Ein Gastbeitrag von Judith aus dem Instagramprofil @briefe.an.fritzi
Ich lese bei verwaisten Müttern oft, sie hätten das schlimmste schon erlebt. Ich frage mich, was das ist. Ist es das, was wir erleben? Zu wissen, dass das eigene Kind an einer Krankheit und nicht am Alter stirbt und trotzdem nicht zu wissen, wann? Jeden Glücksmoment ins eigene Herz zu brennen und dabei vor Freude und Schmerz gleichzeitig zu weinen? Immer mit dem Fuß in der Krankenhaustür zu stehen; die Koffer gepackt? Nicht mehr erholsam schlafen, keine langfristigen Pläne mehr machen und keine Sekunde mehr ohne in Alarmbereitschaft leben zu können?
Mein Kind ist schwerstkrank. Seine Krankheit verkürzt seine Lebenszeit. Es wechseln sich akute Krisenphasen, lebensbedrohliche Situationen und Zeiten, in denen mein Kind stabil ist, ab. Nachdem ich aufhören konnte, darauf zu warten, dass es gesund wird, habe ich begonnen, auf die guten Phasen zu warten. Als gäbe es Graustufen in all dem Schwarz. Das schlimmste schon erlebt haben – was ist das? Die Beerdigung planen? Das eigene Kind sterben sehen? Die Unumkehrbarkeit spüren? Das Leben weiterleben müssen? Ich kann keine Abstufungen mehr ausmachen. Eine Zeit lang dachte ich, nach weiß käme folgerichtig schwarz, aber auch das stimmt nicht.
Ich plane die Beerdigung meines Kindes. Ich arbeite in Einzelsitzungen online mit einer Bestatterin zusammen, die sich zur Sterbebegleiterin ausbilden lässt. Ich kenne schon das Bestattungsunternehmen und die Trauerrednerin, die mit uns das letzte Fest mit unserem toten Kind feiern werden. Ich habe online Veranstaltungen zum Thema Tod und Sterben bei Kindern und Bücher gelesen. Wir sprechen als Eltern untereinander, mit den gesunden Geschwistern und unserem kranken Kind selbst über das Sterben. Wir müssen vorbereitet sein. Ich will vorbereitet sein. Das schlimmste ist schon längst. Es begann mit der ersten Entscheidung über eine lebensrettende Operation meines sterbenskranken Kindes, als es acht Tage alt war. Wir haben uns für das Leben entschieden. Wir haben uns für ein Leben entschieden, in dem wir uns auch auf den Weg in den Tod unseres Kindes machen. Es ist nichts weiß und schwarz, kein Grau zwischen zwei Endpunkten. Es ist bunt. Es ist immer alles. Und immer alles jetzt.
Jeder Tag ist einer mehr und einer weniger.
Diesen Text schrieb ich keine zwei Tage, bevor ich die behandelnden Ärzte auf der Intensivstation darum hat, die Beatmungsmaschine auszuschalten, die das Leben meines Kindes aufrecht erhielt. 1080 Tage hat es gedauert, bis ich das Schlimmste hinter mir hatte: die endlose Angst. Den ewig angehaltenen Atem. Die abgesagten Träume, den Verlust eigener Bedürfnisse. Diese endlose Angst.
Mein Kind ist tot. Das Schlimmste war der Weg dahin. Mein Kind starb an einem Punkt, an dem ich bereit dafür war. Ich habe das tiefste Loch gesehen, mich daraus gehoben und gerüstet. Ich war vorbereitet. Ich habe beinahe drei Jahre lang einen neuen Pfad in mein Bewusstsein getrampelt, der mich verstehen ließ, dass ich gut genug bin. Dass ich das gut mache.
Mein Kind ist tot. Ich habe es geboren und ich habe es aus diesem Leben entlassen. Das Schlimmste war, nicht zu wissen, dass ich es kann. Angst davor zu haben, niemals bereit sein zu können. Niemals genug zu sein.
Mein Kind ist tot und es fehlt. Wir haben es nach Hause geholt; uns und ihm Zeit gelassen, uns voneinander zu verabschieden. Um zu sagen, was noch ungesagt war. Um zu verzeihen und zu bitten. Um zu verstehen. Um zu fühlen.
Ich schwitze. Ich fühle keine Zeit mehr, mir ist übel. Ich lache, ich weine. Ich bin still und kann nicht ruhen. Ich habe mein totes Kind nackt auf meiner nackten Brust getragen. Ein einziges Mal konnte ich das so in dieser Form nur kurz nach seiner Geburt. Angstfrei, weil ich nicht wusste, dass es so krank war. Ich habe mit meinem Kind in unserem Bett gelegen und Besuch von Menschen bekommen, die in den Tagen nach seiner Geburt nicht mehr auf die Intensivstation kommen konnten.
Ich habe vor 1080 Tagen mein drittes Kind selbstbestimmt und so bewusst geboren. Am Morgen wissend, dass es an diesem Tag passieren würde. Ich habe mich vorbereitet und gewusst, dass ich das kann. Das Sterben meines Kindes war die Geburt einer Verbindung anderer Art. Und ich habe mich darauf vorbereitet. Ich konnte es begleiten. Selbstbestimmt und ganz bewusst. Traurig zwar aber ganz bewusst.
Ich bin traurig. Kein nächster Tag. Keine mehr weniger und nicht einer mehr zusätzlich. Keine neue Erinnerung. Mein Kind ist tot.
Ich bin nicht mehr seine Lebensversicherung. Ich trage keine Verantwortung mehr. Es fällt eine Last ab. Es fällt der Vorhang und dahinter bleibt die Liebe.
Die Liebe bleibt für immer. Für mein Kind. Und für mich. Ich habe es beschützt und jetzt kehren sich die Rollen um. Es hat mich gelehrt, gut zu mir zu sein. Es hält mich, es ist in mir. Liebe. Immer. Und für immer.
Und ich muss keine Angst mehr haben.
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Liebe Judith, ganz viel Liebe für Dich und deine Familie! Danke für das Teilhaben an deinen Gedanken. Alles Gute für euch!
Wenn ich sowas lese, will ich immer ganz lange replies schreiben. Über Demut und so. Stattdessen denke ich mittlerweile: für diese Mutter will ich eine gute Medizinerin sein. Zuhören und mitfühlen. Ihr verändert so viel! Ich denke an euch.
Ja, das ist tatsächlich vielleicht auch der Grund, warum ich das hier lese. Weil ich auch gut genug sein will, wenn ich es in solchen Situationen sein muss.
Dieser Kommentar (in Kombi mit dem Artikel) rührt mich zu Tränen.
Danke Judith für dein Schreiben! In Liebe, alles Gute für Fritzis Seele, alles Gute für dich, deine Familie und alle, die irgendwie teilhaben. R.
Danke. Danke für die Einsicht, die Du unbekannten Dritten gibst. Danke dafür lesen zu können, dass auch das Unvorstellbare, die tiefsten Abgründe irgendwie “rarionalisiert” werden können. Ich weiß dieser Begriff ist unzureichend. Das nackte Leben bewusst annehmen, genießen, weil klar ist was kommt und wie unvermedilich das ist, was kommt. Ich bin sehr beeindruckt wie ihr Fritzis Geschwister mitnahmt auf dieses Reise, die ihr absolviertet. Ich kenne euch nicht. Ich kannte eure Hummel nicht. Ich weiß, wie sehr ich meine Kinder liebe, wie sehr ich für sie lebe, seit es sie gibt. Ich habe deinen Insta Blog für Fritzi.vor 36 Stunden entdeckt. Er nimmt mich mit, ich staune ob eurer Stärke und ich hoffe sehr sie trägt dich und deine Lieben weiter, in dem Wissen, dass die Liebe zur Hummel unsterblich ist, und dass die schönen Momente, die ihr ihr bereitet habt, den größten Sinn hatten. Viel Kraft, talldadstale