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„So ein Mist, unser Stuhl, oder?“, sagte der Mann in der kölner Fußgängerzone zu meiner Tochter und schlug gegen das Rad seines Rollstuhls. Wie mein dreijähriges Kind, ist er auch auf einen Rollstuhl angewiesen. Meine Tochter hörte ihm zu, war aber mehr an seinem Clownkostüm und an dem Lolli interessiert, den er ihr reichte. Ich jedoch konnte mich nicht so einfach ablenken lassen.
„Ihr Rollstuhl ist kein Mist“, sagte ich freundlich aber bestimmt.
„Wie bitte?“, fragte er etwas irritiert, als ob er sowas das erste Mal gehört hätte.
„Mein Kind ist erst drei und sie wird ihren Rollstuhl ihr ganzes Leben brauchen. Ich möchte nicht, dass sie mit dem Gedanken aufwächst, dass ihr Rolli doof wäre. Sie braucht ihn wirklich und durch ihn kann sie autonom sein“, antwortete ich.
Eigentlich war ich etwas genervt und hatte keine große Lust, schon wieder über das Thema reden oder daran denken zu müssen. Ich wollte einfach mit meinem Kind durch die Fußgängerzone laufen, wie die anderen Menschen um uns herum. Wir haben mehrere Minuten gebraucht, um den Weg vom Ludwigsmuseum runter zur Innenstadt zu finden – überall Stufen, Sperrung, Baustelle! Als ich vor zwölf Jahren in der Küche eines chicken Restaurants in Neumarkt gearbeitet habe und oft überall in Köln unterwegs war, hatte ich nicht alle diese vielen Stufen und Treppen bewusst wahrgenommen. Oder besser gesagt, ich musste mir nie überlegen, welchen Weg ich nehmen konnte – weil ich überall hin konnte. Ich musste mich damals nicht damit auseinandersetzen, könnte ich heute als Entschuldigung nehmen. Dennoch weiß ich, dass diese Logik ableistisch und egoistisch ist. Jetzt, als meine Tochter und ich endlich da waren, wo wir sein wollten, hatte ich eigentlich keine Lust, einer fremden Person meine Welt erklären zu müssen.
„Oh, oh, nein, klar. Es tut mir leid, so habe ich nie gedacht!“, sagte der Mann mit großen Augen. „Nur mein Stuhl ist ein Mist, deiner ist gut, okay? Hier, nimm schon zwei Lollis“. Da war jemand glücklich – und ich musste innerlich von seiner Reaktion grinsen. „Wissen Sie, seit einem Monat brauche ich das Teil hier und es ist nicht leicht für mich. Gar nicht leicht“. Ich grinste nicht mehr.
„Oh, ich verstehe sehr was Sie meinen und kann das sehr mitfühlen! Es ist sicherlicht nicht immer leicht für Sie und auch nicht für mein Kind“. Ich spürte die Schwere von seinem Alltag. Ich erinnerte von meiner Genervtheit von den zwei Minuten davor.
Hinter jedem Satz lebt eine reale Geschichte. Jedes Wort versteckt Tränen in sich, Träume, Desillusionen, Freude, Müdigkeit, Privilegien, Wut, Hoffnung, Schmerzen und viel mehr, als sie uns eigentlich buchstäblich sagen. Die Begegnung mit diesem Mann war lustig und gleichzeitig tief. Menschlich tief.
In meinem Satz war vielleicht Hoffnung und der inhärente Wunsch von mir als Mutter, dass mein Kind ein gutes Leben führen kann. Aber auch die Angst, dass ihr das vielleicht nicht erfüllt werden wird, weil wenn wir die Welt so weiter gestalten, wie wir das bis jetzt gemacht haben, bleiben Barrieren die Norm in dem Leben meiner Tochter. In vielen Ecken erfahren wir, dass wenige Menschen an sie gedacht haben – an sie und an 1,40 Mio. Menschen die hier in Deutschland auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Es sind ganz schön viele Menschen! Menschen, die auch ein Leben zu leben haben, einen Kalender mit Terminen und mit Träumen, die gelebt werden wollen. Sie haben Freund*innen zu treffen, Filme die sie gerne im Kino schauen wollen, Einkäufe zu machen, wichtige Gespräche zu führen, oder einfach Lust durch die Stadt zu gehen. Das geht aber nur, wenn ihnen der Weg nicht versperrt wird.
Die Bedürfnisse eines Menschen mit Behinderung sind nicht besonders. Sie sind kein Luxus, kein Gefallen und keine Ausnahme. Sie sind menschlich. Meine jüngste Tochter will dazugehören, teilhaben, spielen, lieben und geliebt werden, Orte besuchen, Orte verlassen, unterwegs sein, aufs Klo gehen, essen, sich mitteilen, den Kindergarten besuchen, usw. Ist das besonders? Was unterscheidet ihre Bedürfnisse von denen eines dreijährigen Kind, das laufen kann?
Ich verstehe sehr deine Müdigkeit, lieber Clown. Ich vermute aber, dasss deine Müdigkeit nicht an deinem „Stuhl“ liegt, wenn ich das sagen darf. Es liegt in der Art, wie wir Leben gestalten, für wen wir das machen und für wen nicht. Paulo Freire, ein der weltweit einflussreiche Pädagoge sagte: „Die Welt ist nicht, die Welt ist am werden“. Die Realität ist nicht ein fertiges Phänomen, sondern ein Prozess und eine von vielen Möglichkeiten. Diese aktuelle Version der Welt hat viele Menschen auf der Strecke vergessen – und diesen Fakt sollen wir nie vergessen. Das soll nicht normalisert werden.
Zu glauben, dass die Welt ist, wie sie ist, würde uns zu bedeuten geben, dass der Rollstuhl das Problem wäre. Oder noch schlimmer: die behinderte Person. Diese Brille diskriminiert, erniedrigt und segregiert Körper, Menschen und Lebensarten. Und das tun wir gerade – bewusst oder unbewusst.
Wir brauchen schlaue, kreative und menschliche Lösungen, damit niemand mehr vergessen wird, damit alle das Grundrecht von Zugehörigkeit und Teilhabe bekommen können. Aber dafür, sind wir ALLE, als Gesellschaft dran. Weil die Lösung nie nur individuell sein soll. Sie ist kollektiv und soll mit der entsprechenden Community getroffen werden. Machst du mit?
Seit wir nicht mehr mit dem Kinderwagen fahren, werden wir viel mehr angesprochen, sagt Melanie, die Mama. Aber: Mein Rolli ist ein Tolli, sagt Nora, 4 Jahre, im Eltern-Kind-Tanz-Kurs und verändert damit ein Stück Welt für mich.