Sandwichpflege – ein Gastartikel von Constanze

by Anna

Heute begrüßen wir Constanze Fortnagel (Instagram: @tim_tanzt_trotzdem) mit einem Thema, das für viele von uns vielleicht noch weit weg ist, aber schneller näher kommen kann, als wir glauben. Ich selber kenne Sandwichpflege aus meiner Familie, in der es einige Pflegegrade gab und gibt. Vielen Dank, Constanze, für eine weitere gefühvoll erzählte Geschichte aus der Community, der wir dringend zuhören sollten.

“Sandwichpflege”: Fürsorge zwischen dem eigenen, behinderten Kind und der chronisch kranken Mutter – eine emotionale Unvereinbarkeit

Am 15. November 2019 rief mich mein Vater an. Meiner Mutter ging es sehr schlecht und ich solle besser heim kommen. An diesem Tag wurde ich von einer pflegenden Mutter zur pflegenden Angehörigen in doppelter Ausführung. Aber ich beginne von vorn:

Mein Name ist Constanze, 37 Jahre alt, seit 9 Jahren verheiratet und Mutter eines 7-jährigen Sohnes. Mein Sohn Tim hat die Diagnose Autismusspektrumstörung. Schon früh merkte ich, da ist irgendetwas anders mit meinem Kind und trotzdem wollte ich es zuerst gar nicht so wahr haben. Vielleicht erkannte ich auch einfach von Berufs wegen nicht, was genau vor mir lag, denn als Sprachtherapeutin habe ich schon viele Jahre mit autistischen Kindern gearbeitet und kannte mich dementsprechend aus. Aber wie es oft so ist, ist die Betroffenheit beim eigenen Kind etwas völlig anderes. Ich habe getrauert, als die Verdachtsdiagnose zum ersten Mal ausgesprochen wurde. Ich habe getrauert und war gleichzeitig erleichtert, als die Diagnostik dann im Januar 2022 vollständig abgeschlossen war.

Unser Leben mit einem autistischen Kind gleicht einer Achterbahnfahrt. Da sind die größten Herausforderungen und Schwierigkeiten, die es Tag für Tag zu bewerkstelligen und auszuhalten gilt. Aber auch die kleinsten, schönsten Momente sind für uns so herzerhellend, die für nichtpflegende Eltern vielleicht selbstverständlich sind.

Nach einer gewissen Zeit habe ich Tims Diagnose akzeptiert. Es hatte viele Monate gebraucht, um die erste Trauerwelle zu überwinden, neue Weichen des Lebens zu stellen und einfach nach vorn zu schauen. Wir hatten einen neuen Rhythmus für uns als Familie gefunden. Es war okay für mich. Wir würden immer Herausforderungen zu meistern haben. Dass diese sich durch den Anruf im November 2019 aber verdoppeln würden, damit habe ich nicht gerechnet.

Im Nachhinein zeigte meine Mutter schon jahrelang schleichend Symptome ihrer komplexen Erkrankung. Sie selbst erklärte ihren chronischen Husten jedoch immer wieder mit Nichtigkeiten und ich habe ihr glauben wollen. Habe ich aber nicht wirklich und trotzdem konnte ich rein gar nichts tun, denn ich wohne über 650km weit weg und hatte schließlich genug zu tun mit meinem eigenen, behinderten, pflegebedürftigen Kind.

Im Sommer sahen wir meiner Mutter schon an, dass es ihr nicht gut ging. Und trotzdem passierte einfach nichts. Ich wohnte einfach auch viel zu weit entfernt, um die Verantwortung nicht komplett meiner restlichen Familie zu überlassen. Wäre ich in Heimatnähe geblieben, hätte ich wohl eher etwas gesagt.

Aber so, immer während der kurzen Besuche in den Ferien, musste ich meiner Familie, und vor allem meiner Mutter, vertrauen, dass sie das im Griff hat. Schließlich war da auch Tim, der rund um die Uhr meine volle Aufmerksamkeit brauchte.

Ich überlegte nach diesem Anruf nicht lange, sondern fing sofort an zu telefonieren. Es war ein Notfall. Meine Mutter könnte sterben. Wir organisierten in Windeseile, dass ich vorerst auf unbestimmte Zeit in meine Heimat fuhr und zu Hause die Betreuung von Tim gesichert war. Die Kita wusste Bescheid, mein Mann passte seine Arbeitszeiten für diese Tage an und dann war da immer noch unser autistisches Kind, das von alldem nichts verstand, was gerade alle in helle Aufregung versetzte, allen voran mich.

Ich war hin und her gerissen. Würde mein Kind mehrere Tage am Stück ohne mich auskommen? Das gab es bis dahin noch nicht. Tim war doch damals erst vier Jahre alt.

Aber es klappte wider Erwarten alles hervorragend. Ich konnte in der Heimat meiner wirklich sehr kranken Mutter bei einer großen Herzoperation beistehen, während zu Hause mein Mann alles alleine regelte. Jede/r von uns hatte seine Aufgabe, die gewissenhaft erfüllt werden konnte, ohne in Bedrängnis zu geraten.

Meine Mutter überstand die Operation und wir alles andere. Trotzdem war und blieb seitdem nichts mehr, wie es einmal gewesen ist. Meine Mutter blieb chronisch krank und unser Leben änderte sich seit diesen Tagen schlagartig.

Als es hieß, dass meine Mutter erst einmal außer Lebensgefahr war, fuhr ich wieder nach Hause. Mein Sohn brauchte mich. Immerhin war ich eine ganze Woche weg gewesen und das Telefonieren mit ihm klappte auch noch nicht so gut, wie es heute der Fall ist.

Die nächsten drei Jahre waren eine emotionale Abwärtsspirale für mich. Mein Sohn wurde größer und war mittlerweile im letzten Kindergartenjahr. Seine Pflege wurde kräftezehrender durch sein Wachstum in jeder Hinsicht. Und meiner Mutter ging es parallel zusehends schlechter. Mitte 2020 erlitt sie postoperativ eine schwere Lungenembolie. Wieder bangten wir, ob alles gut geht. Ihr Körper erholte sich den Umständen entsprechend, ihre Lunge jedoch nicht. Im Oktober 2020 musste ihr schließlich eine dauerhafte, künstliche Beatmung in Form eines Tracheostomas gelegt werden. Mit dieser neuen Art der Intensivpflege waren wir alle überfordert. Auf dem Dorf ist der Pflegenotstand natürlich auch gegenwärtig, so blieb aufgrund fehlender ambulanter Intensivpflegedienste nur die Verlegung in eine ambulante Pflegeeinrichtung übrig. Meine Mutter war ab da an nicht mehr die, die sie einmal gewesen ist. Das brach mir das Herz.

Im Alltag musste ich stark sein für mein Kind, das nichts von alldem verstand. Nachmittags in der Videotelefonie oder während der Ferienbesuche riss ich mich zusammen, um nicht vor meiner labilen Mutter zu weinen. Ich beweinte abends ihren Zustand, unsere Situation als Familie und unser Leben. Ein Leben, das zu dem Zeitpunkt so am Rande zu stehen schien. Alle zwangen sich, den Alltag so normal wie möglich zu gestalten. Am Ende waren wir alle aber nur noch erschöpft. Erschöpft vom Starksein.

Was ich am schwierigsten empfand in dieser ganzen Zeit: Meinem Sohn als Mutter und meiner Mutter als Tochter parallel gerecht zu werden. Ich konnte doch nicht gleichzeitig am Bett meiner todkranken Mutter sitzen und meinem vom Leben nur so strotzenden, autistischen Sohn draußen hinterherlaufen. Das übernahm zu einem sehr großen Teil mein Mann, der auf Tim aufpasste, während ich nachmittags bei meiner Mutter sitzend zwei Stunden Tochter sein konnte.

Anders wäre es auch nicht möglich gewesen. Meiner restlichen Familie wollte ich diese Verantwortung nicht komplett allein überlassen. Tim war mittlerweile einfach sehr groß und sehr schnell geworden, um als zu alte oder zu unerfahrene Person jede Situation mit ihm richtig einschätzen zu können oder ihr überhaupt gewachsen zu sein. Das war früher einfacher gewesen.

Nach den ganzen Lockdowns, als alle Coronabestimmungen wieder gelockert wurden, war Tim auch einige Male zusammen mit uns in Omas Zimmer. Komplett alle zusammen waren wir nur an Omas 70. Geburtstag im April 2022 bei ihr. Das Zimmer war für sechs Personen einfach zu klein und der Stressfaktor für meine Mutter und auch für Tim zu hoch. Es war aber auch teilweise sehr grotesk, ein lautes Kind zu haben, das nicht leise sein konnte, und eine ruhebedürftige Mutter, die kaum noch einen Ton aus sich brachte.

Nach einem Jahr voller Infekte (Ja, auch Covid-19 überstand sie, sogar relativ gut.), war es im November 2022 nicht mehr abzustreiten, dass es mit dem Leben meiner Mutter zu Ende ging. Noch zwei Wochen zuvor, war ich alleine über ein langes Wochenende bei ihr. Das hatte ich versucht, regelmäßig zu tun. Wissend, dass Zeit alles ist, was wir noch hatten. Immer gependelt zwischen der Versorgung von Tim und den Zugfahrten quer durch das Land, um ein paar Stunden mehr mit ihr haben zu können. Am 2. Dezember ist sie dann im Kreise von uns als Kernfamilie gestorben.

Die Unvereinbarkeit als pflegende Angehörige meines Sohnes und meiner Mutter endete damit vor gut zwei Monaten. Aber das Gefühl, dass ich drei Jahre lang spürte, ist geblieben. Die Beklemmung, die Verzweiflung, die Wut, die Trauer, die Hilflosigkeit – alles zusammen. Diese Zeit hat mich doch sehr verändert. Sie hat mich zwar weder stärker noch schwächer gemacht, aber ich bin wachsamer, kämpferischer und auch ängstlicher geworden.

Was die Zukunft bringt, weiß ich nicht. Ich hoffe, dass mein Vater noch lange gesund bleibt. Ich hoffe, dass wir jede Herausforderung mit Tim meistern werden. Ich hoffe auf ein bisschen Ruhe und Frieden. Ich gebe jeden Tag alles, weil ich es muss. Aber diesen Kampf der letzten drei Jahre möchte ich so nicht noch einmal austragen müssen.

2 Kommentare zu “Sandwichpflege – ein Gastartikel von Constanze

  1. Was für ein schwerer Weg – welche Kraft er gekostet hat. Das innerliche Zerrissensein – auf der einen Seite der so weit entfernten Mutter nahe sein zu wollen, und andererseits die Aufgabe der Versorgung und Pflege des Hilfe-und pflebedürftigen Sohnes. Danke für diese bewegende Darstellung dieser schweren Zeit. Alles alles Gute. Liebe Grüße, Brigitte

  2. Was für ein schwerer Weg – welche Kraft er gekostet hat. Das innerliche Zerrissensein – auf der einen Seite der so weit entfernten Mutter ahe sein zu wollen, und andererseits die Aufgabe der Versorgung und Pflege des Hilfe-und pflebedürftigen Sohnes. Danke für diese bewegende Darstellung dieser schweren Zeit. Alles alles Gute. Liebe Grüße, Brigitte

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