Heute möchten wir wieder einer Stimme aus unserer Community Raum geben: L. erzählt uns davon, wie sie mit der Komorbidität (Begleiterscheinung) Essstörung umgeht. AUs Erfahrung wissen wir, wie viel Raum dieses Thema einnehmen kann, wie viele Nerven, Recherche, Zeit und Geld es kostet. Danke, liebe L., dass du deine Erfahrungen mit uns teilst.
Seit 2,5 Jahren koche ich wöchentlich Brei für unser Räuberkind, weil unser Räuberkind nichts Festes schlucken kann. Am Anfang des Beikost Starts mit einem Glas Wein in der Hand und voller Freude am Herd. Pastinaken und Karottenbrei. Der Klassiker. Von Schluckproblemen, fehlendem Mundschluss, PEG, zu niedrigem Muskeltonus und Castillo Morales hatte ich noch nie etwas gehört. Erst nach und nach fing ich an zu verstehen und zu realisieren, dass es nicht rund läuft und die Essensstörung eine nette Begleiterscheinung der Grundkrankheiten unseres Räuberkindes bleibt. Also koche ich Brei, manchmal geduldig und liebevoll, manchmal genervt und erschöpft. Ich kann die Rezepte auswendig. Ich kann das Gewicht der Zutaten auf ein paar Gramm genau abschätzen ohne zu wiegen. Ich kann den Brei auf ein paar Gramm genau in 10 Portionen abfüllen. Seitdem unser Räuberkind wegen seiner schweren Epilepsie auf die ketogene Diät umgestellt wurde (sehr erfolgreich!!!), wiege und koche ich sogar auf die Nachkommastelle genau, damit das ketogene Verhältnis immer gleich ist. Manchmal koche ich mit Musik und guter Laune und freue mich darüber, dass unser Räuberkind essen kann. Ja, die PEG kommt bald trotzdem, aber jede einzelne Mahlzeit fühlt sich dann erst recht wie ein kleiner Sieg an. Manchmal koche ich, weil es halt sein muss. Abendprogramm Breiparty. Ich glaube ich sollte wieder öfters ein Glas Wein dazu trinken!
Seit 2,5 Jahren füttere ich unser Räuberkind, weil unser Räuberkind nicht selbständig essen kann. Es ist kein entspanntes Füttern mit der einen Hand neben bei, während man sich selbst mit der anderen Hand auch eine Gabel in den Mund schiebt und zusammen mit dem Kind essen kann. Es ist ein bisschen Arbeit. Logopädie Übungen als Vorbereitung. Eine Hand hält entweder die Hände fest, während die andere Hand füttern kann. Oder eine Hand stützt Kiefer und Mund, während die andere Hand füttern kann. Die richtige Löffelführung, Stuhlneigung und Kopfhaltung sind extrem wichtig. Tücher zum Abwischen jederzeit griffbereit. Kleckern und Verschlucken an der Tagesordnung. Gibt es eigentlich ein Abo für Küchenrollen, frage ich mich schmunzelnd. Manchmal funktioniert es wunderbar und unser Räuberkind kann den Brei schnell, aktiv und fröhlich verputzen. Manchmal dauert es 30-40 Minuten, weil unser Räuberkind sehr passiv und langsam isst oder alles verweigert. Man weiß es vorher nie. Eine echte Raubtierfütterung eben!
Seit 3 Jahren spüle ich jeden Abend Flaschen, Sauger, Schnuller, Spritzen und Schnapsgläser aus, weil unser Räuberkind nur aus Babyflaschen trinken kann, Schnullis heiß und innig liebt und täglich mehrfach verschiedene Medikamente braucht. Die Medikamente werden, wenn sie flüssig sind, direkt in Spritzen aufgezogen, oder zuerst als Tabletten gemörsert, mit Süßstoff und Wasser verfeinert und dann in Spritzen aufgezogen. Wir haben Tabletten in allen Farben und Größen. Manche kann man leicht mit der Hand teilen, manche müssen mit einem Tablettenteiler geteilt werden. Die kleinen runden Weißen ohne Kerbe mag unser Räuberkind am liebsten, die schmecken nämlich nach Traubenzucker. Die großen ovalen Blauen dagegen sind echt bitter. Die ganz kleinen runden Roten kann das Räuberkind einfach so mit einem Schluck Wasser aus der Flasche zusammen trinken. Flaschen haben wir auch in verschiedenen Größen und Farben. Die aus Glas sind besser für heiße Getränke und lassen sich auch schneller abspülen. Die aus Plastik gehen dafür weniger schnell kaputt und sind besser für die Kita und für unterwegs. Und deshalb stapelt sich abends da eben so einiges an Räuberkind Utensilien neben dem Spülbecken an. Jedenfalls können sich unser kleines, aber feines Küchenlabor und unser Medikamentenschrank sehen lassen!
Seit 2,5 Jahren begleite ich unser Räuberkind in den Schlaf und nachts, weil unser Räuberkind aufgrund seiner schweren Schlafstörung schlecht einschlafen und nicht durchschlafen kann. Ich halte Händchen, ich lagere um, ich gebe den Schnulli, ich biete Trinken an, ich nehme unser Räuberkind in den Arm, ich trockne Tränen und tröste und schimpfe gemeinsam über das Schlafmonster. Manchmal schläft unser Räuberkind in kürzester Zeit friedlich ein, manchmal dauert es bis zu 4 h, weil das Schlafmonster im Kopf zuschlägt. Manchmal schläft unser Räuberkind überhaupt nicht ein, ich gebe ein starkes Schlafmittel oder bin die ganze Nacht wach. Manchmal schläft unser Räuberkind ein paar Stunden am Stück. Manchmal ist unser Räuberkind nachts stundenlang wach. Manchmal kommt die Epilepsie dazu, heimtückisch wie sie ist. Und wir wissen es vorher nie. Die Schlafstörung ist massiv und unberechenbar. Ich bin geduldig und ungeduldig gleichzeitig, erschöpft und müde, traurig und sauer, gelassen und optimistisch. Es wird besser. Es war schon viel schlechter. Wir haben Pflegedienst Nachtschichten. Irgendwann werde ich die Nachtlager mit unserem Räuberkind sicher vermissen! Wer kann schon mit einem dreijährigen Kind gemeinsam die Nächte durchmachen?!
Seit 3 Jahren renne ich alle 2 Wochen zum Kinderarzt, weil unser Räuberkind ein Rezept, eine Verordnung, eine Überweisung oder Einweisung braucht. Ich werde immer erkannt und freundlich begrüßt, meine Zettel mit den handschriftlichen ordentlich durchnummerierten Listen freudig entgegengenommen. Rezepte für Medikamente, für spezielle Keto Produkte und für die Therapien und natürlich für diverse Hilfsmittel. Verordnungen für häusliche Intensivpflege. Überweisungen zum Augenarzt, Radiologen und Gastroenterologen. Stationäre Einweisung in die Kinderklinik oder die spezielle Epilepsieklinik. Jedes Mal verlasse ich die Praxis mit einem dicken Stapel an blauen und roten und gelben und grünen Zetteln. Verteile sie fleißig an Apotheker, Rehatechniker und Ärzte. Und stelle dann Zuhause fest, was ich doch wieder vergessen habe. Macht ja nichts, bald muss ich ja sowieso wieder in die Praxis. Zettelwirtschaftliebe.
Ich könnte noch ein bisschen weitermachen und eigentlich übrigens in der Wir-Form schreiben, denn der Räuberkindpapa kocht, füttert, spült, begleitet und rennt natürlich genauso!
Aber hauptsächlich: seit 3 Jahren ganz ganz ganz große Räuberkind Liebe!