Wenn ich morgens aufstehe, dann höre ich Stimmen aus dem Kinderzimmer. Es ist die Stimme meines sechsjährigen Sohnes und die der Nachtschwester. Niemals hätte ich gedacht, dass ich einmal nachts fremde Menschen in meiner Wohnung haben werde. Ich gehe ins Badezimmer und mache mich bereit für den Tag. Ich höre mein Kind im Kinderzimmer lachen, inhalieren und ein Hörbuch hören. Manchmal höre ich ihn auch mit der Pflegefachkraft streiten, oder ich höre Würgegeräusche, wenn er sich wieder einmal übergeben musste. Manchmal stehe ich im Badezimmer und denke, ich lebe das Leben einer anderen Frau. Ich habe das so nicht kommen sehen.
Ich stehe dort im Badezimmer und denke mir: wie gut, dass ich mich in Ruhe fertig machen kann und gleichzeitig denke ich mir: wie ist das nur passiert, dass sich nun fremde Menschen nachts durch meine Wohnung bewegen und sich um mein krankes Kind kümmern? Manchmal tappe ich morgens ins Badezimmer und sehe schon die Bettlaken und Decken am Boden liegen – dann springt sofort ein Gedankenkarussel an: was ist passiert? Müssen wir ins Krankenhaus, kann er in den Kindergarten, muss ich die Arbeit verschieben? Dann habe ich keine Geduld mehr mich in Ruhe fertig für den Tag zu machen, sondern gehe – so wie ich gerade bin – im Schlafanzug und mit zerzausten Haaren – zu meinem Sohn. Ich will bei ihm sein. Will wissen wie es ihm geht. Ihn in meine Arme schließen.
Wenn der Pflegedienst nachts da ist, habe ich an guten Tagen morgens Zeit Kaffee aufzusetzen. Es ist ein Privileg. Ich trinke Kaffee mit Milchschaum. Die Wohnung duftet nach Espresso und Familie. Ich mag dieses Gefühl von zuhause. So habe ich mir das gewünscht. Geborgenheit. Ich mache der Pflegefachkraft auch einen Kaffee, oder einen Tee. Schließlich hat sie die ganze Nacht auf mein Kind aufgepasst. Sie ist zu Gast in unserem zuhause. Sie soll sich willkommen fühlen. Sie hat die ganze Nacht lang die Herzfrequenz am Monitor überwacht und den Blutzuckersensor im Blick behalten. Sie hat das Bett neu bezogen, wenn mein Kind sich übergeben musste und ihm Nahrung und Wasser sondiert. Aber nicht nur das. Sie hat ihn getröstet, als ich schlief. Sie hat ihn beruhigt und Monster verjagt und seine Hand gehalten. Sie hat ihm gesagt, dass ich da bin. Im Zimmer nebenan.
Ich habe beruhigt geschlafen und konnte Kraft tanken für einen Tag voller Pflegearbeit, Carearbeit und Erwerbsarbeit. Ich starte in den Tag. In den Kindergartenrucksack packe ich Sondenmaterial und Glucose, den Blutzuckersensor und Joghurt – das Einzige, was mein Sohn isst. Brotdosen habe ich auch gekauft und sie in sechs Jahren nie genutzt. Ach ja und Spucktüten, die müssen natürlich auch in den Rucksack. Die Nachtschwester geht und wir haben noch etwas Zeit für uns. Anziehen, Zähne putzen, spielen. Unser „Besuch“ ist gegangen. Dann klingelt die Individualbegleiterin an der Wohnungstür und holt meinen Sohn ab. Er freut sich schon auf sie und seine Freunde im Kindergarten. Alles ganz normal und doch so anders. Meistens spreche ich mit der Individualbegleitung über Fakten, dann wünschen wir uns einen schönen Tag und mein Kind geht in den Kindergarten. Es ist plötzlich so still in der Wohnung. Eine Stille, mit der ich manchmal kaum umgehen kann. Ich habe vergessen, wie das ist für mich zu sein. Ich kenne vor allem eines: Funktionieren. Ich hoffe, der Tag wird gut für mein Kind. Ich hoffe, dass der Kindergarten mich nicht anruft und sagt, dass es ihm doch schlecht geht. Es ist nicht leicht loszulassen, aber ich werde besser darin. Jeden Tag. Ich hoffe jeden Tag auf normale Tage. Normale Tage sind gute Tage. Auch, wenn wir jeden Tag Besuch vom Intensivpflegedienst in unserem Zuhause haben.
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Danke für diesen Einblick. Ich habe das 22-Monate-Blog mitgelesen. Vorher hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon, wie es sein kann, wenn so viele unterschiedliche professionelle Helfende das eigene Zuhause bevölkern.
Vielen Dank für deinen Kommentar und fürs hier mitlesen. Schön, dass du da bist!