“Früher dachte ich tatsächlich wir wären eine inklusive Gesellschaft. Ich hatte ein völlig falsches Bild und dachte immer, es gäbe ganz viel Unterstützung für diese Kinder und ihre Familien. Als ich dann zu einer Betroffenen wurde, merkte ich schnell, wie alleine du da stehst. Leider muss ich sagen, dass Kinder mit Behinderung und auch pflegende Eltern noch stärker von der Exklusion betroffen sind, als Erwachsene, einfach, weil die Politik uns gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Wir sind einfach zu wenige. Ich hatte früher auch ganz falsche Vorstellungen und dachte, das Pflegegeld stünde der Person zu, als eine Art Gehalt, die pflegt. Ich fühle mich sehr allein gelassen von der Gesellschaft und der Politik. Das fängt schon bei fehlender Aufklärung an. Kein Mensch spricht über uns. Wo sind die Bücher, Kolumnen, Podcasts und Talkshows für uns und unsere Kinder? Solange unsere Kinder nicht stattfinden im öffentlichen Raum, kann sich doch gar nichts verändern. Es braucht Inklusionsbeauftragte, die ehrliche und authentische Öffentlichkeitsarbeit machen. Stattdessen versuchen Betroffene selbst dieses Defizit auszugleichen mit privaten Social Media Kanälen. Warum stellt man uns nicht an und gibt uns eine Stimme für diese wichtigen Themen?”
Name: Simone / Instagram: @simonerouchi
Alter: 37 Jahre
Mutter von: Adam
Beruf: PR- und Social Media Managerin / Texterin
Wie war dein Leben, bevor deine Kinder kamen?
Arbeitsreich und kreativ im Sinne von: ich habe viel für meine Erwerbsarbeit geleistet, die ich sehr mochte. Weil ich dort wundervolle, facettenreiche Menschen kennenlernen durfte und kreativ arbeitete. Ich habe bekannte und unbekannte Autoren auf ihrem Weg der Buchveröffentlichung begleitet, Interviews geführt und auch Kommunikation für mittelständische Unternehmen gemacht. Außerdem bin ich viel gereist und war oft in Marokko, weil ich seit 13 Jahren eine binationale Ehe führe. Interkultureller Alltag kann witzig, intellektuell anregend und anstrengend sein. Vor allem, wenn man sich nicht in seiner Muttersprache verständigt. Die Partnersprache meines Mannes und mir ist Französisch und mittlerweile auch Deutsch. Geheiratet haben wir vor 13 Jahren in Dänemark. Wir sind damals durchgebrannt und haben noch während meiner Studienzeit in Dänemark mitten im nirgendwo geheiratet. Nur wir zwei. Mitten im Winter. Romantisch war das. Und verrückt und ein großes Glück.
Wie sieht dein Alltag heute aus?
Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich aus meinem Leben herauskatapultiert worden, ohne Vorwarnung. Mein Alltag ist völlig anders als vor der Geburt meines Sohnes. Die größte Veränderung war für mich, dass sich mein Leben seither vorwiegend in den eigenen vier Wänden abspielt. Ich war früher sehr viel unterwegs, bin gereist, habe Freunde getroffen und bin viel ins Theater gegangen. Jetzt fühle ich mich oft von den Dingen die ich liebe, isoliert. Es fühlte sich nicht selten an wie ein sechsjähriger Lockdown.
Unsere Wohnung ist meine Arbeitsstätte, meine Kulturstätte und eine Pflegezentrale geworden. Meine Erwerbsarbeit kann mich nicht mehr ernähren, meine Pflegearbeit wird nicht vergütet. Wir haben früh angefangen uns ein Unterstützungsnetzwerk aufzubauen, aber es ist herausfordernd die passende Hilfe zu finden und diese dann auch zu bekommen. Selbst die grundlegenden Dinge wie Kindergarten, Schule, Hort, Babysitter oder Ferienbetreuung – alles nicht selbstverständlich für Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen. Und alles mit enormen bürokratischen Aufwand verbunden. Andere gehen zur Schuleinschreibung, wir müssen ein Jahr im Voraus Diagnostik und Beratung einplanen, um die richtige Schule zu finden und müssen dann noch hoffen, dass diese unser Kind auch beschulen möchte. Nichts ist selbstverständlich. Ein Alltag voller Diskriminierung für unsere Kinder, aber auch für pflegende Eltern, insbesondere für pflegende Mütter.
Die ersten vier Lebensjahre meines Sohnes spielten sich für uns vorwiegend in Krankenhäusern ab. Neonatologie, Intensivstation, Sozialpädiatrisches Zentrum, zahlreiche Therapien. Ich litt aufgrund der Pflege fünf Jahre unter massivem Schlafenzug. Vor 1,5 Jahren haben wir nun endlich Unterstützung durch einen nächtlichen Kinderintensivpflegedienst bekommen, ich arbeite wieder in Teilzeit und versuche, so viel Normalität wie möglich in unseren Alltag zu bringen. Eine Mammutaufgabe. Allein durch die vielen Krankzeiten meines Sohnes.
Wann und wie hast du von der Behinderung / chronischen Erkrankung deines Kindes erfahren?
Unser Weg zur Diagnose war sehr steinig und sehr stressig. Er begann bereits in der Schwangerschaft durch ungewollte pränatale Diagnostik. Meine Gynäkologin informierte mich ungefragt, dass die Nackenfalte bei meinem Baby auffällig wäre. So ging ich zum Organscreenig, das dann ebenfalls auffällig war. Ich hatte leider einer Fachärztin, die nicht sehr empathisch war und ich war in großer Sorge, um mein ungeborenes Kind. Ich galt als Risikoschwangere und so entschieden wir uns für weitere Diagnostik. Nach einer Fruchtwasseruntersuchung hieß es: kein genetischer Befund. Wir atmeten auf. Keiner klärte uns auf, dass das keine Garantie für ein gesundes Kind ist! Mein Sohn wurde dann aufgrund einer Plazentainsuffizienz in der 29. Schwangerschaftswoche per Notkaiserschnitt geboren. Ab diesem Tag änderte sich unser ganzes Leben, denn nachdem wir 10 Wochen später von der Neonatologie nach Hause entlassen wurden, ging es meinem Baby immer schlechter. Er schrie Tag und Nacht, schlief kaum, erbrach sich schwallartig. Wir durchliefen eine Odyssee – stationäre Aufenthalte in verschiedenen Kinderkrankenhäusern. Mit sechs Monaten erhielten wir dann die genetische Diagnose: Mikrodeletion 10q22.3q.23.3. Dieser Gendefekt ist die Grunderkrankung meines Sohnes. Alle weiteren Diagnosen erhielten wir aber erst im Laufe der Jahre.
Inwiefern ist dein Kind behindert?
Mein Kind hat sogenannte unsichtbare Behinderungen. Vorwiegend handelt es sich um körperliche Beeinträchtigungen. Mir ist wichtig hier darauf hinzuweisen, dass es sehr viele verschiedene Arten von Behinderungen gibt. Er hat einen Schwerbehindertenausweis und Pflegegrad 4. Außerdem ist mein Kind etwa 1,5 Jahre entwicklungsverzögert und hat eine massive kindliche Essstörung sowie eine sensorische Integrationsstörung. Er trägt eine Blutzuckersensor am Arm und eine Magensonde, eine sogenannte PEG-Sonde. Es gibt zwei Diagnosen, die ihn körperlich am meisten beeinträchtigen: Hirndruck, der mit einem VP-Shunt behandelt wird und Hypoglykämien, als Unterzuckerungen. Das ist aber nur ein Teil seiner Diagnosen. Aber er ist körperlich sehr eingeschränkt, weil er nicht so belastbar ist, wie gesunde Kinder, Medikamente bekommen muss usw. Er braucht deshalb immer eine Einzelbetreuung. Bis zu seinem dritten Lebensjahr war er außerdem nonverbal. Nach einer lebensrettenden Kopfoperation hat er aber dann das Sprechen gelernt. Wir hoffen also, dass er trotzdem irgendwann ein selbstbestimmtes Leben führen kann, wissen es aber nicht.
„Eine Mutter/ein Vater liebt am stärksten ihr schwächstes Kind“, so lautet ein schwedisches Sprichwort. Stimmt das?
Das kann ich nicht beantworten. Ich habe nur das Eine und das liebe ich genauso wie es eben ist. Ich habe aber auch gesehen, dass Eltern gerade mit der Schwäche schwer umgehen können. Ich würde also sagen: es ist ein Prozess, ein Hineinwachsen in die Situation.
Welches ist dein glücklichster Moment am Tag mit deinen Kindern? Welches der anstrengendste?
Es ist natürlich besonders schön, wenn mein Sohn mich umarmt und sagt: ich hab dich lieb. Weil ich lange dachte, er würde diese Worte nie sagen können. Oder, wenn er sich zutraut mal neues Essen auszuprobieren, dann bin ich sehr euphorisch. Besonders anstrengend ist für mich, wenn es ihm körperlich schlecht geht, und ich nicht weiß was los ist. Ist es nur ein Infekt, oder eben etwas Schlimmeres. Dieses Gedankenkarussell, die Sorgen, die Angst etwas zu übersehen, diese Verantwortung. Das ist anstrengend und schwer. Und Schlafentzug. Das ist für mich persönlich sehr anstrengend.
Wie ist bei euch die Kinderbetreuung organisiert?
Mein Sohn ist sechs Jahre alt. Er geht mit einer Individualbegleiterin in einen inklusiven Kindergarten. Aktuell sind wir auf der Suche nach der richtigen Schule für ihn. Die Sprengelgrundschule sagt, sie kann ihn nicht beschulen. Deshalb müssen wir nun sehen, welches Förderzentrum in unserer Stadt in Frage kommt. Aktuell wird unser Sohn bis 15 Uhr im Kindergarten betreut. Dann hole ich ihn ab und betreue ihn den restlichen Tag zuhause.
Wie sieht dein Arbeitstag aus? Unter welchen Bedingungen kannst/könntest du Job und Familie miteinander vereinbaren?
Ich brauche als pflegende Mutter maximale Flexibilität im Beruf, wenn man mir diese zugesteht, bin ich genauso leistungsfähig wie jede*r andere Arbeitnehmer*in. Ich wünsche mir, dass mittelständische und große Unternehmen uns ohne Vorurteile eine Chance geben und nicht die Pflegebedürftigkeit meines Kindes in den Fokus rücken, sondern meine berufliche Kompetenz. Wir benötigen Wiedereingliederungsprogramme – staatlich gefördert. Ich arbeite aktuell 60 Stunden pro Monat für eine gemeinnützige Organisation als Referentin für digitale Medien. Das schaffe ich gut, mehr ist wegen der Pflege meines Sohnes nicht möglich. Auch, weil viele Ärzte und Krankenhäuser ständig Termine in den Vormittag legen und meine Berufstätigkeit nicht berücksichtigen. Außerdem ist mein Kind oft krank und die Krankheitstage reichen bei weitem nicht, um meine Ausfallzeiten zu decken. Wäre dies anders geregelt, könnte ich durchaus mehr arbeiten.
Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben?
Ich habe außerhalb der Wohnung sehr wenig Zeit für mich. Wenn ich Zeit habe, dann hole ich meist Schlaf nach, weil ich so angestrengt und erschöpft bin. Zuhause versuche ich mir durchaus Pausen und me-time einzugestehen, was mal besser und mal weniger gut funktioniert. Das hängt immer vom Zustand meines Kindes und von der Betreuungssituation ab. Oft ist mein Sohn zuhause, weil im Kindergarten Draußentag ist, oder Personalmangel. Dann fallen die Vormittage, an denen ich mal Zeit für mich gehabt hätte weg und das ist eine große Belastung. Ich sehe, dass meine Gesundheit darunter leidet. Sehe aber auch keine Lösung.
Fühlst du dich als Familie – speziell mit behindertem Kind – ausreichend von Politik und Gesellschaft unterstützt?
Ich glaube das war der größte Schock, als mir klar war, dass mein Kind chronisch krank ist und ein Leben lang eine Behinderung haben wird. Früher dachte ich tatsächlich wir wären eine inklusive Gesellschaft. Ich hatte ein völlig falsches Bild und dachte immer, es gäbe ganz viel Unterstützung für diese Kinder und ihre Familien. Als ich dann zu einer Betroffenen wurde, merkte ich schnell, wie alleine du da stehst. Leider muss ich sagen, dass Kinder mit Behinderung und auch pflegende Eltern noch stärker von der Exklusion betroffen sind, als Erwachsene, einfach, weil die Politik uns gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Wir sind einfach zu wenige. Ich hatte früher auch ganz falsche Vorstellungen und dachte, das Pflegegeld stünde der Person zu, als eine Art Gehalt, die pflegt. Ich fühle mich sehr allein gelassen von der Gesellschaft und der Politik. Das fängt schon bei fehlender Aufklärung an. Kein Mensch spricht über uns. Wo sind die Bücher, Kolumnen, Podcasts und Talkshows für uns und unsere Kinder? Solange unsere Kinder nicht stattfinden im öffentlichen Raum, kann sich doch gar nichts verändern. Es braucht Inklusionsbeauftragte, die ehrliche und authentische Öffentlichkeitsarbeit machen. Stattdessen versuchen Betroffene selbst dieses Defizit auszugleichen mit privaten Social Media Kanälen. Warum stellt man uns nicht an und gibt uns eine Stimme für diese wichtigen Themen?
Inklusion – was bedeutet das Wort für dich?
Teilhabe, ohne Kompromisse der Betroffenen. Alle können im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen guten Platz innerhalb dieser Gesellschaft finden. In allen Bereichen – privat, beruflich, sozial. Inklusion sollte im Kindergarten anfangen und nicht bei der Einschulung enden. Förderzentren müssen als das gesehen werden, was sie sind: Bildungseinrichtungen, die auf den Arbeitsmarkt vorbereiten und nicht auf die Behindertenwerkstätte.
Wann fühlst du dich besonders stark? Und wann besonders schwach?
Krankenhäuser und Schlafmangel sind mein besonderer Endgegner, in beiden Fällen fühle ich mich schwach, hilflos. Und natürlich, wenn es meinem Sohn gesundheitlich schlecht geht. Besonders inspiriert fühle ich mich, wenn ich mich mit anderen austauschen kann, Zeit habe zu Schreiben und zu lesen. Und natürlich bei meiner Arbeit. Das macht mich stark. Dann bin ich nicht nur Mutter sondern auch noch ich, Simone.
Wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest: Würdest Du etwas anders machen, als Mutter und/oder als Mensch?
Ich wünschte mir, ich hätte nach der Geburt mehr Selbstvertrauen gehabt und mehr um Hilfe und Unterstützung gekämpft. Leider habe ich 4 Jahre komplett alleine gepflegt, weil uns niemand beraten oder Unterstützung angeboten hat. Das würde ich wirklich gerne ändern, wenn ich könnte. Ich habe immer an mir gezweifelt, nicht am System.
Ein Gegenstand Deines Kindes/ Deiner Kinder, den du ewig aufbewahren wirst?
Den ersten Body – Frühchengröße 42 – und die Geburtskarte mit seinem ersten Fußabdruck und Bild.
Welchen Satz kannst du einfach nicht mehr hören?
„Mach‘ dir keine Sorgen.“ Ich mache mir Sorgen, wenn mein Kind im Krankenhaus liegt, operiert wurde oder die nächste Operation ansteht. Und „ach, der kann ja laufen, warum ist er denn behindert?“. Den mag ich am allerwenigsten. Ehrlich.
Welche Träume hast du?
Ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben für mein Kind. Für mich eine berufliche Zukunft. Eine, die in mein Leben passt und mich glücklich macht. Am Liebsten schreibend. Und ein Haus am Meer, wenn es geht, bitte.
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Vielen Dank für Ihre Offenheit!
Mir fällt vor allem auf, dass “gesellschaftliche Missstände”, ich verallgemeinere hier mal ganz grob, letztlich “durchgereicht” werden an Sie, die pflegenden Eltern.
Wenn ich ein Kind als Lehrerin in meiner Förderschule nicht ausreichend versorgen kann aufgrund einer akuten Erkrankung oder aus anderen Gründen ( Krankenschwester/pfleger krank, Einzelfallhelfer*in krank), dann kann ich es nur nach Hause schicken … Aber spätestens dort gibt es meistens gar kein soziales Netz mehr und die Eltern “bleiben auf der Strecke”. Nun könnte es ja wenigstens an einer Förderschule eine Auffangmöglichkeit geben, von inklusiver Beschulung spreche ich da schon gar nicht erst … Aber es gibt sie nicht! Das “System” blendet diese Situation aus.
Eltern von anderen Kindern kennen diese Problematik natürlich auch, aber sie können einfacher auf ein Netzwerk zurückgreifen, weil ihre Kinder ohne “Zusatzpaket” versorgt werden können. Aber die Eltern mit schwer zu betreuenden Kindern, die ja häufig noch infektanfälliger sind, als andere Kinder, bleiben definitiv außen vor. Dabei sind es gar nicht so viele Kinder, die das bräuchten. Und daher wäre es nicht schwer, dies zu finanzieren … allem Unkenrufen zu trotz! Man müsste nur wirklich wollen!!!!