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“Ich finde die Frage nach sichtbaren Fortschritten in Bezug auf Inklusion ist immer sehr schwer zu beantworten, denn: Woran messen wir das? Wenn wir es daran messen, wie viele behinderte Menschen uns im Alltag begegnen können, dann sieht der jetzige Stand miserabel aus und so ist leider auch mein genereller Eindruck. Während wir immer noch um so fundamentale Rechte kämpfen müssen, behinderte Menschen immer noch aufgrund von Ableismus sterben und von Armut und Gewalt bedroht sind, fällt es mir also schwer, bereits von einem Fortschritt zu sprechen. Wenn wir uns allerdings mal nur auf die Popularität des Begriffs Ableismus beziehen, merke ich schon einen Unterschied.” – Luisa L´Audace
Es gibt viele wichtige Stimmen in der deutschen Behindertenbewegung. Die von Luisa L`Audace ist eine von ihnen. Luisa ist eine behinderte und queere Aktivistin sowie Beraterin für Inklusion und Antidiskriminierung. Durch ihre Aufklärungsarbeit, die größtenteils auf Social Media stattfindet, hat sie maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der Begriff »Ableismus« auch in der deutschen Sprache immer mehr etablierte.
Heute am 03.12, der internationale Tag der Menschen mit Behinderung, erscheint Luisas großartiges und wichtiges Buch »Behindert und stolz. Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht«. Mit ihrem Buch möchte Luisa L´Audace die diskriminierenden und unterdrückenden Strukturen durchdringen und sie Leser*innen verständlich machen. Ein Buch für alle, die in unserem ableistischen System nicht mitgedacht werden und für diejenigen, die mutig genug sind, ihre eigenen Denkmuster zu hinterfragen und dadurch eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen.
Wir vom Kaiserinnenreich sind sehr froh heute, am internationalen Tag der Menschen mit Behinderung, einigen Fragen aus ihrem Interview mit dem Verlag Eden Books sowie einen Auszug aus ihrem Buch hier mit euch teilen zu dürfen.
Eden Books: Welche Aufklärungsmaßnahmen hättest du dir rückblickend in deiner Kindheit, besonders von den Erwachsenen in deinem Leben gewünscht?
LUISA L‘AUDACE: Ich sage immer, dass meine Mutter diejenige war, die schon die Worte „behindert“ und „Behinderung“ in den Mund genommen hat, lange bevor ich verstanden habe, wie wichtig es ist, diese Worte wertfrei zu verwenden. Hätte sich der Rest meines Umfelds ähnlich verhalten wie sie, wären mir viele gewaltvolle Erfahrungen erspart geblieben. Als ich meine ersten Erfahrungen mit Mobbing gemacht habe, benannten es die Wenigsten als jenes und ich bekam von manchen Lehrer*innen sogar vermittelt, dass es meine Schuld sei, dass mir all diese schrecklichen Dinge angetan wurden – klassisches Victimblaming also. Für zukünftige Generationen von behinderten Menschen würde ich mir einfach wünschen, dass ein allgemeines Bewusstsein zum Thema Ableismus existiert und dass sie nicht für die Barrieren und die Diskriminierung verantwortlich gemacht werden, auf die sie stoßen. Das große Ziel dahinter sollte aber natürlich immer sein, dass behinderte Menschen gar nicht mehr diskriminiert werden und überall bedingungslos teilhaben können. Es muss zu einer Selbstverständlichkeit werden, sich über verschiedene Diskriminierungsformen zu informieren und darüber, wie man sie bekämpfen kann. Kinder sollten mit diesen Werten irgendwann ganz selbstverständlich aufwachsen, sodass sie gar nicht mehr mit all den diskriminierenden Stereotypen sozialisiert werden, wie es bei aktuellen Generationen momentan noch der Fall ist. Ich würde es toll finden, wenn Diskriminierungsformen auch in der Schule aufgegriffen werden würden, indem beispielsweise marginalisierte Expert*innen eingeladen werden, um mit den Schüler*innen über strukturelle Diskriminierung und ihre Folgen zu sprechen oder indem Bücher von Betroffenen Teil der Unterrichtslektüre werden. Gerade in der Schule machen viele marginalisierte Menschen ihre ersten bewussten Erfahrungen mit Diskriminierung und Gewalt.
Eden Books: Welche gesellschaftlichen Fortschritte kannst du erkennen und wo muss es noch hingehen?
LUISA L‘AUDACE: Ich finde die Frage nach sichtbaren Fortschritten in Bezug auf Inklusion ist immer sehr schwer zubeantworten, denn: Woran messen wir das? Wenn wir es daran messen, wie viele behinderte Menschen uns im Alltag begegnen können, dann sieht der jetzige Stand miserabel aus und so ist leider auch mein genereller Eindruck. Während wir immer noch um so fundamentale Rechte kämpfen müssen, behinderte Menschen immer noch aufgrund von Ableismus sterben und von Armut und Gewalt bedroht sind, fällt es mir also schwer, bereits von einem Fortschritt zu sprechen. Wenn wir uns allerdings mal nur auf die Popularität des Begriffs Ableismus beziehen, merke ich schon einen Unterschied. Als ich vor fast vier Jahren angefangen habe, mich aktivistisch auf Instagram zu engagieren, fand
man unter #Ableismus keinen einzigen hilfreichen Post zum Thema. Mittlerweile sieht das ja zum Glück schon anders aus und zumindest in meinem Umfeld wird der Begriff immer mehr verwendet. Würden wir aber eine Straßenumfrage durchführen, in der wir 100 Passant*innen fragen, ob sie wissen, was Ableismus ist, würde ich zum jetzigen Zeitpunkt darauf wetten, dass es höchst unwahrscheinlich ist, auch nur eine einzige Person zu finden, die den Begriff kennt und auch noch richtig erklären kann. Es ist also auch hier noch kein allzu großer Durchbruch zu erkennen, jedoch kann jede Person, die Ableismus benennt und ihr Umfeld dafür sensibilisiert, dazu beitragen. Was Inklusionbetrifft, sind wir in meinen Augen noch mit angezogener Handbremse unterwegs, da der Staat deutlich zu wenig Bemühungen anstellt, Barrierefreiheit flächendeckend umzusetzen und somit unsere Teilhabe zu sichern. Dabei ist Teilhabe ein Menschenrecht – ein Menschenrecht, um das wir tagtäglich kämpfen müssen. Wir brauchen also dringend Gesetze, die uns helfen, unser Recht auf Teilhabe und Selbstbestimmung durchzusetzen.
AUSZUG AUS DEM BUCH
“Dieses Buch ist für all diejenigen, die anerkennen, dass diese Welt nicht gerecht ist. Für all diejenigen, die die Strukturen und Systeme besser verstehen wollen, die unseren Alltag bestimmen. Für alle diejenigen, die den Mut haben zuzugeben, dass sie längst nicht alle Lebensrealitäten mitdenken – und die dies ändern wollen. Inklusion geht uns schließlich alle etwas an.
Dieses Buch ist aber vor allem den Menschen gewidmet, die sonst nicht mitgedacht werden. Es ist für all diejenigen, die vom System diskriminiert und unterdrückt werden. Ihr tollen Menschen da draußen, die ihr täglich in einer Welt klarkommen müsst, die nicht für euch gemacht ist. Ihr da, die jeden Tag mit Mikroaggressionen* und Vorurteilen konfrontiert werdet. Ihr da, die nicht ins System passt.
Dieses Buch soll einen Teil des Loches füllen, das sicherlich viele behinderte Menschen im Herzen tragen. Vielleicht findest du dich in der ein oder anderen meiner Erfahrungen wieder, und vielleicht trägt es auch dazu bei, dass du verstehst, warum dir gewisse Dinge passieren. Genauso wie ich erst verstehen musste, dass ich nicht die Einzige bin, die solche Erfahrungen macht – dass ich nicht allein bin. Dass ich nicht schuld bin.
Ich schreibe dieses Buch in der Hoffnung, dazu beitragen zu können, dass sich nie wieder eine behinderte Person so allein und missverstanden fühlen muss, wie ich mich lang gefühlt habe. Dies ist der Versuch, ein Buch zu schreiben,
das ich selbst gut hätte gebrauchen können. Um früher von all den Dingen zu erfahren, um die es hier gehen wird. Aber auch, um es anderen Menschen an die Hand zu geben, von denen ich mir damals gewünscht hätte – und noch immer wünsche –, dass sie mich besser verstehen. Denn auch wenn behinderte Menschen eine der größten
marginalisierten Gruppen weltweit darstellen, leugnet unsere Gesellschaft nach wie vor unsere Existenz, gibt sich alle Mühe, uns kleinzuhalten und unsichtbar zu machen.
In ein Buch allein passen nicht Hunderte Jahre der Unterdrückung. Ich werde hier längst nicht alle Strukturen beleuchten können, durch die behinderte Menschen in unserer Gesellschaft diskriminiert werden – denn das sind einfach zu viele. Auch repräsentiere ich allein nicht die gesamte marginalisierte Gruppe behinderter Menschen. Wir brauchen viele verschiedene Stimmen und Perspektiven, und ich hoffe, dass mein Buch dazu beitragen kann, dass die Gesellschaft das endlich versteht. Ich könnte noch so viel mehr zu diesem Thema sagen. Mein Anspruch ist es jedoch, mit diesem Buch überhaupt erst mal ein Grundverständnis für Ableismus zu schaffen und dafür, wie vielschichtig er ist. Ich möchte dich dazu motivieren, die Strukturen, von denen du in diesem Buch erfährst, auch in deinem eigenen Alltag zu erkennen und auf andere Situationen zu übertragen, wachsam zu sein, dich selbst weiterzubilden und zu echerchieren.
Während du dieses Buch liest, wirst du, gerade wenn du selbst nicht-behindert* bist, höchstwahrscheinlich früher oder später ein unangenehmes Gefühl tief in deinem Bauch verspüren. Ein Gefühl von Scham, gefolgt von einer Art
Abwehrhaltung. Dieses Gefühl kenne auch ich sehr gut. Es tritt immer dann auf, wenn wir hören, dass wir uns diskriminierend verhalten oder zumindest diskriminierende Denkmuster reproduzieren. Wir möchten daraufhin sofort alles von uns weisen und rufen: »Halt, nein! Ich bin doch eine*r von den Guten!« Dabei geht es hier gar nicht um die Unterscheidung zwischen »gut« und »böse«. Auch wenn die Annahme, dass nur »böse« Menschen diskriminieren und dass Diskriminierung immer etwas mit Intention zu tun hat, weitverbreitet ist. Doch hier kommt die bittere Wahrheit: Wir alle haben uns schon mal diskriminierend verhalten, und schätzungsweise werden wir auch nicht heute schlagartig damit aufhören. Schließlich reicht es nicht, sich einfach verbal von jeglichen -ismen zu distanzieren und zu sagen, man sei gegen Diskriminierung. Das wäre nicht mehr als ein performativer Akt und würde die wahre Problematik nur weiter unsichtbar machen.
Zu dem Zeitpunkt, an dem ich dieses Buch schreibe, gibt es kein vergleichbares Werk in deutscher Sprache. Dementsprechend ist der Druck hoch, gerade weil es kaum Studien gibt, und die wenigen, die existieren, leider selten für Nichtakademiker*innen wie mich zugänglich sind. Gerade deshalb stelle ich den Anspruch an dieses Buch, Ableismus* für alle begreifbarer zu machen. Schließlich betrifft er überdurchschnittlich oft insbesondere die Menschen negativ, die keine faire Chance auf Bildung hatten. »Wie bitte? Sie hat nicht mal Abitur und spielt sich als Expertin auf?«, höre ich schon die ersten Kritiker*innen schimpfen. Als behinderte, queere Frau ohne Abitur, ohne abgeschlossene Ausbildung oder Studium bin ich es gewohnt, dass mir meine Kompetenz und meine Expertise abgesprochen werden. Jedoch gibt es Dinge, die kann man nicht studieren. Die muss man erlebt haben.”
Luisa L´Audace. »Behindert und Holz. Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht« . Eden Books. 383 Seiten. 18.95 € (DE) / 19.50 € (AT) ISBN: 978-3-95910-383-1
Pingback: Buchtipp: “Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus“, herausgegeben von Alina Buschmann, Luisa L´Audace. – Kaiserinnenreich.de