Der heutige Gastbeitrag wurde von Arezoo geschrieben. Sie kam vor vier Jahren mit ihrer Familie aus Iran nach Deutschland geflohen und teilt hier mit uns, wie sie mehrmals im Leben neu anfangen musste.
Arezoo erzählte mir (Bárbara), dass sie in der schönen Stadt Karaj in Iran geboren ist. Noch in Iran machte sie ihren Masterabschluss in klinischer Psychologie und arbeitete dort für viele Jahre als Kinder- und Jungendtherapeutin. Sie ist Mutter von zwei Kindern, eines davon ist Autist. Dieser Text von ihr ist in einer Schreibwerkstatt für geflüchteten Frauen entstanden, die von Barbara Peveling angeboten wurde. Barbara hat auch schon bei uns hier auf Kaiserinnenreich einen Text veröffentlicht: Ein Hindernislauf: Über das Leben mit einem lernbehinderten Kind. Aber jetzt, Arezoo mit ihrem Neuanfang:
“Es ist kalt und dunkel. Ich höre unbekannte Geräusche, da ist ein Zischen neben meinem Ohr, ich drehe mich auf dem Bett hin und her. Als ich meine Augen öffne, finde ich mich im Krankenhaus wieder. Ich fühle einen großen Schmerz, tief in meinem Herzen. Ja, ich habe vergessen, dass mein Sohn heute auf die Welt kommt. Ich bin jetzt die glücklichste Frau auf der ganzen Welt. Ich habe schon so lange auf diesen Tag gewartet. Ich verstehe aber etwas nicht, warum habe ich einen so unbekannten Schmerz in meinem Herzen, eigentlich im ganzen Körper? Wie vergesslich ich doch bin! Mein Sohn ist schon längst auf die Welt gekommen, seit mehr als zwei Jahren schon. Er ist das schönste Kind, das ich je gesehen habe, ein wenig anders als die anderen Kinder schon, aber sehr süß. Ich habe ihn auch zum Arzt gebracht. Richtig, ich war beim Arzt, ich bin immer noch da, nein, nein, das kann nicht wahr sein. Was hat der Arzt gesagt? Autismus? Was ist das eigentlich? Nein, das kann ich überhaupt nicht glauben. Das ist nur ein Albtraum, ein Scherz, und zwar ein sehr schlechter. Ich muss das sofort vergessen, oder, nein, doch, ich werde das Problem regeln, wenn es diese Behinderung, von der der Arzt spricht, überhaupt gibt. Ich informiere mich darüber, ich frage überall nach, lese alle Bücher, die ich finde. Ich werde es schaffen.
Ich öffne meine Augen vorsichtig. Wo bin ich, ach ja, wieder im Krankenhaus. Ich werde es nicht überleben. Das ist mehr, als ich ertragen kann. Ich habe ein hübsches Kind, das auch sehr lieb, zwar seltsam, aber unglaublich schlau ist. Nur kann ich nicht mit ihm reden, er hört mich einfach nicht. Ich habe viele unterschiedliche Wege ausprobiert, mit der Hilfe von vielen verschiedenen Ärzten, Logopäden, Therapeuten, Spieltherapeuten, usw.
Sie haben gar nichts erreicht. Ich bin nur selber krank geworden. Ja, seit Monaten nehme ich Beruhigungstabletten. Ich kann nicht mehr. Warum sterbe ich nicht einfach?
Dann kommt dieser Tag, an dem ich bei einem berühmten und sehr netten Logopäden bin und von ihm höre, dass ein Therapiezentrum für Autismus in unserer Stadt eröffnet werden würde, doch das da war noch gar nicht offiziell, denn es war das erste im Land. Ich habe das Zentrum sofort gefunden und bin mit meinem Sohn dahingefahren. Endlich gab es Hoffnung. Am nächsten Tag war mein siebenjähriger Sohn dort als ein Schüler eingeschrieben und ich als Erzieherin im Zentrum beschäftigt.
Und so änderte sich mein Lebensweg.
Ich habe meine Arbeit mit viel Motivation und Leidenschaft fortgesetzt, so sehr, dass ich eine der besten Mitarbeiterinnen im Zentrum wurde. Denn ich wollte alles Lernen, um meinen Sohn zu helfen. Ich arbeitete von morgens bis abends im Zentrum und als wir wieder zu Hause waren, wiederholte ich alles mit meinem Sohn. Er hat sich zuerst sehr gut entwickelt und seine Fortschritte waren zufriedenstellend. Doch beim Lesen und Schreiben kamen wir nicht weiter. Er war schon zehn Jahre alt und nach Ansicht unserer Therapeuten war seine „goldene Zeit“ zum Lernen vorbei. Ich habe viel versucht, um ihm noch mehr beizubringen, aber es war zu spät. Trotzdem war er handwerklich sehr talentiert und konnte mit seinen Händen gut arbeiten.
Inzwischen hatte ich mich auch gut entwickelt, aber ich hatte nur ein Abitur und kein Studium, deshalb durfte ich nicht da als Therapeutin arbeiten. Als mein Sohn elf Jahre alt war, kam meine Tochter auf die Welt. Ich fühlte mich glücklicher und selbstbewusster, da ich ein normales Kind bekommen hatte und mich wie eine normale Mutter verhalten durfte. Das war trotz vieler Schwierigkeiten unglaublich toll und fantastisch und ich fand mein Selbstbewusstsein wieder. Nach 15 Monaten setzte ich meine Arbeit als Erzieherin fort und ein paar Jahre später entschied ich mich, Psychologie zu studieren. Ein Fernstudium war eine gute Idee. Es war ziemlich schwer, sich gleichzeitig um zwei Kindern zu kümmern, Teilzeit im Autismus-Zentrum zu arbeiten, zu Hause alles zu erledigen und nebenher noch zu studieren. Aber ich hatte ein großes Ziel, für das ich kämpfen musste. Außerdem war die Ermutigung meiner Vorgesetzen und meiner Eltern sehr hilfreich, um meinen Träumen zu folgen. Ich habe mein Studium mit dem Master in klinischer Psychologie abgeschlossen. Nun war ich nicht nur im Autismus-Zentrum eine Erzieherin, sondern auch als eine Psychologin im Bereich für Kinder und Jugendliche, Lern- und Entwicklungsstörungen usw. in mehreren Kliniken beschäftigt. Meine Empathie für behinderte Kinder war immer ein ausgezeichneter Vorteil, der mir bei der Arbeit mit den Kindern geholfen hat und ich war mit allem, was ich tat sehr zufrieden.
Es ist kalt und ruhig. Ich öffne meine Augen und finde mich in einem unbekannten Zimmer wieder. Wo bin ich? Sollte ich nicht um diese Zeit bei meiner Arbeit sein? Wo sind meine Kinder? Ich drehe meinen Kopf so schnell wie möglich hin und her und entdecke meine Kinder. Die sind hier bei mir, in diesem fremden Zimmer und alles andere ist unwichtig. Im nächsten Moment erinnere ich mich an alles, was passiert ist. Wir sind in Deutschland, wieso habe ich das nur vergessen?
Es sieht so aus, als würde ich nie in Ruhe leben dürfen. Wegen der schwierigen Situation und der Probleme in meinem Heimatland Iran, mussten wir unseres Land verlassen und nach Deutschland fliehen. So verlor ich alles, was ich dort erreicht hatte. Aber ich bin doch so froh, dass wir unsere Leben retten konnten. Ich werde wieder von vorne anfangen, und alles neu aufbauen.
Es ist kalt und nass. Ich schaue aus dem Fenster, draußen sehe ich Menschen, die glücklich und lächelnd zum Weinachtmarkt laufen. Ich unterschreibe meinen Arbeitsvertrag heute und beginne bald meine Arbeit als Psychologin in einem Autismus-Therapiezentrum. Es sind fast vier Jahre in Deutschland vergangen. Mein Sohn arbeitet seit zwei Jahren in einer Werkstatt. Meine Tochter besucht im Gymnasium die Oberstufe und alles in meinem Leben steht auf Neuanfang.”
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Afarin, Arezoo! Alles Gute euch!