Ein Gastbeitrag von Nicole zu der Serie pflegende Elternschaft und Urlaub.
Wir haben zehnjährige Zwillinge: ein Mädchen und einen Jungen (ihn nenne ich Hibbelmors – das ist Plattdeutsch für ‚unruhiges Kind‘ – das ist der Hibbelmors in Reinform). Unser Sohn ist behindert, unsere Tochter nicht. Im zweiten Lebensjahr haben wir bereits unseren ersten Urlaub gewagt – damals eine Woche bei Freunden in Mecklenburg-Vorpommern. Nachdem wir dort aus Ermangelung an Alternativen einmal die Nasensonde mit Gaffa fixiert haben, mit einem schlimmen Infekt fertig geworden sind, und den Auto-Kindersitz als Therapiestuhl-Ersatz verwendet haben, trauen wir uns bislang jeden Sommer einen außerhäuslichen Urlaub zu machen.
Ich bin froh, dass das geht. Dass wir uns das leisten können. Dass wir Urlaube relativ einfach organisieren könne, weil der Hibbelmors stabil und mobil genug ist. Dass im Laufe der Zeit immer weniger Hilfsmittel den Kofferraum einnehmen. Mittlerweile sind es nur noch Windeln. Den Sekret-Absauger haben wir dieses Mal zum ersten Mal zu Hause gelassen. Trotz alledem finde ich wenig Erholung in unseren Urlauben.
In diesem Jahr sind wir auf einer Ostsee-Insel. Wir wählen einen Bauernhof mit mehreren Wohnungen. Wir wollen, dass unsere Tochter Anschluss findet (Spoiler: Das hat geklappt!). Schon vorher macht mir diese erwartete Kinder-Fülle aber zu schaffen, denn ich weiß, dass die wenigsten Kinder (und auch die wenigsten Eltern) Kontakt zu behinderten Menschen kennen. Ich sorge mich also darum, wie die anderen Gäste auf den Hibbelmors reagieren, der nonverbal und etwas distanzlos ist sowie oft kleinkindhaft agiert.
Ebenfalls Sorgen macht mir die Unfallgefahr, der der Hibbelmors ausgesetzt ist. Ein neues Terrain bedeutet, dass unser Sohn sich oft verletzt, bevor er sich zurechtfindet. Ihm fehlt es an Koordination, an Handlungsplanung und an räumlichem Sehen.
Die dritte Sorge gilt der Lautstärke in der Wohnung. Der Hibbelmors ist extrem lärmempfindlich und kann dann schlecht, schlechter, am schlechtesten (je nach Geräuschpegel) einschlafen.
Sorge 1: Reaktion der anderen
Es sind etwa acht Familien auf dem Bauernhof. Unter den Erwachsenen nehmen nur die Bäuerin und der Bauer aktiv Kontakt mit dem Hibbelmors auf. Unter den Gästen sind die Reaktionen so: Die Mütter lächeln mich an, wenn sie meinen Sohn sehen. Die Väter schauen hilflos weg. Die Kinder sind scheu, gehen weg, wenn der Hibbelmors kommt, manche drehen sich sogar schnell weg, wenn er sie berühren will. Später akzeptieren sie ihn und lassen ihn neben sich spielen. Ins Spiel einbezogen wird er nicht. In der zweiten Woche kommen andere Familien. Ein Elternpaar spricht mit dem Hibbelmors und erkundigt sich bei uns, wie er kommuniziert und wie sie ihm begegnen können. Die Kinder des offenen Elternpaares stellen ebenfalls Fragen zum Hibbelmors und akzeptieren seine Nähe recht schnell. Mitspielen kann er auch immer mal wieder kurz. In der zweiten Woche traue ich mich, ihn mal eine viertel Stunde allein in der Spielscheune zu lassen. Das ist schon ein Erfolg. Im Vergleich: Unsere Tochter ist oft mehrere Stunden einfach weg zum Spielen.
Sorge 2: Unfallgefahr
Etwa eine Stunde, nachdem wir angekommen sind, fällt der Hibbelmors von einer Nestschaukel. Was soll ich sagen: Nestschaukeln beherrscht er eigentlich aus dem Effeff. Also entspanne ich mich gerade, als er dort schaukelt, und wende mich einer anderen Mutter zu. Zwei Sätze wechsle ich mit ihr, da ist der Sturz geschehen. Was genau passiert ist, weiß ich nicht. Nur sehe ich mein Kind am Boden liegen, das Gesicht dreckig, die Lippe aufgeplatzt, geschockt. Das Ergebnis ist eine fürchterlich dicke Lippe, ein zerschundenes Gesicht und langes, langes Weinen. Zum Glück keine Gehirnerschütterung und auch kein Bruch. Er fällt noch drei weitere Male, aber nicht so schlimm. Viele Mal verhindere ich einen Unfall, weil ich in seiner Nähe bin und rechtzeitig zugreife.
Sorge 3: Lautstärke und schlechter Schlaf
Das Etagenbett im Kinderzimmer knatscht, wenn unsere Tochter sich oben umdreht. Die Familie über uns hört man durch die Wohnung laufen; die Spülmaschine oben wird fast jeden Abend angeschaltet – das Geräusch überträgt sich als dumpfes Brummen. Vor dem Fenster hört man von Tauben über Hähne bis hin zu Pferden so allerlei Getier und Gemensch. So liegt der Hibbelmors im Bett und hebt ständig den Finger ans Ohr. Er bittet damit um eine Erklärung der Geräusche, die ihn irritieren. Auch zu Hause braucht der Hibbelmors die Hand eines Erwachsenen, um den Übergang in den Schlaf zu schaffen. Im Schnitt dauert das eine halbe Stunde. Im Urlaub ist es jeden Abend mindestens doppelt so lang, damit er den Tag mit seinen vielen Geräuschen loslassen kann. Und in der ersten Woche wacht er mindestens einmal nachts auf und braucht wieder Geleit, um in den Schlaf zurückzufinden.
Fazit: Entweder Meer oder Sicherheit
Es macht Spaß, mit dem Hibbelmors und seiner Schwester am Meer zu sein. Beide lieben das Wasser, und mit den Neopren-Anzügen, die wir von unseren Surfer-Freunden vererbt bekommen, ist die Ostsee ein tolles Planschbecken. Aber das sichere Umfeld bleibt zu Hause. Also müssen wir im Urlaub immer für eine noch engere Begleitung des Hibbelmors‘ sorgen. Außerdem flüstern wir, wenn er eingeschlafen ist, und haben später schlechte Nächte, weil wir auf jeden Pieps hören.
Trotzdem tut es gut, aufs Meer zu schauen und das Salz zu schmecken. Den Spaß in den Augen beider Kinder zu sehen. Zu beobachten, wie eingehend der Hibbelmors das Kauen der Ziegen und Schweine studiert. Die viertel Stunde zu genießen, die wir als Eltern in der zweiten Woche jeden Tag zusammen frei haben. Wir haben uns für nächstes Jahr schon eine (leisere) Wohnung auf dem Hof gesichert. Diese Wiederkehr bedeutet für uns ein bissen mehr Sicherheit im Urlaub. Vielleicht werden wir dann ja eine halbe Stunde täglich als Paar für uns haben…
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