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„Es tut uns leid, aber Ihr Kind ist uns zu billig“, hörte Manuela die Absage vom Pflegedienst.
Sie lebt mit ihrer Familie in der Stadt, war damals mit ihrem zweiten Kind hochschwanger und sehr erleichtert, als sie nach mehreren Monaten endlich einen Pflegedienst gefunden hat, der – so dachte sie – auch Kinder betreut.
Ihr erstes Kind hat Spina bifida, wie auch meins. Laura wird mehrmals am Tag katheterisiert (d.h. die Einführung eines Einwegkatheters in die Harnröhre für die Entleerung der Blase), was während der Kindergartenzeit von einer Pflegekraft eines Pflegedienstes übernommen wird. Nein, nicht von dem Pflegedienst der ihr diese unverschämte Antwort lieferte – es ist mir klar, dass wenn ein Pflegedienst so eine Aussage gibt, dass sie auch Ausdruck der Pflegekrise ist, die stark in Deutschland herrscht. Manuela und ihr Mann mussten weitersuchen, bis sie endlich Glück hatten. Ja, in einem Bereich wie Pflege und Inklusion, in dem eine angemessene Unterstützung eigentlich selbstverständlich sein sollte, sind wir in Deutschland darauf angewiesen, Glück zu haben. Pech kommt aber leider auch oft vor. Es sind viele Verhandlungen und guter Wille nötig.
Das erzählte mir Manuela als unsere Töchter zusammenspielten. Eine hieß Anna, die andere Elsa in dem Spiel. Sie waren beide Mütter der Babypuppe. Als sie sich am Tag davor kennenlernten, sagte Laura zu meiner Tochter: „Wir haben beide eine Narbe am Rücken, oder? Wir sind im gleichen Team!“
Im gleichen Team, das sind Manuela und ich auch. Manuela erzählte mir viel. Dann ich ihr, auch viel. Dann sie wieder. Dann ich. Wir hatten vieles zu erzählen und hörten uns gegenseitig mit großer Neugier zu. Sie wusste wovon ich sprach, und ich verstand alles, was sie zu sagen hatte. Wir teilten die gleiche Wut, die gleichen Fragen, die gleiche Müdigkeit und teilten die Einstellung, dass das Leben als pflegende Mutter von behinderten Kindern viele politische Aspekte hat.
So ging es vielen Teilnehmer*innen des „Selbstständigkeitsseminars rund um Darm und Blase“ – ja, sowas gibt es! -, an dem ich mit meiner vierjährigen Tochter am Wochenende teilgenommen habe. Wir waren zehn Familien mit Kindern zwischen 4 und 11.. Dieses Treffen hat mich auf vielen Ebenen bewegt, auch in Bezug auf die Tatsache, dass dieses Thema direkt oder indirekt auch ein politisches ist.
Im ersten Moment kann es für Leser*innen zu Irritationen führen, wenn ich sage, dass Katheterisieren und Darmmanagement auch politische Themen sind. Aber wenn ein*e Patient*in aufgrund seines*ihres Alters besser bezahlt wird als andere im anderen Alter und deswegen nur die lukrativsten rausgepickt werden, dann haben wir ein ernstes gesellschaftliches und politisches Problem. Die Geschichte von Manuelas Familie ist kein Einzelfall. Viele Eltern von behinderten Kindern, die auf Unterstützung von einem Pflegedienst angewiesen sind, kennen diese Problematik gut, wie z.B. Eltern von Kindern mit Diabetes. Der Missstand hört aber leider beim Herauspicken der lukrativsten Patient*innen nicht auf, denn ein weiteres Problem ist, dass die Pflegelücke gefüllt werden muss, was in der Regel von den Eltern, insbesondere den Müttern übernommen wird. Können wir als Familie denn anders handeln? Oder ist es nicht selbstverständlich, dass wir unsere Kinder nicht erkranken lassen wollen, zum Kindergarten fahren und es selber von Montag bis Freitag katheterisieren, wenn das Gesundheitswesen keine andere Lösung bietet? Auch wenn das bedeutet, dass wir entweder nur in Teilzeit arbeiten oder sogar nicht mehr erwerbstätig sein können.
76% der männlichen, aber nur 35% der weiblichen Pflegenden (hier nicht nur Pflegende Eltern, sondern allgemein Pflegende von Familienangehörigen) im Alter von 30- bis 59 Jahre arbeiten in Vollzeit[1]. Weiteren Fragen ploppen auf: Welche*r Arbeitgeber*in würde einem*r Mitarbeiter*in die benötigte Flexibilität geben, die pflegende Familienangehörigen benötigen, solange wir in dieser Pflegekrise leben? Was bedeutet andersrum eine Verkürzung der Arbeitszeit in Bezug auf die Rente und auf Einkommenseinbußen, insbesondere bei Familien aus finanziell schwachen Verhältnissen? Wie emotional belastet sind viele von uns in diesem täglichen Handeln? Wie lange machen wir so weiter? Wer kann nicht mehr weitermachen? Was passiert danach? Wer tut es für uns und unsere Kinder, wenn nicht wir? Können wir über eine solidarische Gesellschaft sprechen oder ist das nur eine nette aber illusorische Idee?
In der Kaffeepause des Seminares sagte Jessy, Mutter eines 9-jährigen Sohnes: „Es sollte viel mehr Langzeitforschung zu den medizinischen und therapeutischen Eingriffen geben, die viele unserer Kinder durchmachen müssen. Wir schlagen bestimmte Wege ein, ohne genau zu wissen, wie sich das in zwanzig, dreißig Jahren für sie entwickeln wird“. Anna, eine andere Mutter antwortete: „Herr Dr. K. sagte mir, dass es politisch kein großes Interesse an der Forschung über Kinder und Erwachsene mit Spina bifida gibt, da es immer weniger von ihnen gibt – und wir wissen alle warum“. Es herrscht eine kurze Stille unter uns Eltern. Dann kam die Wut und wir reden alle gleichzeitig. Die Wut war nicht anderen Eltern gegenüber die sich gegen ein behindertes Kind entscheiden, sondern weil die strukturellen Bedingungen für die pflegende Elternschaft nicht besonders einladend sind.
Das Thema ist nicht nur politisch, sondern auch hochemotional. Eine Mutter, die mehrere Lücken vom System zu füllen hat, ist sehr wahrscheinlich in wenigen Jahren erschöpft und emotional an ihrer Grenze. Auch hier spielen die verfügbaren finanziellen und sozialen Ressourcen der Familie eine große Rolle.
Alle Elternteile, die bereits ihre (auch nicht behinderten) Kinder beim Trockenwerden begleitet haben, wissen, wie anstrengend diese Phase sein kann. Je nach Behinderung und je nach Kind kann sich das bis in die Pubertät oder sogar noch länger hinziehen, und das kann für die ganze Familie sehr herausfordernd sein. Aber auch wenn es nicht nur um die andere Familienmitglieder, sondern vor allem auch um das behinderte Kind in diesem Prozess des Selbstständig Werdens bei seiner Hygiene geht, dürfen trotz aller Erschöpfung Aspekte wie die Distanz zum Kind, der Respekt vor seinem Körper und seinem Tempo nicht vergessen werden. So hat mich z.B. die Erschöpfung und die respektvolle Haltung von Nicole, einer Seminarteilnehmerin, dem Tempo ihrer 10-jährigen Tochter gegenüber, tief berührt. Sowohl der Respekt ihrem Kind gegenüber als auch ihre Erschöpfung.
Ich bin schon müde zu schreiben und zu lesen, dass wir pflegende Eltern mehr Lobby brauchen, dass wir lauter werden sollen. Wie sollen wir aber selber Lobby für uns machen, wenn wir unsere Zeit mit Aufgaben füllen müssen, die gar nicht unsere sind, wie hier das Katheterisieren im Kindergarten und in der Schule, oder Inklusion wie in den letzten Beiträgen die wir hier auf Kaiserinnenreich hatten?
Im Kleinen weiß ich aber auch, dass wir mehr von solchen Kreisen brauchen, in denen wir Eltern uns verbinden können und in denen die gefühlte Einsamkeit ein Echo kriegt. Wir brauchen auch mehr von solchen Strukturen wie die dieses Seminars, in dem wir fachliches Wissen und praktische Tipps bekommen, aber auch gekühlten Weißwein und Kinderbetreuung – selbst wenn einiges bei diesem Kurs ein bisschen skurril war, wie z.B. über Ausscheidung und die unterschiedlichen Modelle von Darmspülungssystemen, die es aktuell auf dem Markt gibt, in einer Gruppe von über zwanzig Erwachsenen an einem sonnigen Samstag zu sprechen.
Pflege von behinderten, erwachsenen Kindern ist nochmal ein anderes Thema. Wir sind weit entfernt von Inklusion und Selbstverständlichkeiten. Komme gerade aus dem Krankenhaus mit meiner erwachsenen behinderten Tochter ( 41 Jahre ). Es ist so selbstverständlich, dass wir begleiten, pflegen, kümmern. Uns plagt die Übermüdung, dieses sinnlose Gespräch mit den Kostenträgern und die systemrelevante Überforderung des Pflegepersonals.
Ich wünsche Euch weiterhin die Kraft, für Eure Kinder zu kämpfen. Bald komme ich in das Alter, wo ich mich um meine Pflege kümmern muss. Und dann?