltag heute aus?
Wir sind nach der Geburt unseres Sohnes mit Behinderung aus Berlin fortgezogen. Nach vielen beruflichen Wechseln und Umorientierungen arbeite ich mittlerweile als freie Autorin.
Ich stehe um 4:30 auf, mache etwas Sport und kümmere mich dann um die Hausarbeit und ums Frühstück. Ab sechs Uhr werden die Kinder geweckt. Meistens übernimmt mein Mann den morgendlichen Katheter und das Anziehen der Orthesen bei unserem Sohn. Ich mache seine kleine Schwester fertig. Unsere Große muss nur noch etwas angetrieben werden. Wir frühstücken gemeinsam. Ab sieben verlassen die Großen und mein Mann das Haus. Einer von uns fährt die Kleine mit dem Rad in den Kindergarten. Danach erledige ich daheim noch etwas Hausarbeit, bereite das Essen vor und setze mich dann an den Schreibtisch. Spätestens um 13:15 kommt unser Sohn mit dem Fahrdienst aus der Schule. Ich katheterisiere ihn, wir essen zu Mittag. Dann sind Hausaufgaben angesagt. Seine große Schwester kommt erst später. Sie geht nach der Schule noch etlichen Hobbys nach. Meine Mutter, die ich nach ihrem Schlaganfall auch betreue, kommt vorbei und bleibt bei unserem Sohn. Ich hole dann seine kleine Schwester vom Kindergarten ab. An zwei Tagen gehen wir mit unserem Sohn zur Physio- oder Ergotherapie. Manchmal kommen noch Freund:innen der Kinder zu Besuch. Dann wusle ich im Haushalt herum, spiele mit oder erledige, was anfällt. Zwischen 18:00 und 19:00 kommt mein Mann aus der Praxis. Es gibt Abendbrot. Danach haben die Kinder Medienzeit (30-60 Minuten), kombiniert mit der Darmspülung unseres Sohnes. Wir Erwachsenen räumen auf, was die Kinder nicht geschafft haben. Anschließend machen wir die Kinder bzw. sie sich selbst bettfertig. Seit meinem depressivem Zusammenbruch in diesem Frühjahr, bringt mein Mann die Kinder allein zu Bett. Ich kann mich zurückziehen. Dann schreibe, lese oder male ich und gehe früh zu Bett.
Wann und wie hast du von der Behinderung deines Kindes erfahren?
Bei der Feindiagnostik in der 20 SSW. Wir sind unbedarft dorthin. Ich hatte eine leicht vermehrte Fruchtwassermenge. Wir hatten uns eher auf ein fröhliches Baby TV eingestellt nicht auf beunruhigende Nachrichten. Ich erinnere mich noch, wie ich dort lag, während der Arzt den Schallkopf über meinen Bauch fahren ließ. Der Herzschlag war normal. Dann das Räuspern des Arztes: „Ich muss Ihnen etwas Schlimmes sagen“. In diesem Moment dachte ich, unser Sohn sei nicht lebensfähig. Alles stürzte ein. Die Art wie der Arzt uns die Diagnose überbrachte, war ein Erdbeben für mich. Wir wurden in ein anderes Zimmer begleitet. Ich war in Tränen aufgelöst. Mein Mann, selbst Mediziner, wirkte wie eingefroren, völlig schockiert. In dieser Stunde habe ich das einzige und letzte Mal wegen der Behinderung unseres Sohnes geweint. Klar, wegen Rückschlägen, medizinischen Problemen oder gesellschaftlichen Herausforderungen empfinde ich auch heute häufig Trauer und Wut. Aber nicht, weil unser Sohn ist, wie er ist. Es gibt ihn nur so.
Als wir am Diagnose-Tag später von einem Team von Ärzt:innen und Humangenetiker:innen beraten wurden, hatte ich meine Tränen bereits überwunden.
Das Team klärte uns über die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruches auf. Mit nur einem Blick waren mein Mann und ich uns einig, das war keine Option für uns. Wir wollten nur wissen, was auf uns zukommt. Was konnten wir unternehmen, damit es unserem Kind möglichst gut geht. Ich habe schon zu diesem Zeitpunkt eine tiefe Liebe für unseren Sohn empfunden. Es ist ein Glück, sich als Paar hier einig zu sein. Weil wir als Eltern einen gemeinsamen Weg verfolgen, ist es einfacher diesen zu gehen. Ich habe großen Respekt vor Eltern, zumeist Frauen, die sich diesen Herausforderungen alleine stellen müssen.
Ich muss noch eine Sache ergänzen. Ich habe nie um ein „gesundes Kind“ getrauert, so wie es wohl viele Mütter tun. Doch auch mich macht es immer wieder traurig zu sehen, was unser Sohn bewältigen muss: Wenn er im Krankenhaus einen Zugang gelegt bekommt und Angst vor der Spritze hat oder wenn er auf dem Spielplatz nicht alle Geräte benutzen kann. Und eine andere Sache hat mich lange belastet, vielleicht tut sie das noch immer: die Schuldfrage. Die Behinderung unseres Sohnes wird allgemein kausal mit einem Folsäuremangel in Verbindung gebracht. Zu meinem Glück hatte ich seit der Schwangerschaft mit seiner großen Schwester durchgehend Folsäure und Vitamin B 12 zu mir genommen. Das habe ich präventiv durchgezogen, da ich vor den Kindern vegan und seit der Familienplanung vegetarisch gelebt hatte. Dennoch ist seine Behinderung, die auf eine Fehlbildung des Rückenmarks zurückgeht, in meinem Bauch passiert.
Inwiefern ist dein Kind behindert?
Unser Sohn wurde mit Spina Bifida in einer schweren Ausprägung geboren. Das heißt, die Fehlbildung seines Rückenmarks lag sehr hoch und war sehr großflächig. Wir haben die Möglichkeit genutzt, ihn in der Schweiz pränatal operieren zu lassen. Das war damals, als diese OP Methode noch sehr neu und von den Krankenkassen nicht anerkannt war, ein Abenteuer. Ohne diese OP, könnte er heute seine Beine nicht bewegen. Jetzt kann er kurze Strecke mit Orthesen am Rollator gehen. Für längere Wege nutzt er den Rolli. Er hat eine Blasen- und Darmfunktionsstörung. Wir katheterisieren ihn fünf bis sechsmal täglich, müssen täglich seinen Darm spülen. Er hat auch einen shunt-versorgten Hydrocephalus und eine Skoliose. Wenn er seine gesamte Orthesen- und Korsett-Ausrüstung trägt, sieht er aus wie ein Ritter.
„Eine Mutter/ein Vater liebt am stärksten ihr schwächstes Kind“, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das?
Nein, ich liebe alle drei gleich. Nur Sorgen mache ich mir um unseren Sohn mehr. Er ist nicht nur körperlich schwächer als seine zwei Schwestern. Er ist auch sensibler und feinfühliger.
Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welches der anstrengendste?
Glücklich bin ich beim Kuscheln und Vorlesen. Sonst am Frühstückstisch, wenn gute Laune ist. Und jedes Mal, wenn meine Kinder mich umarmen, mich anlachen. Anstrengend wird es am Morgen beim Aufbruch, wenn alle Familienmitglieder alles gleichzeitig erledigen müssen. Das ist wahrscheinlich in den meisten Familien so. Anstrengend sind auch alle Momente, in denen Barrieren meinen Sohn behindern: Wenn wir nach Hamburg oder Berlin fahren wollen und die Aufzüge am Bahnhof kaputt sind oder der reservierte Rollstuhlplatz wegfällt. Wenn unsere (zum Glück wundervolle) Schulbegleiterin krank wird, es keinen Ersatz gibt und mein Sohn nicht in die Schule kann.
Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert?
Wir haben seit der Geburt unseres Sohnes eine recht klassische Rollenaufteilung gewählt. Das war teilweise eine emotionale Entscheidung, teilweise eine kurzfristig ökonomische, teilweise eine pfadabhängige. Mein Mann arbeitet als Chirurg mehr als Vollzeit. Ich habe immer Jobs um die Kinder herum ausgeübt. Dabei wollte ich weiterhin „Karriere“ machen. Meine letzte Festanstellung war als Lehrerin an einer Oberschule. Jetzt bin ich freiberuflich tätig und sortiere mich (mal wieder) neu.
In der Phase meines depressiven Zusammenbruchs im Frühjahr hat mein Mann den Großteil der Kinderbetreuung übernommen. Die Betreuungslöcher konnten wir mit der großartigen Hilfe seiner Eltern, meiner Schwester und einer Babysitterin flicken.
Jetzt bin ich wieder stabil und fähig, Mama zu sein. Unsere Kinderfrau (eine examinierte Krankenschwester) behalten wir für einige Stunden, damit ich nicht wieder durch Überlastung erkranke.

Wie sieht dein Arbeitstag aus? Unter welchen Bedingungen kannst/könntest du Job und Familie miteinander vereinbaren?
Vereinbarkeit ist ein ganz schwieriges Thema. Es hat Jahre und meinen Zusammenbruch gebraucht, um zu bemerken, dass ich meine Ambitionen und Karrierevorstellungen ändern muss. Pflegegrad 4 bedeutet wirklich eine aufwändige Pflege. Drei Kinder bedeuten viel Care- Arbeit. Daneben betreue ich auch noch meine eigene Mutter. Ich habe dennoch Ambitionen und eigene Interessen, will nicht „nur“ Mutter sein. Ich suche gerade noch meinen Weg.
Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben?
Morgens, deswegen stehe spätestens um 5 Uhr auf und abends, wenn mein Mann, die Kinder zu Bett bringt. Ich genieße die Zeit allein.
Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?
Nein. Von vielen einzelnen Menschen abgesehen: Erzieher:innen, Lehrer:innen, Freundinnen und Freunde, die mit Offenheit und Empathie einfach helfen ohne lange Bedenken zu äußern.
Politisch und gesellschaftlich ist hingegen viel zu tun:
Unserem Sohn und anderen Kindern mit Behinderung stehen noch viele Barrieren im Weg. Ein Weg, der eigentlich längst frei sein sollte: Die UN-Behindertenrechtskonvention und die UN-Kinderrechtskonvention machen klare Vorgaben. Diese Rechte werden aber massiv verletzt. So wurde unser Sohn zunächst in eine Förderklasse gedrängt. Es brauchte unser elterliches Engagement und den wunderbaren Klassenlehrer seiner großen Schwester, um eine andere Schule und eine inklusive Beschulung durchzusetzen. Wir dürfen nicht länger Bittsteller sein. Es geht um die Umsetzung von Rechten, nicht um Geschenke.
Es gibt so viele Baustellen: Care-Arbeit im Allgemeinen muss gesellschaftlich und ökonomisch anders honoriert werden. Rund vier von fünf Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause versorgt. Das ist eine Leistung, die Anerkennung und sehr viel mehr Unterstützung verlangt.
Gesellschaftlich wünsche ich mir zudem, dass wir den Begriff der Behinderung anderes konnotieren. Er ist defizitorientiert und medizinisch geprägt. Menschen werden auf ihre Behinderung reduziert. Unser Sohn ist mehr als ein Kind mit Spina Bifida: Er ist ein Witze-Erzähler, ein Künstler und Nudelliebhaber.
Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?
Inklusion sieht alle Kinder, alle Menschen in ihrer Vielfalt als wertvolle Mitglieder der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft geht auf die Bedürfnisse jedes Mitglieds ein. Nicht das Kind muss sich in das System integrieren, sondern das System muss sich auf das Kind einstellen.
Das würde konkret bedeuten, dass unser Sohn und wir nicht darum kämpfen müssen, die Regelschule besuchen zu dürfen oder den erforderlichen Rollstuhl bewilligt zu bekommen.
Erforderlich wäre auch, die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Damit wir das nächste Café um die Ecke und das geliebte Museum besuchen können.
Bei einer gelungenen Inklusion wird niemand ausgegrenzt, alle haben gleichberechtigten und selbstbestimmten Zugang zu allen Lebensbereichen. Inklusion ist gemeinsames und gleichberechtigtes Lernen und Leben. Ich bin der festen Überzeugung, davon würden alle profitieren.
Bist du die Mutter / der Vater, die / den du sein wolltest?
Ich bin ganz anders. Ich liebe mehr, als ich es mir je habe vorstellen können. Ich bin stärker, wenn es um das Wohl meiner Kinder geht. Dann kämpfe ich. Ich erkenne aber gerade: Ich bin auch schwächer. Meine Kraft ist begrenzt. Die Power-Mama, die immer alles meistert, war eine Illusion. Die bin ich nicht. Die muss ich auch nicht sein. Ich bin trotzdem eine gute Mutter. Das weiß ich, aber ich fühle es noch nicht. Ich fühle mich nicht gut genug. Daran arbeite ich. Die ehrlichen Schilderungen anderer Mütter helfen mir dabei. Danke an euch alle dafür.

Wann fühlst du dich besonders stark? Und wann besonders schwach?
So schwach wie bei meinem depressiven Zusammenbruch habe ich mich noch nie gefühlt. Die Belastungen der Pandemie waren der Auslöser, die Ursachen liegen tiefer. Das hat mich umgeworfen. Jetzt gewinne ich wieder an Stärke. Ich hoffe dauerhaft. Stark bin ich immer, wenn ich stark sein muss. Wenn Operationen für unseren Sohn anstehen oder wenn wir für ihn oder seine Schwestern Rechte erstreiten müssen.
Wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest Du etwas anders machen, als Mutter und/oder als Mensch?
Ich würde eher reflektieren, was unsere familiären Wünsche und Bedürfnisse, auch meine sind. Ich würde mich nicht so sehr an gesellschaftlichen Erwartungen orientieren.
Ein Gegenstand Deines Kindes/ Deiner Kinder, den du ewig aufbewahren wirst?
Ich habe von jedem Kind eine Schachtel mit der ersten Bekleidung, dem ersten Mützchen, dem ersten Stofftier.
Welchen Satz kannst du einfach nicht mehr hören?
Das geht nicht.
Wusste man DAS nicht vorher?
Der arme Junge…
Ich könnte das nicht.
Welche Träume hast du?
Für meine Kinder, dass sie in einer inklusiven Gesellschaft leben können, mit Berufen und Familienmodellen, die sie erfüllen, dass sie ihr Glück finden. Für mich und meinen Mann eigentlich dasselbe: Dass wir uns nicht zerrissen fühlen müssen zwischen uns, unseren Berufen, der Pflege und der Familie.
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