Simone Braunsdorf-Kremer hat uns erzählt, wie die Einschulung auch laufen kann für ein Kind mit Behinderung – nämlich mit ganz viel Engagement der zuständigen Stellen
Immer wieder lese ich Beiträge von pflegenden Eltern zur inklusiven Beschulung – und den Schwierigkeiten, die sie auf diesem Weg haben. Auf dem Weg zur Erfüllung einer Pflicht: der Schulpflicht! Denn die gibt es in Deutschland auch für Kinder mit Behinderung. Jeder dieser Berichte macht mich fassungslos…
Zum einen weil ich einfach nicht glauben kann, nicht glauben MÖCHTE, welche Steine Eltern von Kindern mit Behinderung in den Weg gelegt werden. Ich rede hier gar nicht von den unzähligen Stunden, die man mit dem Ausfüllen von Anträgen und Formularen…dem Kopieren von Gutachten und Arztbriefen…und den Telefonaten, um Bescheinigungen bei Ärzten anzufordern, verbringt. Ich rede auch nicht von den zig Terminen die man im Vorfeld wahrnehmen muss, damit das Kind einen IQ-Test macht oder man in einer Schule hospitiert. Denn daran haben wir pflegende Eltern uns bereits gewöhnt! Ich rede davon, das Eltern keinen Platz an einer Förderschule finden und ein Kind mit Förderbedarf an einer Regelschule beschult werden soll. Oder davon, dass Eltern gerichtlich einen Transport des Kindes zur Schule einklagen müssen. Oder auch davon, dass Kinder zwei Jahre lang gar nicht zur Schule gehen können, weil es keine Teilhabeassistenz gibt, die begleitet.
Zum anderen macht es mich fassungslos, weil es bei uns mit der Einschulung so reibungslos lief. Bei jedem Bericht, den ich lese, frage ich mich: „Bei uns war alles so einfach. Wieso ist das woanders denn nicht möglich?“
Im Jahr 2020 bekamen wir ein Schreiben: aufgrund von Jonathans Alter (Geburtsjahr 2015) steht im Sommer 2021 die Einschulung an. Das Gesundheitsamt würde sich bald wegen der Schuleignungsuntersuchung mit uns in Verbindung setzen.
Jonathan kam als Extremfrühchen mit nur 490g zur Welt und ist wegen eines Gendefektes global entwicklungsverzögert – und zwar so stark, das uns immer bewusst war: er wird nie eine Regelschule besuchen. Wir wussten auch, dass wir ihn wegen der extremen Frühgeburtlichkeit ein Jahr vom Schulbesuch zurückstellen lassen können. Was wir unbedingt in Anspruch nehmen wollten, denn der Gendefekt bringt eine verkürzte Lebenserwartung mit sich. Jonathan soll sein Leben so lange genießen und „Kind sein“ wie es möglich ist. Also rief ich die zuständige Regelgrundschule an. Die Schulleiterin kannte uns und Jonathan, denn unser großes Kind war auch auf ihrer Schule. Ich erklärte ihr, dass wir eine Rückstellung für Jonathan wollten. Es bedurfte gar nicht vieler Worte. „Natürlich, ich kümmere mich darum!“. DAMIT WAR ALLES GEREGELT. Ich habe weder Anträge für die Rückstellung ausfüllen, noch weitere Telefonate führen müssen.
Ein Jahr später nahm ich wieder Kontakt mit der Schulleiterin auf und fragte, wie der weitere Ablauf auf dem Weg zur Einschulung aussähe. Eine Einladung zur Schuleignungsuntersuchung hatten wir nämlich noch nicht erhalten – was der Pandemiesituation geschuldet war, wie sich am Telefon herausstellte. Darüber war ich nicht unfroh: hat Jonathan doch ein extrem schlechtes Immunsystem und könnte bereits an einem kleinen Infekt sterben, von „C“ wollen wir gar nicht reden. Diese Erleichterung brachte ich der Schulleiterin gegenüber zum Ausdruck. Sie fragte mich daraufhin, ob wir überhaupt mit dem Gedanken spielen würden, Jonathan mit einer Teilhabeassistenz auf ihrer Regelgrundschule einzuschulen – was ich verneinte. Für uns stand fest: Jonathan gehört auf die Förderschule unseres Städtchens.
Daraufhin wurde die Schuleignungsuntersuchung gecancelt, stattdessen bekam ich direkt einen Termin bei der Schulleiterin. Per E-Mail schickte sie mir Anträge zum Ausfüllen und eine Liste von Unterlagen, die ich zum Termin mitbringen sollte: zB Jonis Impfausweis und Gutachten/Arztbriefe aus denen die Art und Schwere seiner Behinderung hervorgeht.
Im Termin wurden dann alle Unterlagen gesichtet, besprochen und diverse Unterschriften geleistet. Und das war es!!!
Die Schulleiterin hat alle Unterlagen an die zuständige Förderschule weitergeleitet. Diese Schule hat sich dann unaufgefordert mit uns in Verbindung gesetzt und uns zu einem Termin eingeladen.
Bei diesem Termin haben zum einen wir Eltern Informationen über die Schule, das Lehrkonzept, die Abläufe im Schulalltag und die bürokratischen Dinge, die wir nun zu erledigen haben (wie zB Beantragung eines Schultransports), bekommen. Zum anderen wurde Jonathan „begutachtet“: was kann er motorisch/sprachlich, wie spielt er, wie ist seine Interaktion mit „fremden“ Menschen – geht er einfach mit ihnen mit, ohne UNS?
Im Nachgang zu diesem Termin habe ich noch ein langes Telefonat mit der verantwortlichen Dame der Schule geführt und sie über Therapien und Entwicklungsstände von Jonathan informiert. Ich habe meine Erwartungen und Wünsche geäußert, die ich an den Schulbesuch knüpfe – aber auch deutlich formuliert, was wir weiterhin ausschließlich im privaten Rahmen leisten möchten. Per Mail habe ich Therapieberichte unserer Therapeuten und Arztbriefe eingereicht, sowie den Antrag auf Genehmigung einer Teilhabeassistenz. Den Transport zur Schule und nach Hause wollen wir selbst übernehmen.
Mit der Einladung zur Einschulungsfeier kam die Genehmigung der Teilhabeassistenz. Es gab keine Diskussionen….keinen Kampf…keine Anwälte, die eingeschaltet werden mussten. Alles war für uns ganz leicht.
Natürlich haben wir viele Unterlagen ausgefüllt und kopiert. 12 Zeitstunden insgesamt hat uns das gekostet. ABER wie bereits geschrieben: das sind wir pflegenden Eltern schon gewöhnt – das ist unsere Lebensrealität und eigentlich nicht erwähnenswert! Wir waren aufgrund der Erzählungen anderer Eltern auf einen langen, zermürbenden, vielleicht kostenintensiven Kampf mit Behörden und Schule eingestellt. Nichts davon wurde Realität.
Heute, während ich diesen Text schreibe, befindet Jonathan sich aufgrund der Pandemiesituation und der grassierenden Influenza- und RSV-Welle im Homeschooling. Wir haben eine unfassbar engagierte Lehrerin, die uns regelmäßig Unterlagen und Materialien nach Hause bringt, welche genau auf Jonathans Förderung zugeschnitten sind. Per Mail ist sie im permanenten Austausch mit mir, gibt mir Tipps zum „Schulunterricht“ den ich zuhause leiste und freut sich mit mir über jeden noch so kleinen Fortschritt. Einmal in der Woche werden wir online in den Klassenraum geschaltet, so dass Jonathan seine Klassenkameraden sehen und mit ihnen interagieren kann.
Ich hatte so viel Angst vor dem Thema „Einschulung“ und „inklusive Beschulung“. Aber wir sind das lebende Beispiel dafür, das es auch einfach sein kann!!! Warum es nicht für alle Eltern von Kindern mit Behinderung so laufen kann…verstehe ich nicht. Und es macht mich traurig, denn offensichtlich funktioniert Inklusion in Deutschland bisher nur auf dem Papier.
Simone Braunsdorf-Kremer bloggt auch auf Instagram über das Leben mit Jonathan und hat zusammen mit Iris Mydlach einen Podcast rund um das Thema Inklusion – hört mal rein in ihre Inklusionsgespräche.
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Wir haben „unsre Einschulung“ vor vier Jahren ähnlich unkompliziert, wie ihr erlebt.
Was mich aber in den letzten Wochen kopfschüttelnd zurücklässt, ist dass eine Klassenkameradin unseres Kindes einige Wochen nicht zum Unterricht kommen konnte. Und das „nur“: weil ihre Eltern im dritten Stock ohne Fahrstuhl leben und sie nicht allein die Treppe hinab und hinauf kann. Da die Mutter aufgrund einer fortgeschrittenen Schwangerschaft nicht helfen konnte und der Vater einen Bandscheibenvorfall hatte – musste das Mädchen zu Hause bleiben, da es offenbar nicht möglich war, kurzfristig nur für den Treppengang Hilfe zu erhalten. Es sind so kleine, aber oft einschneidende Sachen, die unseren Kindern immer wieder buchstäblich vor die Füße fallen.
Warum lässt sich so etwas nicht schnell und unkompliziert lösen, zumal es nur ein paar Wochen waren?