Schulische Inklusion: wenn bloß die Praxis nicht wäre

by Simone

Herzlich Willkommen Nicole Wrede! Wir freuen uns über einen weiteren Gastbeitrag und einen kleinen Einblick in unsere Community. Im heutigen Beitrag geht es um inklusive Beschulung in Bremen


Unser Sohn – in der virtuellen Öffentlichkeit nenne ich ihn Hibbelmors* – kann bereits auf 9 Jahre inklusiver Bildungsbiografie zurückblicken. Er war in einer inklusiven Krippe und in einem inklusiven Kindergarten. Jetzt ist er in der vierten Klasse einer inklusiven Regel-Grundschule.

Bei uns in Bremen haben mit der Änderung des Schulgesetzes 2009 alle Schulen den Auftrag erhalten, sich zu inklusiven Einrichtungen zu entwickeln. In diesem Zuge wurde beschlossen, bis auf 3 spezielle Förderzentren alle „Sonderschulen“ zu schließen. Die 3 verbleibenden Zentren sind für die Förderbedarfe

  1. Sehen,
  2. Hören und
  3. körperlich-motorische Entwicklung.

Kinder, die nicht in einem dieser Bereiche einen besonders ausgeprägten Förderbedarf haben, werden an Regelschulen beschult.

Der Hibbelmors vor seiner Schule (Copyright: Nicole Wrede)

Der Hibbelmors hat verschiedene Symptome, die einen umfassenden Förderbedarf mit sich bringen. Aber er kann trotz starker Brille und Nystagmus okay sehen (1. Förderzentrum ausgeklammert). Er hört wirklich gut (2. Förderzentrum passt nicht) und er kann sich weitgehend autonom bewegen (3. Förderzentrum fragwürdig). Er ist geistig beeinträchtigt und kommuniziert nur mit einigen Gebärden sowie wenig über einen speziellen Computer (Talker). Zudem gibt es das ein oder andere Pflegethema. Laut Bremer Schulentwicklungsplanung ist er damit an einer Regelschule richtig. In Frage kommen die Schulen, die einen Schwerpunkt Wahrnehmung und Entwicklung (W/E) haben. Das sind eben die Schulen, die offen für geistig beeinträchtigte Kinder sind.

Erwartungen runter – Level 1

Der Hibbelmors bei seiner Einschulung in die Grundschule

In der Rückschau sind wir glücklich mit der Grundschulzeit vom Hibbelmors. Auf der einen Seite haben wir total viel bekommen: ein hoch engagiertes Team aus Klassenlehrerin und Assistenzen etwa. Eine feste, verlässliche, erfahrene, zugewandte und schlaue Klassenassistenz über die ganzen 4 Jahre hinweg. Mitschüler*innen, die sich um den Hibbelmors kümmern und ihn mögen. Und dann noch nach Schulschluss eine Hort-Betreuung bis 16 Uhr.

Auf der anderen Seite gab es über zweieinhalb Jahre keine feste sonderpädagogische Fachkraft in der Klasse. Ich habe mit einzelnen anderen Eltern darum gerungen – mit der Schulleitung und mit der Behörde – erfolglos, teilweise wurde ich für die nicht gerade hochtrabende Forderung herabwürdigend behandelt.

Wir Eltern hätten uns moderne und individuelle didaktische Ideen gewünscht. Eine Lehrerin, die erkennt, was möglich ist, und das Potenzial gezielt zu fördern weiß. Die gab es nicht. Der Hibbelmors kann seinen Namen fast richtig in den Talker tippen, Wörter erkennen und memorieren, kann mit seinen 10 Fingern rechnen, hat in einem Test zum Hörverständnis 7 von 8 englischen Vokabeln richtig wiedererkannt. Ich glaube, es wäre etwas mehr möglich gewesen, wenn die Sonderpädagogik nicht großteilig durch wechselnde studentische Hilfskräfte abgedeckt gewesen wäre.


Erwartungen runter – Level 2

Der Spruch auf dem Hibbelmors-Shirt soll bitte für die weiterführende Schule gelten

Im Sommer geht es für den Hibbelmors an eine weiterführende Schule. Bis Ende Januar müssen wir die 3 von uns präferierten Schulen an die Bremer Bildungsbehörde melden. In dieser Behörden-Blackbox erfolgt dann das Auswahlverfahren. Auch an den Schulen weiß niemand genau, nach welchen Kriterien die Verteilung stattfindet. Wirkt alles etwas unseriös.

Mein Liebster und ich haben 4 Schulen angeschaut, mit 2 weiteren telefoniert. An 2 von den 6 Schulen hatten wir ein gutes Gefühl. Das Gefühl, der Hibbelmors wäre willkommen und es gibt Leute, die Lust haben, Inklusion mit Leben zu füllen. Das reicht mir tatsächlich erst einmal, nachdem ich an anderen Schulen durchaus Abwehr erlebt habe.

Es hieß: Für solche Einschränkungen sind wir nicht erfahren genug, haben wir nicht die richtige Ausstattung, passt unser Konzept nicht. By the way: Ich  habe natürlich nur mit Schulen gesprochen, die laut Behörde Standorte mit Schwerpunkt Wahrnehmung und Entwicklung sind. Dort hätte ich solche Reaktionen nicht erwartet. Sie sind ein Schlag ins Gesicht unseres Sohnes. Das ist irgendwie exklusive Inklusion.

Wir geben nun die beiden sich gut anfühlenden Schulen bei der Behörde an. Plus die Förderschule für körperlich-motorische Entwicklung (die einen heimlichen Zusatz-Schwerpunkt Kommunikation haben). Fun Fact: Eine der Schulen ist ein Gymnasium, das sich total offen gezeigt hat.

Mit den Gymnasial-Schüler*innen, die in 8 Jahren zum Abitur geführt werden sollen, wird es wohl nur wenig inklusiven Unterricht geben. Aber der lichte, bunt gestrichene Differenzierungsraum mit Küche kann ein Safe Space für unseren Sohn werden. Das wäre doch auch schon mal was. Ach, und dass die Schule keine Ganztagsschule ist, habe ich auch schon geschluckt. Wird Vereinbarkeit eben noch etwas schwieriger. Meine Erwartungen an Inklusion sind definitiv gezähmt worden …


Nachtrag

Als ich mit einer Mutter eines erwachsenen Mädchens mit Down-Syndrom über die Inklusion in Bremen sprach, sagte sie, damals (vor 25 Jahren) gab es im Stadtgebiet eine einzige Grundschule und eine einzige Oberschule, die inklusiv gearbeitet haben. Ihre Tochter wurde um 6.45 Uhr mit dem Fahrdienst abgeholt, um zum Unterrichtsstart dort zu sein. Unsere Wunschschule ist 15 Fahrrad-Minuten entfernt. Etwas getan hat sich in Bremen also auf jeden Fall. Dass Schule neu gedacht wird, ist aber noch ein weiter Weg!

*Hibbelmors ist ein Bremischer Ausdruck für ein unruhiges Kind


Ihr findet Nicole auch auf Instagram unter dem Account: hibbelmors_inklusive

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