Im roten Bereich

by Anna

Herzlich Willkommen Jasmin! Wir freuen uns über einen weiteren Gastbeitrag und einen kleinen Einblick in unsere Community.

Ich heiße Jasmin und bin Mama von vier Kindern zwischen 3 und 10 Jahren, selbstständige Illustratorin und wohne bei Erlangen.

Unser Leben ist ganz anders als ich es vor meiner Elternschaft erwartet hätte. Aber ich liebe die Menschen, mit denen ich es teile. Was uns momentan sehr viel Kraft kostet, ist die Erschöpfung von vielen Jahren, die uns in den Knochen steckt – und der bürokratische und organisatorische Aufwand, den unser Alltag mit sich bringt.

Ich wünsche mir, mich gesellschaftlich nicht mehr in einem toten Winkel zu befinden. Wir möchten kein Mitleid, keine entsetzten Blicke und keine Berührungsängste, sondern Menschen, die sehen, wie wunderbar unser Kind ist – und was es braucht, um Familien wie unseren das Radfahren zu ermöglichen.

Auf dem Bild sieht man eine weibliche Person mit Schwarzem Kind an der Hand. Die erwachsene Person ist von oben nach unten blasser gezeichnet, auf dem Bauch ist ein roter Blitz, sie hält eine Mehrfachsteckdose als Rolle in der Hand.

Der Akku unseres Lastenrads ist voll, als ich zuhause losfahre.

Es hat minus 2 Grad und leichter Schnee fällt auf meine Jacke, um dort von Körperwärme zu schmelzen.

Ich bin vertraut mit der Witterung: Denn wir besitzen kein Auto und fahren bei Wind und Wetter mit dem Rad. Es geht, wenn die Ausrüstung stimmt. Es geht, wenn ich gut vorausplane. Es geht, wenn der Akku voll ist. Und wenn er hält.

Doch das tut er heute nicht. Denn die eingeladene Last von vier Kindern ist zu schwer, das Wetter zu kalt für den Akku, mein Bedarf an Unterstützung zu hoch. Die Anzeige des Akkus fällt minütlich. Eine Reichweite von 40 km. Von 27. Von 14. Von 7. Null. Die Anzeige blinkt ein letztes Mal und schaltet sich ab.

Aber der Weg ist noch weit und geht bergauf, die Last ist schwer, der Wind peitscht mir ins Gesicht.

Mit 3 km/h graben wir uns Meter für Meter Richtung Zuhause.

Ich bräuchte einen zweiten Akku, denke ich. Anderes Wetter. Oder Menschen, die mich anschieben. Die auch mal ein Stück fahren. Eigentlich müsste ich selbst manchmal vorn in der Kiste des Lastenrads sitzen.

Diese Geschichte ist wirklich passiert, als es diesen Winter so kalt war. Unterwegs mit unserem Lastenrad.

Und diese Geschichte passiert jeden Tag. Mit mir.

Seit 10 Jahren sind wir pflegende Eltern, seit 8 Jahren haben wir kein Auto mehr: ganz in echt. Aber vor allem auch symbolisch. Und wir kommen ganz gut klar mit dem Lastenrad, eigentlich.

Wenn das Wetter stimmt; wenn der Akku hält. Wenn es Menschen gibt, die auch mal ein Stück Weg mit uns in die Pedale treten. Die uns anschieben. Und wenn wir unterwegs Steckdosen finden, die uns genug Strom geben, um auch die Berge zu schaffen.

Aber es gibt sie kaum, die Steckdosen. Unser System ist nicht ausgelegt für Menschen, die kein Auto haben. Und so finden wir Notlösungen. Schieben uns gegenseitig an, wo es geht. Im Schneckentempo. Und sind dennoch erschöpft, ohne bereits das Ende des Berges zu sehen.

Mein Akku leert sich inzwischen so schnell wie der unseres Lastenrads bei minus 2 Grad und leichtem Schneefall. Egal, wie lange ich auflade – es ist nie genug. Meine Akkukapazität ist geschrumpft. Und die Steckdosen sind so rar. Die vollen fünf Balken erreiche ich ohnehin nicht mehr. Und meine Winterjacke habe ich verloren und keine Zeit, mir eine neue zu kaufen.

Ich möchte mein Lastenrad nicht gegen ein Auto eintauschen. Es ist gut, wie es ist. Und meine Kinder sind die allergroßartigsten Menschen auf dieser Welt. Aber wir brauchen Witterungsbedingungen, die unseren Akku nicht sofort leer saugen. Wir brauchen Möglichkeiten, aufzuladen. Wir brauchen sichere Fahrspuren, auf denen wir nicht von Autos überfahren werden. Wir brauchen Menschen, die mit uns in die Pedale treten. Wir brauchen ein gesellschaftliches und politisches Bewusstsein dafür, dass die Akkureichweite pflegender Eltern endlich ist.

Bis dahin fahren wir weiter mit dem Lastenrad. Und hoffen, dass der Frühling bald kommt. 

Jasmin findet ihr auf Instagram als Farbflausen.

Ein Kommentar zu “Im roten Bereich

  1. Jasmin, Respekt an Dich. Ich spüre förmlich, wie schon der alltägliche Kraftakku fast leer ist und ich möchte Dich einfach nur halten und stützen.
    Die Gesellschaft ist nicht ausgelegt auf Autolos, 4 Kinder, geschweige denn beinträchtigte Kinder mit dem alltäglichen Wahnsinn.
    Meine beeinträchtigte Tochter ist jetzt 41 Jahre alt und auch gestern hatten wir eine Odyssee zwischen Wohnheim, Klinik, Ärzten, Bürokratie, Wartezeiten etc.pp.
    LG Marion

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