Als ich zusammen mit meiner Gynäkologin geweint habe

by Bárbara Zimmermann

Letzten Herbst habe ich Mut gefasst, als ich zu meiner Gynäkologin ging. Mut, weil es manchmal Kraft kostet, neue Räume für intime Gespräche zu schaffen, die nicht im Skript stehen. Mut, weil es nicht immer leicht ist, schmerzhafte Erinnerungen aus der Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen. Das bedeutet, sich erneut dem Schmerz stellen zu müssen und dabei seine Vulnerabilität unserem Gegenüber zu zeigen.

Ich wollte Frau Dr. T. einige Exemplare des Heftes “Hauptsache gesund? Nein, Hauptsache geliebt” überreichen, ein Projekt, das ich zusammen mit anderen Eltern von Kindern mit Spina bifida und Hydrozephalus und dem ASBH entwickelt habe. Meine Gynäkologin war die Person, die vor fünf Jahren während der Schwangerschaft die erste Diagnose bei unserem Baby gestellt hat, und im Nachhinein wünschte ich mir eine andere Form der Begleitung während des Termins. Ich war seitdem mehrmals bei ihr, aber wir haben nie wieder über den Tag der Diagnose gesprochen. Die Erinnerung an diesen Tag war für mich jedoch jedes Mal sehr präsent, und liebevoll fragte sie immer wieder, wie es meinem Kind geht, wie es sich entwickelt. Ich lächelte immer zurück: “Es geht ihr gut, danke.” Dieses Mal war mir jedoch irgendwie klar, dass, wenn ich ihr die Aufklärungshefte geben würde, wir höchstwahrscheinlich über den Tag damals in Januar 2018 sprechen würden – was tatsächlich geschah. Ich hatte aber Angst, dass ich vor ihr sitzen würde und die Tränen nicht zurückhalten könnte. Vor allem hatte ich Angst, dass sie mich aus irgendeinem Grund nicht verstehen würde. Ich fürchtete, nicht die richtigen Worte zu finden, dass sie sich angegriffen fühlen könnte und dass das Gespräch alles andere als zielführend sein würde. Aber es kam ganz anders. An einem grauen Vormittag im Oktober hatte ich ein sehr berührendes, intimes und
überraschendes Gespräch mit Frau Dr. T. Und nicht nur ich, sondern wir beiden konnten unsere Tränen nicht zurückhalten.

Nachdem sie mich untersucht hatte und wir wieder an ihrem Tisch saßen, zog ich das Heft aus meiner Tasche – oh, war ich aufgeregt! – und erzählte ihr von dem Projekt. Ich dachte, zuerst über das Projekt zu sprechen und später über meine persönliche Erfahrung. Die Idee besteht darin, dieses Heft im besten Fall am Tag der Diagnose den werdenden Eltern in die Hand zu geben, damit sie konkrete Porträts von Familien mit Kindern mit Spina bifida bekommen. Viele von uns haben keinen direkten Kontakt zu Menschen mit Behinderungen und haben daher viele unbegründete Vorurteile über ihre Lebensrealitäten, was oft zu Sorgen und Ängsten führen kann, nicht selten sogar zu einem Schwangerschaftsabbruch. “Ich weiß, dass Sie nicht jeden Tag mit der Diagnose Spina bifida konfrontiert werden, aber man weiß ja nie. Ich war damals bei Ihnen in dieser Situation und weiß noch genau, wie sehr mir so etwas geholfen hätte”, sagte ich.

“Ja, das glaube ich”, antwortete meine Ärztin. Und dann, nachdem sie in dem Heft geblättert und das Projekt gelobt hatte, öffnete sie sich mir: “Ich war damals sehr emotional und sehr überfordert bei dem Termin mit Ihnen.” Oh, war ich überrascht von ihrer Ehrlichkeit – und ich mag solche Überraschungen. Ja, es stimmt, ich konnte ihre Emotionen und ihre Überforderung sehr gut spüren, als sie mich und meinen Mann damals plötzlich allein im Raum zurückließ. Sie verließ den Raum mitten in der Untersuchung, nachdem wir wussten, dass ein Leben mit Hydrozephalus von nun an ein Teil von uns sein würde. (Die Diagnose von Spina bifida kam ein paar Tagen später bei der folgenden Untersuchung.) Wir fühlten uns in diesem Moment ziemlich überfordert und allein gelassen. Als sie irgendwann zurückkam, war sie sehr aufgeregt – gefühlt mehr als wir – und machte uns klar, wie wichtig es sei, sofort ins Krankenhaus zu fahren. Ich hinterfragte ihre Dringlichkeit und wollte genau wissen, warum es sofort sein müsse. War mein Baby in Gefahr? Oder ich? Ziemlich schnell gab sie zu, dass wir tatsächlich nicht rennen müssten. “Aber bis
Ende der Woche unbedingt!”, betonte sie.

Mit dem Heft vor sich fuhr Frau Dr. T. fort: “Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, aber als meine Tochter 12 Jahre alt war, ist sie an Krebs gestorben. Das war eine sehr schwere Zeit für uns als Familie.” Sie erzählte von ihrem Privatleben als pflegende Mutter, von den plötzlichen Einschränkungen, die zu einer Gehbehinderung ihrer Tochter führten, von der Einsamkeit im Dorf mit ihrem krebskranken Kind und letztendlich von ihrem Tod. Unnötig zu sagen, dass wir beide schnell Tränen in den Augen hatten. “Und als ich gesehen habe, dass Ihr Kind auch etwas hat, sind viele Emotionen in mir wieder hochgekommen. Es tut mir leid, das war nicht professionell von meiner Seite.”

Für diesen Text habe ich keinen abschließenden klugen Satz. Ich beende ihn mit dem Gefühl der Einsamkeit, von dem nicht nur ich sondern auch Frau Dr. T. in ihrer Rolle als pflegende Mutter sprach. Es war ein sehr berührendes Gespräch und ich bin ihr sehr dankbar, dass sie sich mir so offen gezeigt hat. Aber schon traurig, dass wir uns durch unsere eigene erlebte Einsamkeit verbunden fühlten. Das verdient kein Elternteil in so einer herausfordernden Situation, wenn das Leben sich so zerbrechlich zeigt.

3 Kommentare zu “Als ich zusammen mit meiner Gynäkologin geweint habe

  1. Liebe Bárbara, danke, dass du diese Situation mit uns teilst. Ich glaube sowieso mittlerweile, dass viele Reaktionen auf die Themen. Behinderung, Krankheit, Tod – wahrscheinlich auf existenzielle Krisen generell – von Überforderung geprägt sind. So fallen die Reaktionen dann zu brüsk aus, unbeholfen, zu hart oder zu ausweichend. Das anzunehmen und mein Gegenüber für eine komische Reaktion nicht gleich abzuurteilen, hilft mir. Manchmal kann ich diese Überforderung sogar thematisieren und komme so trotz komischer Reaktion noch in ein gutes Gespräch (vielleicht mit Tränen).

  2. Wir haben die Diagnose zu dem Gendefekt unseres Sohnes erst bekommen, als er drei Jahre alt war. Als ich etwas später meiner Gynäkologin davon erzählte wegen der Frage ob wir uns trauen ein drittes Kind zu bekommen, antwortete auch sie, dass sie selbst ein Kind mit Gendefekt hat. Sie war die erste andere Familie wie unsere von der ich erfuhr, es hat mir sehr geholfen und mich etwas aus der Einsamkeit rausgezogen…

  3. Als pflegende Mutter kann ich diese Emotionalität bzgl. einer Diagnose gut nachvollziehen. Der Tag an dem die Zukunft anders verläuft als man das seinem Kind gewünscht hätte, der brennt sich einfach ein.
    Aber was mich wirklich traurig macht, ist dass auch sie von Einsamkeit spricht. Denn ja, daran könnten wir alle etwas ändern, indem wir Menschen in schwierigen Phasen einfach beistehen!

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