Erlernte Gleichzeitigkeit

by Gastbeitrag Kaiserinnenreich

Ein Gastbeitrag von Lea. #wenneinkindstirbt

Ich kann nur wenig davon berichten, wie es ist als pflegende Mutter, denn bewusst pflegend war ich nur kurz. Nämlich die sieben Monate zwischen Diagnose und Tod. Rückblickend weiß ich natürlich, dass ich viel länger pflegend war. Eigentlich war ich vier Jahre lang pflegend, aber halt nicht so bewusst, deswegen mag ich dazu nicht viel sagen.

Ich wurde also pflegende Mutter an meinem 27. Geburtstag, als mein Mann mit unserem Erstgeborenen in die Klinik ging und die Diagnose Diffuses intrinsisches Ponsgliom (kurz DIPG) bekam.

Am allerersten Tag in der Klinik sagte man uns, dass unser Sohn definitiv sterben wird und man nichts machen kann, um das zu verhindern. Neun bis zwölf Monate gab man uns. Die haben wir nicht erreicht und im Nachhinein bin ich dankbar dafür, dass unser Sohn sterben durfte, ohne die Zeit voll zu machen. Wenn man ein Ultimatum bekommt, zählt man nicht die Tage, die man noch hat. Man blickt auf den Tag, den man erlebt und freut sich über ihn.

Wenn man eine konkrete Diagnose hat, kann man ja auch wunderbar googeln, was sie bedeutet. Ich las also nach, was passieren würde. Ich gehe hier nicht konkret darauf ein. Ich wusste jedenfalls, dass ich das nicht für mein Kind wollte. Er sollte nicht erleben, was so viele vor ihm erlebten, weil diese Krankheit grausam ist und Eltern doch irgendwie hoffen, sie besiegen zu können.

Als erstes begrub ich also diese Hoffnung. Ich wusste sofort, dass wir nicht die Ersten sein würden, deren Kind auf wundersame Weise überlebte. Wir würden nicht die Ersten sein, deren Kind überhaupt nicht unter diesem Tumor leiden würde. Es war für mich, für uns besser, die Hoffnung im Keim zu ersticken, als an ihr zu ersticken. Es tat auch so weh genug. 

Wir haben natürlich trotzdem für und mit unserem Sohn gekämpft, Aber vor allem dafür, dass er es leicht und schön hat und nicht dafür, dass er möglichst lange lebt. Uns waren keine Schmerzen und das Sammeln schöne Erinnerungen wichtiger, als so zu tun als hätten wir eine Chance, die es erwiesenermaßen bei diesem Tumor nicht gibt.

Fotoquelle: Lea Blenke

Und wir hatten eine wirklich schöne Zeit. Anstrengend und aufreibend, wie jede pflegende Familie sie wohl kennt. Aber auch warm und liebevoll und voller Herzlichkeit.

Und dann merkten wir, dass unser Sohn seine Kindlichkeit verlor. Alles, was ihn einmal ausmachte, starb langsam. Sein Bewegungsdrang als erstes. Dann sein Kampfgeist. Er wurde so zahm, dass es weh tat. Zum Glück behielt er seinen Witz und Humor. Aber irgendwann starb seine Lebenslust.

Einen Tag saß er mit meinem Mann im Garten und sie beobachteten seinen kleinen Bruder beim Spielen. Mein Mann fragte dann, ob er nicht mitspielen wolle? Und unser Sohn antwortete: “Nein, das kann ich nicht mehr. Mir macht nur noch Essen Freude.” Das Essen machte ihm mehr oder weniger Freude, sein Hunger durch das ganze Cortison unstillbar. Das war jedenfalls der Moment, in dem wir wussten, dass es nur noch grausam wäre, ihn am Leben zu halten.

Wir mussten loslassen. Nach einem klärenden Gespräch mit dem Palliativteam war klar, dass wir keine erneute Bestrahlung oder Chemo wollten, dass wir nur für den Anderen fest hielten, weil wir dachten der jeweils andere sei noch nicht bereit für den Tod unseres Sohnes. Und es war, als hätte unser Sohn das gespürt. Dass wir nun bereit waren. Er starb keine fünf Tage später. Einfach so. 

Selbst das Palliativteam war erstaunt darüber. Im August 2019, drei Monate und zwei Tage vor seinem fünften Geburtstag, verstarb er in unserem Haus, in unserem Bett und viel wichtiger: in unseren Armen. Denn wir hielten ihn, als er seine letzten Atemzüge nahm und dann ruhig blieb.

Da wir die Beisetzung schon ein oder zwei Monate vorher geplant und abgesprochen hatten, mussten wir nicht viel Bürokratisches tun. Die Palliativkrankenschwester, die uns begleitete, erledigte alle wichtigen Anrufe und unser Sohn wurde frisch gewaschen in einem Körbchen aus unserem Haus getragen.

Vor seinem Tod hatte mein Mann ihn gefragt, wo er seine Zeit lieber verbrachte, am Meer oder im Wald. Da unser Sohn am Meer antwortete, wurde es eine Seebestattung. Die Urne wurde sozusagen in seinem Heimathafen zu Wasser gelassen. In Kiel geboren, wurde er auch in Kiel beigesetzt. Eine schönere Beisetzung kann ich mir kaum vorstellen.

Fotoquelle: Lea Blenke

Und dann kam das Danach. Das Komische ist, wenn man ein Kind so intensiv gepflegt hat, dann kommt man sich ohne die Pflege total nutzlos und verloren vor. Wenn die Beisetzung vorbei ist, ist da plötzlich nur noch Leere, die man nicht füllen kann.

Anfangs funktionierte ich noch einfach weiter, ich versuchte dringend etwas zu finden um meine Zeit zu… verbrauchen. Irgendwas zu tun. Gleichzeitig war da eine Art Euphorie, wenn die Last auf den Tod zu warten und sein Kind sterben zu sehen von einem abfällt.

Ich begab mich auf eine Reise zu mir selbst, las und forschte viel. Bloß nicht fühlen, nur tun. Lernen war für mich immer ein Heilmittel gegen das Fühlen. Ich ließ mich selber nicht verarbeiten, was geschehen war und meine Psyche, die nie sonderlich gut war, verfiel immer mehr.

Wenn ein Kind stirbt sucht man die Schuld daran. Meistens bei sich selbst. In unserem Fall ziemlich absurd (in den meisten Fällen absurd). Aber man denkt über alles nach, was man falsch gemacht hat, dass das eigene Kind krank geworden und gestorben ist. Ich war mir sicher, dass mein Kind krank geworden war, weil ich so eine schlechte und überforderte Mutter gewesen war. Und dann auch noch mit Depressionen, das musste den Tumor doch ausgelöst haben, oder? 

An das Jahr 2020 erinnere ich mich kaum, weil mich die dunkle Spirale so fest im Griff hatte, dass ich kaum noch was davon weiß. Mein 2020 bestand, wie das Jahr davor, aus Beruhigungsmitteln und schwarzen Gedanken. Verlustschmerz und Selbsthass und Angst. Angst, unseren Sohn zu vergessen. Angst, unseren zweiten Sohn ebenfalls an eine Krankheit zu verlieren. Angst isoliert und allein mit allen Gefühlen zu sein. Meine Therapie, die ich begonnen hatte, fiel aus, genauso wie die verwaiste Elterngruppe vom Hospizverein. Allerdings wurden wir sehr dolle unterstützt. Unsere Familie und Freund*innen wichen nie von unserer Seite, ganz entgegen dem, was viele Familien berichten. Uns hat die Krankheit und der Tod unseres Sohnes vor allem gezeigt, dass wir gute Menschen in unserem Leben haben.

Trotzdem wollte ich mich einweisen lassen, was während Corona wahrscheinlich gar nicht funktioniert hätte, aber dann kam die erlösende Nachricht: wir durften zur Reha fahren. Im Januar 2021, anderthalb Jahre nach Antragstellung, durften wir zu einer Reha speziell für verwaiste Familien, die Einzige in Deutschland. Das war das Beste, was uns passieren konnte. Wir hatten auch ziemliches Glück, denn unsere Gruppe bestand hauptsächlich aus Familien, deren Kinder medizinische Vorgeschichten hatten. Man verstand den Zwiespalt aus Trauer und Erleichterung. Man verstand den Zwiespalt aus Liebe und Erschöpfung von pflegenden Eltern.

Als wir von dieser Reha heimfuhren, wusste ich, dass wir eine Familie bleiben würden. Dass der Tod unseres Sohnes uns nicht trennen würde und dass wir weiterleben würden zu viert, auch wenn unser Sohn nur noch ein Gefühl sein würde. Mir war aber auch klar, dass diese vier Wochen Reha nur ein Anstoß waren, ein Anfang.

Ich ging also fast direkt danach in eine psychosomatische Tagesklinik. Diese ging nochmal fünf Wochen. Ich wusste, dass ich das für mich tun musste. Und auch für meinen zweiten Sohn. Er sollte nach dem Verlust seines großen Bruders nicht noch seine Mutter verlieren. Ich wollte keine Hülle, nur gefüllt mit schwarzen Gedanken mehr sein. Ich wollte leben! Ich wollte eine gute Mutter sein und meinen Sohn auffangen. Ich wollte etwas gelernt haben.

Auch die Klinik konnte nur Anstöße geben. Natürlich. Sie heilen einen dort nicht. Man muss sich selber heilen. Obwohl heilen hier auch falsch ist. Man wird von einem Verlust niemals geheilt.

Jedenfalls ging mein Mann 2021 wieder arbeiten. Ich beschäftigte mich mit dem Alltag, mit unserem Sohn und mit der Verbesserung meiner Psyche. Es schlich sich so etwas wie eine instabile Normalität ein. Alles war schwerer und schmerzhafter als früher, aber dann auch irgendwie bekannt und vielleicht sogar normal?

Dank Corona musste ich mich nicht allzu viel mit anderen Menschen beschäftigen. Man traf sich ja nicht, niemand konnte mir sagen, dass ich doch langsam Mal drüber weg sein müsste oder Ähnliches. Dank Corona konnten wir in unserer Blase, in unserem geschützten Raum regenerieren. Das tat gut. Und machte uns mutig.

Wir wurden schwanger. Entgegen aller Verlustängste und schweren Gefühle, entschieden wir uns tatsächlich für das Leben, für neues Leben. Die Schwangerschaft an sich war psychisch nochmal schwierig für mich. Durch die Hormone kamen doch immer wieder extreme Ängste hoch. Ängste, die ich vorher so nicht kannte. 

Was, wenn das Kind im Bauch verstirbt?

Was, wenn das Kind bei der Geburt verstirbt? 

Was, wenn das Kind lebensverkürzend krank ist? 

Schaffen wir das nochmal? 

Ertragen wir das nochmal?

Selbst unser Sohn, der mittlerweile vier war, stellte Fragen wie: ” Mama, wenn das Baby stirbt, könnt ihr dann ein neues machen?” Auch er hatte Ängste. Verlustängste dem Baby gegenüber, mir gegenüber. Es war manchmal schwer diese Fragen auszuhalten. Sie möglichst neutral zu beantworten. Ihn nicht mit meinen Gefühlen noch mehr zu verunsichern.

Wir haben die Schwangerschaft überstanden und ein kleines Mädchen ist bei uns eingezogen. Anfangs war das schwer für mich, weil sie unserem toten Sohn, in meinen Augen, so unfassbar ähnlich sah. Aber sie war so anders und eben ein Mädchen. Es dauerte einige Zeit, bis ich die beiden in meinem Kopf und meinem Herzen trennen konnte. Mittlerweile ist das kein Thema mehr. Sie ist sie. Unser Sohn ist unser Sohn.

Es ist okay, dass es immer Mal wieder schwierig wird. Das Leben nach dem Tod des eigenen Kindes ist nicht einfach und geradlinig. Es ist holprig und anstrengend. Und häufig fürchte ich mich davor, was die Zukunft bringt. Aber immer häufiger bin ich dankbar. Dankbar für das, was ist und dankbar für das, was war.

Und ich weiß, dass das alles gleichzeitig sein darf: ich darf gleichzeitig trauernd und dankbar sein, ich darf gleichzeitig fröhlich und verletzt sein, ich darf gleichzeitig guter Dinge und voller Zukunftsangst sein, ich darf gleichzeitig ganz und gebrochen sein.

Gastbeitrag Kaiserinnenreich
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